ZEIT: Bei Ihnen, Herr Walser, findet man manches Kritische über Grass. In einem Brief an Frisch schreiben Sie über ihn: fremd, zu viel Abenteuerliches, zu viel Heraldisches.
Walser: Das ist ein Wurzelgeflecht, da gibt es nicht einen Hauptstrang.
Das Denken ist nicht baumförmig, und das Gehirn ist weder eine verwurzelte noch eine verzweigte Materie. Die zu Unrecht so genannten "Dendriten" stellen keine Verbindung von Neuronen in einem zusammenhängenden Gewebe her. Die Diskontinuität der Zellen, die Rolle der Axonen, die Funktion der Synapsen, die Existenz synaptischer Mikro-Fissuren, der Sprung jeder Botschaft über diese Fissuren hinweg, machen aus dem Gehirn eine Mannigfaltigkeit, die auf ihrer Konsistenzebene oder ihrer Glia in ein ungewisses System von Wahrscheinlichkeiten eingebettet ist, uncertain nervous system. Vielen Menschen ist ein Baum in den Kopf gepflanzt, aber das Gehirn selbst ist eher ein Kraut oder Gras als ein Baum. "Axon und Dendrit sind umeinander gewunden wie eine Ranke um einen Brombeerstrauch, mit einer Synapse an jedem Dorn." (TP, S. 28)
Wir kennen keine Wissenschaftlichkeit und keine Ideologie mehr, sondern nur noch Gefüge. Und es gibt nur noch maschinelle Gefüge des Begehrens und kollektive Gefüge der Äußerung. Keine Signifikanz und keine Subjektivierung: auf n hin schreiben (jede individuierte Äußerung bleibt in den herrschenden Signifikationen gefangen, jeder signifikante Wunsch verweist auf unterworfene Subjekte). Ein Gefüge wirkt in seiner Mannigfaltigkeit notwendigerweise zugleich auf semiotische, materielle und gesellschaftliche Strömungen ein (unabhängig von ihrer möglichen Wiedereinbindung in einen theoretischen oder wissenschaftlichen Korpus). Es gibt keine Dreiteilung mehr zwischen einem Bereich der Realität (der Welt), einem Bereich der Darstellung und Vorstellung (dem Buch) und einem Bereich der Subjektivität (dem Autor). Vielmehr stellt ein Gefüge Verbindungen zwischen bestimmten Mannigfaltigkeiten aus all diesen Ordnungen her, so dass ein Buch seine Fortsetzung nicht im folgenden Buch findet und weder die Welt zum Objekt noch einen oder mehrere Autoren zum Subjekt hat. Kurz gesagt, wir meinen, dass man gar nicht genug im Namen eines Außen schreiben kann. Das Außen hat kein Bild, keine Signifikation und keine Subjektivität. Das Buch als Zusammenfügung mit dem Außen gegen das Buch als Bild der Welt. Ein Rhizom-Buch, das nicht mehr dichotom, zentriert oder gebündelt ist. Niemals Wurzeln schlagen oder anpflanzen, wie schwierig es auch sein mag, nicht auf diese alten Verfahrensweisen zurückzugreifen. (TP, S. 38)
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