12.06.2007

Eine kleine Schreibformel

Spannungsgeschichten zu schreiben hat ja viel mit Formeln zu tun. Nicht immer sind diese Formeln nützlich, aber zumindest geben sie einem oft einen guten Halt.

Ich hatte ja weiter oben mal geschrieben, dass ich die Schreibratgeber und die Theorien von Deleuze und Luhmann aufeinander beziehe. Mittlerweile stehe ich zwar - wieder mal - bei ganz anderen Aufgaben. Nichtsdestotrotz kommt hier also eine kleine Anmerkung zu einer dieser Formeln.

"Scene and Structure"
Die Formel ist dem Buch "Scene and Structure" von Jack M. Bickham entnommen. Dieses Buch ist oftmals kritisiert worden. Inhaltlich ist es aber wirklich ganz brauchbar, wenn man die ganzen Formeln, die Bickham an die Hand gibt, nicht so ernst nimmt. - Die gibt es jedoch in jedem amerikanischen Schreibratgeber.
Problematisch ist an diesem Buch eher das sehr verwirrende Layout. Das macht das Buch stellenweise optisch durcheinander. Und wahrscheinlich wird es deshalb auch so abgetan.

Die Formel
Die Formel, die Bickham aufstellt, gilt für den Mikrokosmos des spannenden Erzählens. Das heißt, es geht nicht um die großen Strukturen, um die generelle Planung einer Geschichte, sondern genau um dieses 'Satz für Satz', das eine Szene mit einer fingierten Realität auffüllt.

Die Formel lautet:
stimulus - internalization - response

Mit stimulus ist jede Art von Handlung gemeint, die "neu" ist, also eine neue Information ins Spiel bringt.
Response ist die "antwortende" Handlung.
Internalization ist hier der "Weg" durch den Kopf einer Person, also hier, wie der stimulus auf jemanden wirkt und wie diese Wirkung dann natürlich auch "irgendwie" den response ankündigt oder plausibel macht.

Ein Beispiel aus "Artemis Fowl und die verlorene Kolonie":

»Wahrscheinlich haben wir ein paar Flitterwochenvideos ruiniert.«
Artemis zuckte die Achseln. »Ein geringer Preis für den Schutz meiner Privatsphäre.«

Wenn man dies mit der Formel markiert, sieht das Ganze dann so aus:
stimulus: »Wahrscheinlich haben wir ein paar Flitterwochenvideos ruiniert.«
internalization: Artemis zuckte die Achseln.
response: »Ein geringer Preis für den Schutz meiner Privatsphäre.«
Ein anderes Beispiel - aus Stephen Kings "Needful things":
Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, welche Art von Waren der oder die Besitzer von Needful Things zu verkau­fen gedachten.
Dies schien Cora Rusk erheblich zu irritieren - zumindest so stark, dass sie eines ihrer seltenen Samstagmorgen-Gespräche mit Myra führte.
»Ich werde meinen Augen bestimmt trauen«, erklärte sie.
Und - mit der Formel -:
stimulus: Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, welche Art von Waren der oder die Besitzer von Needful Things zu verkau­fen gedachten.
internalization: Dies schien Cora Rusk erheblich zu irritieren - zumindest so stark,
response: dass sie eines ihrer seltenen Samstagmorgen-Gespräche mit Myra führte.
»Ich werde meinen Augen bestimmt trauen«, erklärte sie.
Die Verkettung
Diese Formel tritt fast nie als ein einzelnes Element auf. Meist verkettet sie sich in der folgenden Art und Weise:
.... = stimulus - internalization - response = stimulus - internalization - response = ....

Ein jeweiliger response wird hier für jemand anderen zum stimulus.
In der linguistischen Gesprächsanalyse nennt man diesen Moment des Wechsels "turntaking". Er funktioniert hier wie ein Scharnier zwischen den Elementen. Zwei Personen flechten den Dialog über solche Scharniere mehr oder weniger eng zusammen.

Ausnahmen
1. Ausnahme: Floskeln und rituelle Formeln
Bei üblichen Begrüßungen, Verabschiedungen, etc. wird die Internalization meist weggelassen. Wozu auch? Zum einen sind solche Formeln in Geschichten nicht besonders glücklich und können meist zusammen gefasst werden, zum Beispiel durch einen Satz wie: "Sie begrüßten sich höflich." oder "Er klatschte seine Hand in die von Peter. 'Dann lass uns mal los.' Peter nickte"
Zum zweiten informieren solche Formeln den Leser äußerst selten.

