04.03.2009

Mehr Aufmerksamkeit für Frauen

Manchmal schießt man sich durch Knie, Becken, Niere, Lunge und Adamsapfel hindurch ein Auge aus. Das ist mit einigen unangenehmen Verrenkungen verbunden, kann aber klappen.

Meine Nachbarinnen Rena und Sabrina schreiben über Gender-Marketing. Ich erwähnte es bereits. Im Moment diskutieren wir den Teil durch, in dem auf die Unterschiede der Geschlechter eingegangen wird. Heute sind wir beim Hirn. Denken Frauen anders als Männer - so lautet die Problemstellung -, weil sie andere Gehirne haben?
Nun, bevor ich dazu auch etwas sage: jedenfalls habe ich deshalb gerade alle meine neurophysiologischen Bücher um mich herum aufgeschlagen liegen. Eigentlich wollte Cedric heute kommen, aber aus Gründen, die ich weiter unten kurz anreißen werde, kommt er doch nicht. Also habe ich Zeit. Und zwar Zeit dafür, was ich eigentlich schon vor Wochen machen wollte, nämlich in der Neurophysiologie herumstöbern. Damals zum Thema Aufmerksamkeit (ich kündigte dazu einen Artikel an), jetzt zum Thema weibliches/männliches Denken. Das Thema Aufmerksamkeit pflegt sich dabei sozusagen nebenher mit ein.

Die gute Nachricht zuerst: die Neurophysiologen wissen nicht allzuviel über ein geschlechtsspezifisches Gehirn.
Anders ausgedrückt: wer - wie das Ehepaar Pease - den Neurophysiologen nicht zuhört, parkt wissenschaftlich schlecht ein.
Das Hirn ist zu Beginn "weiblich". Zumindest in einem gewissen Embryonalstadium. Erst später greifen hier bei männlichen Embryonen geschlechtsspezifische Mechanismen ein, die vielleicht zu einer bestimmten Ausprägung des Gehirns führen.
Deutlichsten Zeichen aber scheint zu sein, dass die Hirnhälftendominanz bei Jungen ungefähr um das sechste, bei Mädchen erst um das dreizehnte Lebensjahr entschieden wird. Wohlbemerkt: Dominanz ist hier unspezifisch gesetzt, denn es gibt bei beiden Geschlechtern Ausprägungen sowohl für die linke oder für die rechte Hirnhälfte und mithin bei beiden Geschlechtern die salopp gesetzte Dominanz von entweder mathematisch-logischem oder emotional-sprachlichem Denken.
In der statistischen Verteilung dieser Dominanz kann man zwar feststellen, dass Mädchen deutlich zu sprachlich-emotionalem Denken und Jungen zum mathematisch-logischen Denken neigen, aber das ist nur statistisch so und da nur ein deutlicher Unterschied, aber keine Regel.

Es gibt also zunächst keine geschlechtstypische Dominanz. Und warum sich diese Dominanz doch in gewissem Sinne geschlechtstypisch ausprägt, ist unklar.
Klar jedoch ist, dass das Gehirn extrem plastisch ist und stark auf kulturelle Einflüsse reagiert. Also könnte die Kultur für diese statistische Verteilung zuständig sein und nicht die Biologie.

Ein anderer interessanter Aspekt sind Hormonspiegel. Dabei muss man noch nicht mal auf Testosteron oder Östrogene eingehen, die ja immer als geschlechtsspezifische Hormone zitiert werden.
Gewalttätige Menschen sind überwiegend Männer, aber bei diesen hat man nicht nur oft (aber nicht regelhaft) einen massiv erhöhten Testosteronspiegel festgestellt, sondern auch einen oft niedrigen Serotoninspiegel. Serotonin wird auch salopp als Wohlfühlhormon bezeichnet. Es sorgt für eine eher unspezifische Aufmerksamkeit und Entspannung. Für spezifische Aufmerksamkeit und "guten Stress" ist übrigens das Glückshormon Dopamin zuständig.
Niedrige Serotoninspiegel wurden auch bei Depressiven und Menschen mit Panikattacken festgestellt.
Tätigkeiten, in denen Humor, Freundlichkeit, geselliges Zusammensein eine Rolle spielen, erhöhen den Serotoninspiegel. Soziale und/oder physische Isolation senkt ihn. (Man bedenke, was das zum Beispiel mit Einzelhaft zu tun hat, oder auch nur - wie das immer noch Praxis ist -, wenn man Schüler zur Strafe vor die Tür setzt.)
Serotonin ist kein Hormon, dass geschlechtstypisch ausgeprägt sein dürfte. Trotzdem haben Frauen durchschnittlich einen höheren Serotoninspiegel.

Hormonspiegel für sich sind aber noch kein eindeutiges Zeichen. Wichtig ist auch, wie das Gehirn gelernt hat, diese Hormone zu verarbeiten. Gehirnspezifische Hormone werden auch Neuromodulatoren genannt. Diese Neuromodulatoren fördern oder hemmen die Reizweiterleitung bestimmter Hirnareale.
Wenn ein Hirnareal "seine" Hormone rasch und massenweise verarbeiten kann, dann treten andere hormonelle Effekte auf, als wenn es diese langsam und stückchenweise verarbeitet. Diese Verarbeitung aber wird gelernt, indem das Gehirn entsprechende Andockstellen für Hormone auf- oder abbaut. Dies kann innerhalb weniger Stunden, in Tagen oder sogar Wochen geschehen.
Es gibt also eine neuronale Plastizität, die aber unterschiedlich träge ist.

Deshalb sind Hormonspiegel für sich nicht aussagekräftig.
Jedenfalls aber kann man dem Mythos eines spezifisch weiblichen oder spezifisch männlichen Gehirns entgegentreten. Selbst wenn es hormonelle Unterschiede gibt, kann das Gehirn zusätzlich lernen, diese so oder so zu verarbeiten. Und bei diesem "so oder so" spricht die umgebende Kultur ein deutliches Wörtchen mit.


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