16.11.2008

Verlust des Argumentierens

Ich lese, immer noch, Argument und Argumentation von Klaus Bayer, ein ganz hervorragendes Buch. Argumentationslehren werden häufig rein formal gelehrt. Dadurch erstarren Argumentationsformen zu Formeln ohne sozialen Halt, zur reinen Mechanik.
Bayer dagegen knüpft Beziehungen in die Gesellschaft hinein: er wagt die soziale Funktion von Argumenten zu explizieren und stößt damit tiefer in den Bereich sozialer Erkenntnis und moralischer Funktionalität vor, als ich es bisher kannte.

Verlust des Argumentierens

Bayer beklagt den Verlust des Argumentierens in der modernen Gesellschaft. Zwar anerkennt er, dass das strenge Abwägen und Aufbauen von Argumenten immer ein Refugium der gebildeten Schicht war, aber mit der Demokratisierung gerade nicht ein Gewinn an strenger Argumentation erfolgt ist, sondern ein fortschreitender Niedergang.
Dabei ist es nicht die Demokratie selbst, die dafür verantwortlich ist, sondern spezifische Phänomene, die sich im Gefolge der Massenmedien und der Lebensumstände entwickelt haben.

Bildhaftigkeit

Zum einen ist dies die Bildhaftigkeit moderner Lebensbezüge. Diese kann durch oktroyierte oder gewählte Brüche zwischen Bildern zu so massiven Unschärfen führen, dass Argumentationen blockiert werden. Der Schnitt zwischen Bildern, zum Beispiel beim Einschieben von Werbeblöcken, ist willkürlich, und die Grammatik der Bilder ist dermaßen "weich", dass es keine Vorbilder für scharfe Argumente und zusammenhängende Argumentationen mehr gibt.
Zwar gibt es auch im Bereich des Bildes Grammatiken, aber diese sind unscharf, stützen sich bereits auf gute Fähigkeiten zu argumentieren, und zudem ein hochkomplexes Wissen. Zudem sind formalisiertere Bilder, wie man sie im Mittelalter und der Renaissance findet, längst passé. Das moderne Bild gehorcht nicht mehr einem Kanon an Wertvorstellungen, sondern wirkt oft auf der emotionalen Ebene, ohne eine reflektierende Einordnung zu wollen.

Emanzipation

Zum zweiten ist die Emanzipation immer auch ein Einüben in die Argumentation gewesen. Mit dem Verlust von Wertgemeinschaften ist auch das Spielfeld für Argumente dünn geworden. Rasche Wunscherfüllung und die Übersättigung der Kinder mit Konsumartikeln verlangt eben nicht, dass die Kinder sich durch Argumente mit ihren Eltern verständigen, sondern nur noch, dass sie den appellativen und manipulativen Charakter der Sprache benutzen.
Vielleicht muss man heute weniger von einem Verlust der Werte sprechen (das auch), als von einem Verlust der Argumentationstiefe. Das sprachliche Aushandeln kommt rasch an seine Grenzen, Grenzen, jenseits deren die Handlungen liegen; Handlungen, die dann auch aggressiv und rücksichtslos ausfallen können.
Bayer zitiert den Pädagogen Giesecke:
Wenn die Emanzipation (...) kaum noch Anstrengung kostet, sondern in den Schoß fällt, ist sie historisch und biographisch erledigt.
Der Verlust an Werten und Regeln ist der Verlust an Anstrengung, diese argumentativ auszuhandeln, ist der Verlust an Fähigkeit zur Emanzipation. Und so ist die Emanzipation, die Werte und Regeln (oft ja zurecht) überwunden hat, an den Punkt gekommen, dass sie sich selbst vernichtet. Die Kinder der Emanzipation sind unemanzipierte Kinder.
Man muss soziale Grenzen und Werte nicht nur normativ verstehen, sondern auch performativ: sie dienen nicht nur der sozialen Ordnung, sondern fördern und fordern das soziale (Selbst-)Bewusstsein.