2. Ausnahme: Stilmittel
In bestimmten Romanen findet man die "Abwesenheit" der Internalization als Stilmittel. Dies kann man zum Beispiel bei Murakami - gerade in den Dialogen - oft studieren (hier aus: "Kafka am Strand"):
»Siebzehn«, lüge ich.
»Oberstufe, oder?«
Ich nicke.
»Wohin fährst du?«
»Nach Takamatsu.«
»Wie ich«, sagt sie. »Hin und zurück?«
»Nur hin«, antworte ich.
»Ich auch. Ich habe dort eine Freundin, aber eine sehr gute. Und du?«
»Verwandte.«
3. Ausnahme: Rätsel
Wenn die andere Person rätselhaft erscheinen soll, kann man dies dadurch erreichen, dass ein Dialogpartner ohne"innere" Reaktion auskommt.
"Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten", sagte Peter schüchtern.
"Gerne, Peter."
Peter runzelte die Stirn. Woher kam diese plötzliche Freundlichkeit? Sonst war Herr Demholz doch immer so grob.
4. Ausnahme: die Figuren sind gut eingeführt
Ähnlich wie bei der 1. Ausnahme kann man sich ab einer bestimmten Stelle darauf verlassen, dass der Leser die Internalization von sich aus ergänzt. Zwar sind auch dann immer wieder Hinweise darauf notwendig, aber nicht mehr so oft. Hier ein Beispiel mitten aus dem 4. Band von Harry Potter:
»Was ist ein Reinfall?«, fragte Ron George.
»'nen naseweisen Kerl wie dich als Bruder zu haben«, sagte George.
»Habt ihr beide schon irgendwelche Ideen, was ihr beim Trimagischen Turnier anfangen wollt?«, fragte Harry. »Habt ihr darüber nachgedacht, ob ihr doch noch teilnehmt?«
»Ich hab McGonagall gefragt, wie die Champions ausge­wählt werden, aber sie hat nichts verraten«, sagte George erbittert. »Sie meinte nur, ich solle den Mund halten
und end­lich meinen Waschbären verwandeln.«
Das Geplänkel zwischen Ron und seinen Brüdern Fred und George ist bis dahin den Lesern hinreichend bekannt. Hinweise auf die Internalization sind deshalb überflüssig.

5. Ausnahme: Internalization und Response fallen - zumindest fast - zusammen.
Oft fallen Internalization und Response zusammen. Entweder dadurch, dass ein expressives Verb verwendet wird, oder dass ein Verb "qualifiziert" wird, etwa durch ein Adverb.
Ein erstes Beispiel - in dem Internalization und Response zusammenfallen - kommt wieder aus dem 4. Band von Harry Potter:
»Wie, glaubst du, werden sie kom­men? Mit dem Zug?«
»Wohl kaum«, sagte Hermine.
»Wie dann? Auf Besen?«, überlegte Harry und blickte hoch zum sternbedeckten Himmel.
»Glaub ich auch nicht ... wenn sie von so weit her kom­men ...«
»Mit einem Portschlüssel?«, rätselte Ron. »Oder sie könn­ten apparieren -«
»Du kannst nicht aufs Gelände von Hogwarts apparieren, wie oft soll ich dir das noch sagen?«, flüsterte Hermine unwirsch.
Wörter wie "überlegen", "rätseln" oder "flüstern" qualifizieren den response als "psychisch beeindruckt" und geben diesem damit eine innere Bewegung mit. - Hier findet sich übrigens auch eine wesentlich bessere Begründung für eine abwechslungsreiche Sprache als derjenigen, den Leser nicht zu langweilen: Wechsle die Worte, wenn du eine seelische Qualität ausdrücken kannst oder willst oder musst. Genau dann kann man in Dialogen gut von dem Standardwort "sagen" abweichen.
Die Qualifizierung durch ein Adverb funktioniert ebenso: ein Verb wird durch ein Adverb mit einem "psychischen Ausdruck" belegt. Im vorangehenden Zitat steht im letzten Satz zu Beispiel "flüsterte ... unwirsch". Hier ein anderes Beispiel aus Artemis Fowl und die verlorene Kolonie:
Hier ist es 1. Butler, der antwortet (indirekte Charakterisierung), 2. das Adverb (barsch, etw. barsch sagen), mit dem die Antwort Butlers charakterisiert wird (direkte Charakterisierung), 3. natürlich der Inhalt dessen, was Butler sagt (Zurückweisung der Frage).
Ein anderes - recht beliebig gewähltes - Beispiel, aus dem Herrn der Ringe:
»Es ist doch nicht etwa ein dauernder Schaden angerichtet worden?« fragte Frodo besorgt. »Er wird doch wohl rechtzeitig wieder in Ordnung kommen? Ich meine, in Frieden ruhen können?«
Auch durch die Art der Antwort, des Handelns kann die Internalization ausgedrückt werden. Dann zeigt die Reaktion, wiederum durch eine deutlich "dahinterstehende" Motivation, was innerlich passiert ist.
Wir hatten das schon oben gesehen: Butler weist Marias Frage zurück und befiehlt ihr etwas. Damit hätten wir eigentlich schon genügend Hinweise darauf, wie Butler die Frage Marias internalisiert hat. Hier kommt natürlich noch das Adverb dazu.
Eine andere Möglichkeit ist, die Internalization im Dialog ausdrücken zu lassen. Hier zum Beispiel kommentiert Artemis Fowl eine Frage Butlers, statt sie zu beantworten:
»Alles noch dran, nichts gebrochen. Und jetzt, Artemis, sa­gen Sie mir, was ist siebenundzwanzig mal achtzehn Kom­ma fünf?«
Artemis rückte sein Jackett zurecht. »Aha, verstehe. Sie überprüfen meine geistigen Fähigkeiten. Sehr gut. Es wäre in der Tat denkbar, dass eine Zeitreise das Gehirn beein­trächtigt.«
An dieser Stelle drückt eine Figur aus Murakamis Roman "Kafka am Strand" aus, was in ihr innerlich vor sich geht:
»Suchen Sie sie schon lange?«
»Mal überlegen ... eins, zwei, drei - heute sind es drei Tage.«
Zusammenfassung
Szenen haben im allgemeinen zwei Aufgaben. Zum einen treiben sie die Handlung voran, zum anderen liefern sie fortlaufend Charakterisierungen der Romanfiguren. Gerade deshalb ist eine kleine Formel wie die von Bickham so nützlich.
Problematisch an der ganzen Geschichte ist natürlich, 1. dass diese Formel nur einen guten Anhaltspunkt bietet, aber kein Muss ist; 2. ist natürlich jede Charakterisierung schließlich äußerlich: sie ist genauso Text und besteht genauso aus Worten wie Handlungen und Beschreibungen. Gerade deshalb kann die Charakterisierung sich immer wieder mit anderen Funktionen vermischen. Gerade deshalb fällt sie manchmal zu dürftig aus oder schiebt sich unangenehm in den Vordergrund.
Hier ist dann eben das berüchtigte "Gespür" gefragt.

