01.03.2015

Sehen: Extrapolation, Unterbrechung, Gruppe

Geht man nicht von einer positivistischen Wahrnehmung aus, also von einem Eindruck der Wirklichkeit in der Wahrnehmung, versucht man also den radikalen Konstruktivismus ernst zu nehmen, dann muss man von einer Form ausgehen, die den Wahrnehmungen zu eigen ist, die nicht in einem Jenseits liegt, sondern auf derselben Ebene, mithin in anderen Wahrnehmungen. Insofern brauchen wir keine Abbildlehre, sondern eine Grammatik des Sehens.

Der Formalismus

Im Moment lese ich von Sylvia Sasse das Buch Michail Bachtin zur Einführung. Der Formalismus begründete sich darin, dass die Form in der Komposition des Kunstwerks verwirklicht werden könnte. Es gebe also die Möglichkeit, die Form, die eine typische Leistung der Vernunft ist (im Sinne Kants), im Material zu veräußern. Dieser Idee widerspricht Bachtin. Er wirft den Formalisten ein verkürztes Verständnis der Form vor. Zunächst, so Bachtin, gibt es zwar eine Korrespondenz zwischen der äußeren Gestalt und der inneren Form, aber keine Gleichheit. Vielmehr entsteht die Form aus der Komposition des Kunstwerkes, seinem Inhalt und seinem Material und bildet damit eine Art Atmosphäre, die durch die „tätige Wahrnehmung“ am Kunstwerk entsteht.

Verfremdung

Schon bei den Formalisten spielt die Verfremdung eine wichtige Rolle. Sie unterscheiden zunächst das Wiedererkennen und das Sehen. Das Wiedererkennen geschieht automatisch, gleichsam am Bewusstsein vorbei; demgegenüber ist das Sehen durch verschiedene Formen der Verfremdung und damit Aneignung des geschauten Objekts hindurchgegangen.
Der wesentliche Gedanke dabei ist, dass nur durch die Verfremdung selbst eine Aneignung des Objekts möglich ist. Das Objekt muss behandelt, verändert, umgestaltet, transformiert werden. Dieser Gedanke ist untypisch, weil wir die Aneignung mit der bewusstlosen, automatisierten Beherrschung gleichsetzen und diesen Gedanken in der „Eigentlichkeit“ des Objekts verankern, also in einer Art Wesen und Wesentlichkeit. Sowohl die Formalisten als auch Bachtin, eigentlich aber schon Kant, drehen diesen Gedanken komplett um.

Mannigfaltigkeit

Geht man davon aus, dass die Wahrnehmung nicht abbildet, sondern in einer Grammatik geregelt ist, dann drückt sich diese Grammatik in Form von „Sätzen“ aus. Dies sind Konstellationen oder Konfigurationen, die einen geregelten Zusammenhang bilden. Gelegentlich findet man dafür den Begriff der Mannigfaltigkeit (zum Beispiel bei Kant und Wittgenstein).
Eine Möglichkeit, eine solche automatisierte Grammatik zu verfremden, ist die Extrapolation.

Extrapolation

Ich hatte die Extrapolation in den letzten Jahren immer wieder als ein Beispiel für schlechte Argumentation vorgeführt. Sie löst ein Element aus einer Gruppe heraus und behauptet, dass dieses Element die Gruppe als Ganzes charakterisiere. Sowohl bei Ludwig Wittgenstein als auch bei Gilles Deleuze wird dagegen die Gleichwertigkeit der Elemente als ein Zusammenwirken behauptet. Die einzelnen Elemente haben nicht unbedingt die gleiche Funktion; aber keines von ihnen ist der Abbildung der gesamten Gruppe fähig, sowie ein Verb oder ein anderes Wort nie den gesamten Satz abbilden kann. Ein Satz funktioniert nur als gesamter.
Unter diesem Aspekt der Abbildung ist die Extrapolation tatsächlich eine falsche Operationsweise. Nimmt man allerdings die Extrapolation als Möglichkeit der Verfremdung, dann dient sie dazu, durch die unterschiedlichen Abweichungen über die „ursprüngliche“ Gruppe aufzuklären.
Indem ich also einen Satz immer wieder abwandle, indem ich ihn mit ähnlichen, aber doch anderen Sätzen einkreise, kann ich Rückschlüsse auf die Form des Satzes ziehen.
Diese Art und Weise, die Extrapolation zu gebrauchen, führt zu Regeln, nicht zu Bildern. (Das Bild des Satzes wird bei Wittgenstein als ein positivistisches Überbleibsel kritisiert. Man glaubt, so Wittgenstein, zwar nicht mehr an die Wirklichkeit, aber doch an die Wahrheit der Sätze. Dann aber würden die Sätze ohne das Wirken der Vernunft zustande kommen, was, folgt man der konstruktivistischen These, eine Absurdität ist.)

