03.03.2009

Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde

Es gibt Bücher, deren Titel jedem Bibliophilen ein Ärgernis ist. So bei diesem Buch. Ich warte noch auf einen Titel wie Der Tag, an dem meine Frau die Laufmasche meiner Socke mit dem Schnupfen des Apothekerhundes verwechselte. Es mag sein, dass sich solche Titel besser verkaufen, als wenn man den englischen Titel eingedeutscht hätte: Hurry down, sunshine; Eile herab, Sonnenschein (der Titel eines alten Blues). Trotzdem ärgert mich der deutsche Titel maßlos.

Nun gut, nehmen wir das so hin. Was erzählt uns dieses Buch?
Michael Greenberg lebt mit seiner neuen Frau Pat und seiner 15jährigen Tochter Sally in New York. Es ist 1996, Anfang Juli. Nach einigen Tagen merkwürdigen und unsicheren Verhaltens bricht bei Michaels Tochter eine manische Episode aus und schmeißt das ganze Leben der kleinen Familie durcheinander.
Greenberg muss sie in einer geschlossenen Station unterbringen lassen. Die Medikamente lähmen die verrückten Schübe seiner Tochter. Und doch findet er nicht wieder zu ihr zurück. Mit einer seltsamen Fremdheit gleiten die beiden aneinander vorbei, bemühen sich umeinander und verfehlen sich.

All dies wäre nicht neu. Es gab solche Bücher und es wird wieder solche Bücher geben. Was mich an Greenbergs Buch sehr fasziniert hat, ist die Dichte seiner Beschreibungen, die fast klinische Präzision, mit der er seine Gedanken und Wahrnehmungen aufzeichnet. Die Sprache ist bis zur Trockenheit schlicht; wenig Metaphern und keinerlei lyrische Verschwulstungen. Allenthalben nutzt er aber schöne, unverbrauchte Analogien (Vergleiche, für unsere Nicht-Rhetoriker).
Erst im Laufe des Lesens, vielmehr: Zweit-Lesens merkte ich, woher diese Atmosphäre kommt. Es sind die narrativen Figuren, die hier ganz prosaisch ineinander greifen, die wenigen wirklich reflektierenden Kommentare, viel mehr noch die Beispiele, die Greenberg aus der Weltliteratur einsammelt, die Vergleiche, die Geschichten, die dieser kleinen, melancholischen Geschichte ihren Glanz geben. (Ich hatte mich mal vor anderthalb, zwei Jahren mit ein paar Autobiografien gequält, Helmut Kohl, Dieter Bohlen, Stefan Effenberger, Bücher, die bei mir eindeutig mit Panikattacken besetzt sind. Da ist mir ein ganz anderen Ton und Schreibstil in Erinnerung.)

Wenn mich etwas an amerikanischen Büchern aufhorchen lässt - selbst die schlechten Liebesromane sind voll davon, wenn auch auf sehr plumpe Art -, dann sind es diese vielen kleinen Verweise auf Konflikte, auf zwischenmenschliche Spannungen. Greenberg streut sie mit großer Selbstverständlichkeit ein.
Diese Konflikte bedeuten wenig oder garnichts, oder können doch irgendwann kippen und die Welt zu Fall bringen.
Wir sind erst seit zwei Jahren verheiratet, und unser Zusammenleben muss sich erst noch von dem Gewicht der getrennten Welten befreien, die jeder von uns in die Ehe eingebracht hat.
Oder:
Mit klirrenden Schlüsseln nähert sich Schwester Phillips. Sie lächelt mir zu und geht, ohne stehenzubleiben, weiter.
All die kleinen Zeichen weisen auf ein Milieu hin, einer Art Boden, auf dem die Gesten, Sätze, Geräusche aufruhen. Doch die kleine Erzählweise, dieses Entlanghangeln an Sinnlichkeiten und an den Symptomen der getrennten Welten, bringen diese Milieus auch wieder in eine vibrierenden Zustand, der darauf wartet zu zerbrechen oder zerbrochen zu werden.
Immer noch hört man hier die amerikanischen Milieus des 19. Jahrhunderts heraus. Als ein Industrieller sich das Land einer kleinen Stadt am Swanee River aneignet und dort eine Fabrik aufbaut, wandern die Bewohner aus: Beute dein Territorium aus, wenn du es ausbeuten willst, aber lass uns in Ruhe fliehen. Freilich können sie das nur deshalb, weil ihre Sesshaftigkeit in dieser Stadt noch immer eine Flucht war und weil ihnen das konkrete Territorium nichts bedeutete.
Gilles Deleuze hat die Montage des amerikanischen Kinos als eine Parallelmontage beschrieben, die auf Schnittpunkte des Zusammentreffens zustrebt und den Unterschied zum sowjetischen Kino darin gesehen, dass dieses - Eisenstein voran - zwar auch Parallelmontagen nutzt, diese aber dialektisch gebraucht, so dass das amerikanische Kino von unabhängigen Bewegungen, zufälligen Treffen und Transformationen erzählt, während das sowjetische Kino von gegensätzlichen Bewegungen, notwendigen Treffen und Aufhebungen in der Synthese berichtet (s. Kino I. Das Bewegungs-Bild, 3. Kapitel: Montage).