2 Kommentare :

Zappadong hat gesagt…

Aus der Sicht von jemandem, der pro Buch über 200 Seiten füllen muss und sehr viel Dialog hat, kann ich dir sagen, dass das manchmal zum absoluten Brechmittel werden kann, wenn man es übertreibt :-(
Hab's versucht. Zu oft angewandt, wirkt es zu gezwungen. Oder zu offensichtlich. Vielleicht bin ich aber auch noch nicht subtil genug. *grübel*

Aber danke für die Beispiele. Ich weiss jetzt, was du meinst. Ich grüble in meiner Fantasiekiste und schaue mal nach, was ich noch hervorzaubern kann, um diese Technik zu verfeinern.

Alice

Frederik Weitz hat gesagt…

Hallo Alice!

Ich glaube nicht, dass du zu grob bist. In deinem Fall greift ja - da viele Personen immer wieder auftauchen - die 4. Ausnahme: die Personen sind gut eingeführt.
Dann kann und muss man natürlich mit der Internalisation spärlicher umgehen.

Grübeln nützt im übrigen nicht viel. Man kann solche Techniken oder Formeln ja auf zweierlei Weise verwenden: einmal, indem man sie penibel verfolgt. Das ist aber tatsächlich grob fahrlässig.
Oder man kommentiert seine Lieblingsstellen auf solche Formeln durch. Der Effekt dabei ist natürlich, dass man sich selbst für die Möglichkeiten sensibilisiert, einen Prosatext zu schreiben.
Sensibilisierung ist nicht mit der Anwendung von Techniken gleichzusetzen. Aber Techniken ermöglichen Sensibilität, wenn man eben nicht erwartet, dass diese Techniken sich genau so in der Umwelt finden lassen und dass nur diese Techniken gut sind. Murakami weicht zum Beispiel häufig von dieser Technik ab und schreibt sehr gut. Konsalik dagegen wendet diese Technik meist an und schreibt sehr schlecht. Du findest die Formel auch im Zauberberg, im Ulysses und in Fräulein Else. Aber eben nicht immer. Und dass Mann, Joyce und Schnitzler sich hier Freiheiten genommen haben, macht sie vielleicht gerade zu den großen Autoren, die sie sind.

Frederik