13.02.2012

Isotopien (Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane)

Ich hatte vor einigen Tagen eine allgemeine Einführung zu Zeichen und Bedeutung gegeben.
Hier möchte ich, anhand einiger Textpassagen, eine erste Praxis vorstellen. Diese Praxis führt horizonthaft zu der Literaturwissenschaft als einer Hilfswissenschaft für pragmatischere Bereiche. Das mag anstößig erscheinen. Eine Hilfswissenschaft gilt als nicht eigenständig. Tatsächlich aber halte ich ein Literaturverständnis, dass sich einfach nur auf vermeintliche Qualität bezieht, für nicht sinnvoll. Damit werde ich jetzt nicht ständig auf die praktischen Bereiche, in denen Literaturwissenschaft eine Rolle spielt, anspielen. Auch hier geht es weiterhin nur darum, einige Methoden vorzuführen und ein Stück weit die ersten Begriffe zu erweitern. — Vorsicht übrigens: dieser Schritt ist Erbsenzählerei, bzw. er vermittelt weniger die Freuden der Literatur, als die Freuden der Analyse.

"Kleist, Moos, Fasane"

Der Text "Kleist, Moos, Fasane" findet sich in dem gleichnamigen Buch von Ilse Aichinger. Er umfasst 1911 Wörter, 272 Zeilen und steht auf acht Seiten. Er ist weiterhin untergliedert in drei Abschnitte. Diese sind formal durch eine Leerzeile kenntlich gemacht; inhaltlich beginnt jeder dieser drei Abschnitte mit den Worten "Ich erinnere mich …", dann folgt jeweils ein "Stückchen Welt" und zwar immer in einer Genitivkonstruktion ("Ich erinnere mich der Küche meiner Großmutter.", Seite 11).
Der Text stammt aus dem Jahr 1959, bzw. wurde in diesem Jahr zum ersten Mal veröffentlicht und zwar in der Zeitschrift ›Akzente‹. Die Entstehungszeit wird mit ›Januar/Februar 1959‹ angegeben. Es ist die Zeit der beginnenden Berlinkrise (am 10. November 1958 verlangt Chruschtschow eine Änderung des Potsdamer Abkommens).
Ich zitiere aus der im Fischer-Verlag erschienenen Gesamtausgabe, Bd. 5, Seite 11-18, Frankfurt am Main 1991.

Versuch einer Einordnung in ein Genre

Zunächst erscheint der Text als episch. Dem widerspricht jedoch, dass es hier keine einheitliche Handlung gibt (was jedoch noch kein Grund ist, diesen Text zu einer anderen Gattung zu zählen). Zum zweiten gibt es ein Erzähler-Ich, welches vor allem ihre eigenen Gefühle, Gedanken und Eindrücke aufschreibt, so dass der Text eher "expressiv" als "darstellend" wirkt. Drittens gibt es deutlich lyrische Elemente, Metaphern und Metonymien, Parallelismen, eine teilweise suggestive Argumentation. Alle diese drei Aspekte wirken ineinander und verschieben den Text deutlich in Richtung Lyrik.
Nimmt man noch die vierte große Gattungseinteilung hinzu, die Ivo Braak in seinem Buch »Poetik in Stichworten« aufnimmt, die didaktischen Formen, so können wir hier zumindest in Ansätzen auch eine explizit didaktische Funktion des Textes feststellen. Besonders deutlich wird dies im letzten Absatz, der als eine Art subscriptio zu lesen ist und damit den ganzen Text als ein Emblem definieren könnte. Das Emblem führt Braak zwar nicht unter den Gattungen, sondern unter den Stilmitteln auf, kann allerdings durchaus als didaktische Kurzform gelten. Es ist dreigeteilt, nämlich in ein Motto, ein Bild und ein Epigramm. Dieses Epigramm nennt sich im Emblem subscriptio, also Unterschrift. Braak definiert zunächst: "Ein in sinnvoller Kürze dichterisch geformter Gedanke." (Seite 194) Die Nähe zum Sinnspruch und zum Aphorismus macht eine genaue Unterscheidung schwierig. Als Sentenz, ein scharf formulierter, zusammenfassender Gedanke findet sich das Epigramm auch am Ende von Redeteilen in der Rhetorik.
Ich werde im folgenden nicht auf jeden Gedanken eingehen können, deshalb muss ich auch hier stark eingeschränkt argumentieren. Tatsächlich gibt es eine deutliche Nähe zum Emblem, angefangen mit dem allerdings deutlich lyrischen Epigramm am Ende, einer sehr komplexen (da auch sehr langen) pictura. Das Motto identifiziere ich hier im Titel "Kleist, Moos, Fasane" und zwar nicht zuallererst durch die Bedeutung der Wörter, sondern durch die rhetorische Figur, einer zunächst sinnlosen Aufzählung verschiedener "Dinge". Tatsächlich wird diese Figur von nebeneinanderliegenden, nicht wirklich miteinander zu vermittelnden Gegenständen mehrmals wiederholt, auch durch die nicht direkt zusammenhängenden Erzählteile nachgeahmt, aber auch direkt beschrieben, zum Beispiel hier:
"Die Beeren begannen in unseren Träumen Muster zu bilden, sie verschoben sich lautlos und ohne sich zu berühren gegeneinander, jedes Muster war ein Glück, …" (Seite 17)
Und — dies muss uns hier zunächst genügen — das entscheidende Wort ist in diesem Fall "ohne sich zu berühren".
So kann man einen ersten Gedanken formulieren, auf den die Erzählung lyrisch-didaktisch antwortet: was macht die Erinnerung mit uns, wenn sie Sachen zusammenstellt? Ob dies tatsächlich so ist oder am Text vorbeigeht, ist aber nicht die Frage. Ein Text ist immer plural. Insofern diese Frage zunächst suggeriert, dass es einen einheitlichen Aufbau gäbe, ist sie natürlich nicht richtig. Als ein Einstieg in die Interpretation von Aichingers Text finde ich sie aber hilfreich.
Bleiben wir also (provisorisch) bei der Einschätzung, dieser Text sei ein lyrisch-didaktisches Emblem, also ein recht ungewöhnliches Emblem, denn normalerweise sind diese schlichter aufgebaut und deutlicher in ihren Aussagen.