Sally bringt ihre Unruhe in die Familie, zuerst als Zeichen eines schwierigen Charakters, von jemandem, der mit Wörtern leicht umgehen konnte, dem aber das Lesen und Schreiben in der Grundschule schwer fiel. Es sind alles Zeichen eines Verdachtes, doch Greenberg schildert auch, wie er sich an einem Bild seiner Tochter festklammert: mit Problemen in der Schule, zurückgezogen und schüchtern, aber mit wachem Verstand und einem genialen Gespür für Wörter.
Als sie dann mehr und mehr in die Psychose hineingleitet, kehren sich die Zeichen, die Gesten plötzlich um. Statt immer wieder auf das Bild einer in ihren Begabungen zerrissenen Tochter hinzuweisen, lösen die Handlungen, ihre Worte plötzlich jegliches Bild auf. Sie wird unverständlich. Etwas stimmt nicht mit ihr.
Je länger sie redet, desto wirrer wird sie, und je wirrer sie wird, desto dringender ihr Bedürfnis, sich uns verständlich zu machen. Bei ihrem Anblick fühle ich mich hilflos. Und doch bin ich von ihrer unverfälschten Lebendigkeit wie elektrisiert.
Die Wörter fliehen ihrer Bedeutung. Sie werden so vollständig Symbole, dass sie weder an den Menschen noch an den Sachen hängen bleiben. Sie fliehen die Territorien, deterritorialisieren sich. Frege unterschied zwischen Sinn und Bedeutung. Der Sinn einer Aussage ist ihr Halt in der Welt. Die Bedeutung einer Aussage ist ihre Verbundenheit mit anderen Aussagen.
Je länger Sally interpretiert, allem Geschehen einen immer seltsameren Sinn abgewinnt, umso mehr entgleitet diese Bedeutung. Die Sprache wird ein molekularer Strom, die Wörter wandeln sich durch Brownsche Bewegungen. In diesem Gefolge löst sich dann auch mehr und mehr der Sinn auf. Die Wörter verweisen nicht länger, sie sprudeln und schäumen.
Greenberg sucht ein sicheres Territorium:
Ich fühle mich in meiner Überzeugung bestärkt und klammere mich an die Gewissheit, des Rätsels Lösung gefunden zu haben: Drogen.
Doch Sally hat ihren eigenen Weg, sich (von sich) ein Bild zu machen:
Dann plötzlicher Lärm. Die Wohnungstür fliegt auf. Pat stößt einen Schrei aus, und beide stürzen wir die Treppe hinab, Sally nach.
In der Bank Street holen wir sie ein. Sie rast, den Oberkörper weit vorgebeugt, blindlings in Richtung Westen.

