01.09.2012

Kant und die Urteile

Seit Wochen verfolge ich den Begriff des Urteils, vor allem in der Philosophie von Kant. Hierzu habe ich mir ein kleines Raster angelegt. (1) Wahrnehmungsurteile, bzw. empirische Urteile, drücken eine schlichte Wahrnehmung aus, zum Beispiel: im Moment ist der Himmel wolkenlos blau; (2) Geschmacksurteile, die sich zum einen in ästhetische Urteile und zum anderen in teleologische Urteile aufteilen lassen: ästhetische Urteile beziehen sich auf das momentane Wohlgefallen (dieses Buch ist spannend), teleologische Urteile auf den Weg, zu einem solchen Wohlgefallen zukommen (wenn ich mein Zimmer aufgeräumt habe, fühle ich mich gleich besser); (3) Begriffsurteile, die zwei Begriffe in Bezug zueinander setzt (ADHS ist eine psychiatrische Störung).

Vermischung der Urteile

Urteile treten häufig nicht rein auf, sondern vermischt. Indem ich sage, der Himmel sei wolkenlos blau, drücke ich nicht nur ein empirisches Urteil über den momentanen Zustand der Welt aus; darin kann auch eine Wertschätzung und ein Wohlgefallen liegen. Ebenso können sich Geschmacksurteile und Begriffsurteile vermischen. Sage ich: Peter hat ADHS, so kann dies eine schlichte Zuweisung der Störung zu einer Person sein; es kann aber auch eine implizite Aufforderung sein, dass irgendjemand jetzt irgendetwas mit Peter machen müsse oder dass ich mir vorgenommen habe, Peter aufgrund der ADHS besonders zu unterrichten.
Durch die Situiertheit von Urteilen, aber auch durch elliptische Satzkonstruktionen (typisch werden aus Geschmacksurteilen Begriffsurteile, wenn im Satz ein Subjektschwund stattfindet), also durch alltagssprachliche Gewohnheiten, findet eine beständige Vermischung zwischen den Urteilen statt. Ja, es gibt Menschen, denen ist der Unterschied zwischen einem Begriffsurteil und einem Wahrnehmungsurteil nicht klar.

Kultur und Neurose

Meine Einteilung ist unvollständig und grob. Ein Stück weit habe ich sie auch deshalb so gewählt, um mit den Begriffen von Kant nicht ins Gehege zu kommen. Trotzdem lässt sich mit diesen mein eigentliches, momentanes Interesse ganz gut ausdrücken. Mir scheint nämlich, dass die Vermischung der Urteilsformen das neurotische Potenzial unserer Kultur ausmachen. Insbesondere gilt dies für die Vermischung von Geschmacksurteilen und Begriffsurteilen. Diese findet man typischerweise in rassistischen, sexistischen oder (aber was heißt hier oder?) fundamentalistischen Aussagen: Juden, Neger, Schwule und natürlich Sozialisten — weg mit dem Dreck!
Bei Sigmund Freud (dem ich mich demnächst wieder etwas intensiver widmen muss) kann man die Aussagen der Neurotiker ebenfalls sehr gut darauf hin beobachten.
Vor allem aber die Frankfurter Schule scheint diese Vermischung zu einem zentralen Thema gemacht zu haben (ich kenne leider noch zu wenig Werke dieser Philosophen). Nun hat die Frankfurter Schule allerdings eine moralische Unentscheidbarkeit in dieser Vermischung entdeckt. Denn auf der einen Seite entstehen hier die Neurosen von Einzelpersonen, Gruppen und Völkern, auf der anderen Seite hat diese Vermischung auch kulturschaffende Kraft. Etwas salopp formuliert und auf die Kantische Frage, wie Neues möglich sei, antwortet die (frühe) Frankfurter Schule: in dieser Unentscheidbarkeit von Begriffsurteile und Geschmacksurteilen. Nicht Genie und Wahnsinn liegen dicht beieinander, sondern der Weg zum Genie und der Weg zum Wahnsinn sind in vielen Aussagen nicht unterscheidbar zusammen gemengt.

Kant: Metapher und Genie

Dies ist so ungefähr meine derzeitige Beschäftigung. Das alles ist noch sehr unsicher.
Es war Hans Blumenberg, der mich zunächst auf die Kritik der Urteilskraft und hier insbesondere auf den § 59 verwiesen hat. In diesem Paragraphen stellt Kant nämlich die Hypotypose dar, die ich auch Verbildlichung nenne (siehe auch Plotten: Thesen & Prämissen). Besonders wichtig ist aber, dass Kant hier die Metapher definiert, ohne das Wort Metapher zu benutzen (ich pflücke diesen ganzen Paragraphen zur Zeit noch auseinander: in Zukunft dazu mehr). Ich zitiere aus Blumenbergs Paradigmen
Der mit Kant vertraute Leser wird sich in diesem Zusammenhang an § 59 der »Kritik der Urteilskraft« erinnert finden, wo zwar der Ausdruck ›Metapher‹ nicht vorkommt, wohl aber das Verfahren der Übertragung der Reflexion unter dem Titel des »Symbols« beschrieben wird. Kant geht hier von seiner grundlegenden Einsicht aus, dass die Realität der Begriffe nur durch Anschauungen ausgewiesen werden kann. Bei den empirischen Begriffen geschieht dies durch Beispiele, bei den reinen Verstandesbegriffen durch Schemate, bei den Vernunftbegriffen (›Ideen‹), denen keine adäquate Anschauung beschafft werden kann, geschieht es durch Unterlegung einer Vorstellung [nämlich der ›symbolischen Hypotypose‹, FW], die mit dem Gemeinten nur die Form der Reflexion gemeinsam hat, nicht aber Inhaltliches.
(Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main 1998, Seite 11)
Der § 59 aus der Urteilskraft korrespondiert mit Passagen aus § 49 des selben Werkes. Dieses ist übertitelt mit „Von den Vermögen des Gemüts, welche das Genie ausmachen“. Wie nämlich das Symbol (= Metapher) etwas verbildlicht, was sich nicht verbildlichen lässt, so stellt das Genie etwas dar, was sich eigentlich nicht darstellen lässt:
Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen nennen: einesteils darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem wenigstens streben, und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen suchen, welches ihnen den Anschein einer objektiven Realität gibt; andrerseits, und zwar hauptsächlich, weil ihnen, als innern Anschauungen, keinen Begriff völlig adäquat sein kann.
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt am Main 1974, Seite 250
Übrigens habe ich in den letzten Tagen einiges zu dem Begriff des Genies geschrieben, nicht nur wegen Kant, sondern (Achtung!) wegen Ruprecht Frieling. Dieser hat in seinem Buch ›Wie Autoren ihre unbewussten Kräfte aktiv nutzen können‹ der Geschichte des Geniebegriffs eine sehr saloppe Analyse zukommen lassen. Leser von Kant oder Foucault dürften zwar enttäuscht werden, von dem, was Frieling schreibt, aber als Einführung ist es durchaus äußerst brauchbar; es ist eben nicht wahnsinnig ausführlich und deshalb auch ein Stück weit einseitig.

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