Isolation, Trivialisierung, Verschlagwortung

Im politischen Bereich hat die fehlende Fähigkeit zur Argumentation zur Folge, dass komplexe Zusammenhänge nicht mehr nachvollzogen werden können und die Politik freiwillig oder gezwungen verschlagwortet wird. Die Sachverhalte werden mehr und mehr trivialisiert. Wie in der konsumorientierten Erziehung die Sprache stark appellativ gebraucht wird, so wird die politische Haltung konsumierend. Man argumentiert nicht; man fordert. Einem demokratischen Bewusstsein ist eine solche Haltung nicht dienlich.
Zudem werden Diskussionen stark durch Unberührbarkeiten gebremst. Das zeigen die doch regelmäßig aufbrandenden Streite über Auschwitz. Konnte Derrida diesen Kontext als Theater der Entschuldigungen bezeichnen, so ist in Deutschland eine kritische Auseinandersetzung dazu kaum möglich. Wenn man wie Martin Walser über Auschwitz "meta-"kommuniziert, darf dies nicht als Objektsprache gehandelt werden. Denn schließlich ist das Auschwitz, über das heute oft geredet wird, tatsächlich ein Konstrukt, das der Realität "Auschwitz" nicht gerecht wird und nicht gerecht werden kann. In dem Satz, das Auschwitz nicht existiere, ist zumindest auf der Ebene der Metakommunikation ein Teil Wahrheit, insofern das besprochene Auschwitz nicht das historische ist, und insofern das bedachte Leiden der Juden sich so fiktiv gegenüber den realen Grausamkeiten und Schmerzen verhält, dass hier eine scharfe Trennung notwendig ist. Wer bei einer Diskussion wie der über Auschwitz nicht zwischen Objekt- und Metasprache unterscheidet, verzichtet auf ein starkes Instrument gesellschaftlicher Kritik.
Noch mehr warnen sollten solche politischen Kritiken wie: man müsse "Beifall von der falschen Seite" vermeiden, oder dürfe nicht "das eigene Lager schwächen". Denn dahinter steckt doch nur Machterhalt und das Trimmen auf Gleichschritt.
Ich hatte mich ja zu Eva Hermann explizit geäußert. Man könnte meine harsche Kritik nun als Schlag in die nämliche Kerbe halten, die ich eben kritisiert habe. Wenn Hermann den Autobahnbau und das Mutterbild im 3. Reich als gut betrachtet, dann sind dies natürlich zunächst erlaubte Schlüsse. Aber Schlüsse stehen ja nicht für sich alleine da, sondern müssen in einen weiteren Zusammenhang gestellt werden. Schlüsse, Argumente, Beweisführungen sind Werkzeuge, nicht Endgültigkeiten. Hermann, so meine Kritik, hat hier Argumentationen zu zerreißen versucht, die einem gebildeten Menschen eingängig sein sollten. Damit möchte ich nicht die teilweise recht dämliche Kritik von der Gegenseite verteidigen. Die unbedachte Isolation von Phänomenen kann nicht durch moraltriefende Schlagwörter wettgemacht werden.
Bayer schreibt dazu:
Verschiedenste 'politisch korrekte' Sprachregelungen schreiben politische Perspektiven vielfach von vorneherein fest und stempeln Abweichler zu Außenseitern. Das führt dazu, dass die politische Diskussion selbst in privaten Gesprächen durch Einseitigkeit, Leisetreterei und ängstlichen Konformismus bestimmt wird. Es ist zwar bedauerlich und gefährlich, aber durchaus verständlich, dass in einer solchen Atmosphäre rechte und linke Radikale Erfolge verbuchen, weil sie - wenn auch mit verschärfter Einseitigkeit - Argumente formulieren, die anderswo gar nicht erst ausgesprochen werden dürfen. (AA 58)

Wissenschaftliche Grabenkämpfe

Auch für die Wissenschaft, vor allem für die Sozialwissenschaften, konstatiert Bayer ein Absterben der Argumentation. Es zähle häufig nur noch "blanke Macht". Damit einher geht, dass nur noch selten zwischen deskriptiven und normativen Aussagen unterschieden wird und normativ-politische Prämissen verschleiert werden.
Ich erinnere mich nur allzugerne daran, dass meine Professorin für Verhaltensgestörtenpädagogik Niklas Luhmann als "total frauenfeindlich" bezeichnete, und dies damit begründete, dass diese Frauenfeindlichkeit "sehr subtil" sei.
Und ein Lehrer in einer Schule begründete seine Wertung, der Schüler sei sehr verhaltensgestört, damit, dass ich dies doch sehen müsse.
Man hat mir zum Beispiel auch vorgeworfen, ich sei Psychoanalytiker, weil ich Freud lesen würde. Als ob Freud durch Lesen direkt ins Gehirn schlagen würde. Tatsächlich bewundere ich immer noch die vorsichtige und abschätzende Art, mit der Freud schreibt, seine hervorragende Fähigkeit zu argumentieren (auch wenn gerade hier dann wieder die Gefahr ist, dass Freuds sprachlich-stilistische Qualitäten über die Probleme seiner Theorie hinwegtäuschen).
Die Wissenschaft gerät mehr und mehr zu einem Grabenkampf, der die Weltbilder anderer Menschen nicht geduldig aufdröselt, sondern sich hinter ideologischen Identitäten verschanzt:
... die politischen, methodologischen und inhaltlichen Gegensätze werden häufig nicht diskutiert, sondern in einem mehr oder weniger feindseligen Nebeneinander verdeckt und verschleppt. Wer in einem solchen Institut studiert, wird schwerlich Vertrauen in die klärende Kraft der Argumentation und in den Nutzen von Argumentationsanalysen entwickeln. (AA 59)

Information und Selektion

Wundervoll finde ich auch die Kritik an dem Begriff der "Informationsgesellschaft":
Wer vollmundig über eine heraufziehende 'Informationsgesellschaft' redet, sollte berücksichtigen, dass das eigentliche Problem meist nicht die Beschaffung, sondern die Verarbeitung und Selektion der Information ist. Brauchbare Weltbilder sind eben nicht unordentliche, überfüllte Informationsspeicher, sondern hochstrukturierte, ökonomisch arbeitende Systeme, die wir uns erarbeiten müssen, indem wir durch Abstrahieren, Schließen und Argumentieren die jeweils uninteressanten Informationen aussondern. (AA 61)

Schluss

Vielleicht macht all dies verständlich, warum ich mich in Bayers Buch sofort verguckt habe. Neben einer recht strengen Argumentation wird eine kritische, breite, offene Praxis vertreten. Ich empfehle also dieses Buch all jenen, die eine deutlichere Grenze zwischen dem Wischiwaschi massenmedialer Anbiederung und der Arbeit an einem ausdifferenzierten und hinreichend begründeten Weltbild ziehen wollen.
AA = Bayer, Klaus: Argument und Argumentation, Göttingen 2007.

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