Schließlich bringt Greenberg sie in eine psychiatrische Klinik, wo sie einer Reihe reterritoralisierender Prozeduren unterworfen wird, Prozeduren, in denen es gilt, aus Sally wieder einen halbwegs normalen Mensch zu machen. Diese gipfeln in einem Moment, da Sally ganz zur Statue erstarrt:
Sie steht am Fenster, augenscheinlich unfähig, sich von der Stelle zu rühren, erstaunt über ihre missliche Lage und über unseren erschrockenen Gesichtsausdruck. Offenbar ahnt sie nicht, dass sie zu einer grotesken Statue erstarrt ist.
Die Menschen führen ein ikonisches Leben. Sie senden diese oder jene Zeichen aus, vollführen diese oder jene Geste und alles führt immer wieder darauf zurück, dass wir uns ein Bild von diesem Menschen machen. Dann aber wird ein solcher Mensch plötzlich unverständlich. Seine Gesten lassen sich nicht mehr einordnen, seine Sprache gerät durcheinander, der Sinn ist eine herumirrende Interpretation, gewaltsam, fremd, lyrisch. Und mit dem Sinn geraten die Handlungen außer Kontrolle. Doch bereits in dem Moment, wenn dieser irre Mensch handelt, kehrt er zu einem Bild zurück, dem des Rasenden.
All diese kleinen Mechanismen der Psychiatrie korrigieren dieses Bild am Körper des Patienten. Ruheraum, Zwangsjacke, Medikamente, medikamentöse Nebenwirkungen. Sie überpinseln die schäumenden Exstasen.
Deterritorialisierung der Sprache, wenn die Wörter keinen Halt mehr finden, Deterritorialisierung des Körpers, wenn dieser uns plötzlich fremd, unwirklich erscheint, 1. Phase; 2. Phase, wenn wir Territorien suchen, mögliche Drogen, der Stress, die Hitze, die Pubertät, wenn diese frei flottierenden Zeichen gewaltsam zum Zeichen eines anderen, gefährlichen Territoriums gemacht werden, wenn wir das Territorium, gleichsam den Tatort suchen, von dem das ganze Spektakel seinen Ursprung nimmt; dann in der 3. Phase zunächst die Angleichung an ein Bild des Schreckens, die Medusa, der Racheengel, das Tier aus den Fluten und schließlich die Riten, Behandlungen, Zurechtweisungen, die das Bild des geordneten Menschens wieder zu ihrem Recht verhelfen bis hin zu ihrer Übererfüllung in der Statue.
Und gleichzeitig vollführt der Wahnsinnige alle möglichen Territorialisierungen. Die kleinsten Anwandlungen, Aufmerksamkeiten öffnen ein ganzes esoterisches Milieu: es gibt die Lichtfresser, die Botschaften der Engel, es gibt die Menschen, die auf die Heilsbotschaft warten, eine ganze reißende Flut indexikalischer Zeichen, die nur noch flüchtig den Boden, die Ökosysteme, die sozialen Nischen, aus denen sich unser Leben zusammensetzt, berühren.
Am Ende des Buches hat Sally geheiratet und sich wieder scheiden lassen. Jetzt lauscht sie nach den Zeichen, die sie auf das Territorium der Psychose zurückführen:
"Ich versuche herauszuspüren, wann sie [die Psychose] bevorsteht", sagt sie, "damit ich ihr aus dem Weg gehen oder mich wenigstens zu Boden werfen kann wie jemand, der ins Kreuzfeuer einer Schießerei gerät."
Man höre die beiden räumlichen Metaphern, die Sallys Aussagen begleiten. Die Sprache, der Körper, obwohl immer noch bedroht, ist in einem verlässlichen Milieu angekommen. Direkt vor dieser Stelle schildert Greenberg, dass er wieder ein Bild von seiner Tochter hat.

Was Greenberg schreibt, ist mehr als eine Autobiographie. Es ist die Lehre von den Zeichen des Körpers, wie diese, von beiden Seiten her, aus den Fugen geraten; wie diese eingefangen, gequält, umschmeichelt werden; wie sich der Wahnsinn Stück für Stück wieder in eine zerbrechliche Normalität umwandelt, indem er Bilder auswirft und Bilder empfängt. Es ist auch die Lehre von den Milieus, die sich diese Zeichen machen, von ihren Semiosphären, eine Lehre, die an ihren Rändern Andeutungen des Konfliktes hinterlässt, Andeutungen, die dann manchmal aufschäumen und die Milieus in ungestüme, intensive Wandlungen und Fluchten treibt.
Das ist vielleicht das Schönste an diesem Buch: dass es sich in einem wandelnden Strom von mal lichten, mal düsteren Wechselwirkungen bewegt, ja dass alle Begegnungen, ob mit Pat, ob mit der Ex-Frau Robin, ob mit dem soziopathischen Bruder oder dem überforderten Vermieter, - dass alle Begegnungen ein funkelnder, knisternder Austausch von Zeichen ist, die keinem Höhepunkt zustreben, keinem Verfall, sondern einer gewissen Unempfänglichkeit für die Erzählung, freilich nur, um damit die Erzählung selbst in einen Schwebezustand zu bringen, der dieses Buch so spannend, manchmal unerträglich spannend macht.

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