Unterbrechung

Eine andere Form der Verfremdung ist die Unterbrechung. Eine Reihe oder Abfolge wird in ihrem Automatismus aufgehalten. Auch hier spielt die Extrapolation eine wichtige Rolle.
Als ich neulich über die Ambivalenz der Metakognition geschrieben habe, beruhte das auf demselben Gedanken wie die Ambivalenz der Extrapolation. Die Metakognition bildet den Lernprozess nicht ab, sondern reguliert ihn auf eine bestimmte Art und Weise, indem sie ihn in eine Form presst, die ihm bis dahin nicht eigen war.

Normativ/kognitiv

Bei Niklas Luhmann findet sich die Unterscheidung normativ/kognitiv. Normative Prozesse ordnen ein Stück Welt entlang einer Norm. Falls es sie rein gäbe, dann in der Form, dass sie nicht an Erkenntnis interessiert sind. Dem stehen die kognitiven Prozesse gegenüber, die reines Erkennen wären, wenn es rein kognitive Prozesse gäbe. Meist sind es jedoch Mischformen.
Diese Mischformen drücken sich in der Ambivalenz der Metakognition genauso aus wie in der Ambivalenz der Extrapolation. Und genauso ist die Verfremdung zugleich eine Aneignung, weil sie ein Objekt projeziert, aber die Struktur, in die dieses Objekt eingebunden ist, meint.

Parodieren

Das klassische Genre der Verfremdung ist die Parodie. Man kann die ganze Literaturgeschichte als eine Kette von Parodien lesen. Ich nehme an, dass dies in der Malerei und der Komposition ebenso möglich ist. Eine Parodie muss nichts Heiteres haben. Sie besteht aus einer Vorlage, die in gewisser Weise manipuliert und dadurch transformiert wird.
In der Kette dieser Transformationen wird das „Original“ in seiner Wertigkeit erkannt. Indem es durch die Parodie nicht mehr so funktioniert, wie es früher funktioniert hat, erkennt man die Regeln, nach denen es funktioniert hat und damit die Regeln, die eine Kultur zu einer gewissen Zeit ausmachen könnten.

Zurück zum Subjekt

Auch das Subjekt erkennt sich selbst, so lese ich in Bachtin, in dieser Kette seiner Transformationen. Es ist zwar nicht außerhalb seiner selbst, aber darauf angewiesen, sich nach außen zu betätigen und darüber auf sich selbst zurückzuschließen. Bachtin nennt dies Außerhalbbefindlichkeit.
Was der Mensch wahrnimmt, wenn er in der Tätigkeit ein Objekt bearbeitet, sind die Bedingungen der Möglichkeit, ein solches Objekt zu erkennen. In der Tätigkeit und den Regeln der Tätigkeit liegt die Grammatik der Wahrnehmung.
Insofern ist Welterkenntnis zugleich Selbsterkenntnis. Und insofern brauchen wir auch keine erkenntnistheoretischen Zweifel. Wir müssen einfach nur die Strukturen unserer Welt und unsere Tätigkeit in ihr untersuchen, um uns selbst zu erkennen. Wir brauchen nicht den Verdacht, dass wir etwas nicht sehen würden, nicht erkennen könnten. Alles liegt offen vor uns da, wir als uns selbst, weil diese Welt unsere eigene ist.

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