Interpretanten

Umberto Eco bezeichnet den Interpretant als
"nicht lediglich ein Zeichen, das ein anderes Zeichen übersetzt (auch wenn das nicht selten der Fall ist); er ist immer und in jedem Fall eine Weiterentwicklung des Zeichens, eine vom ursprünglichen Zeichen angeregte Erkenntniszunahme. Deutlicher sichtbar wird das, wenn der Interpretant auftritt als Definition, Schlussfolgerung, Komponentenanalyse, …" (Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Seite 172)
Genau ein solcher Interpretant als (lyrische) Definition tritt am Ende der Geschichte auf. Genauer gesagt ist auch dies eine Zusammenstellung, die zunächst semantisch schwierig erscheint und die uns mindestens drei zentrale Aspekte der Geschichte vorgibt:
"Erinnerung begreift sich nicht zu Ende. Aber vielleicht, dass die Beeren ein geheimes Verhältnis zu ihr haben, das so offenbar und so undurchsichtig vor uns liegt wie sie selber mit dem Blau und Rot ihrer Kinderfarben, eingebettet in den warmen Schatten, in die Unaufhörlichkeit der frühen Zeit." (Seite 18)
In diesem Fall können wir die Interpretanten zum Beispiel mit den Worten "Erinnerung", "Geheimnis" und "Kindheit" umschreiben. Und wir können, vereinfacht, Interpretanten als solche Wörter bezeichnen, die in irgendeiner Weise auf die Deutung eines Textes hinweisen. Das ist sehr allgemein formuliert. Oftmals sind es wenige Worte, die in einem Text deutlich auf eine bestimmte Rezeption hinweisen. Öfter sind es die Textmuster, die den Leser zu einer bestimmten Betrachtungsweise anhalten wollen. Wenn allerdings unsere Mutmaßung stimmt, dass Aichinger hier einen zum Teil didaktischen Text geschrieben hat, dann müsste es auch eindeutige Signale geben, wie dieser Text zu interpretieren ist, in welchen Gesamtzusammenhang er einzuordnen ist. Auf der anderen Seite sind gerade lyrische Texte wiederum semantisch dunkel, verweigern sich also eindeutiger Interpretationen und liefern dem Leser auch keine Beihilfe (wobei man hier deutlich die Lehrgedichte und alle wiederum didaktischen Formen des Gedichts auf der einen Seite und sehr handlungsintensive Gedichtsinhalte wie bei der Ballade auf der anderen Seite davon abgrenzen muss).

Die Küche: Wortbedeutung und lyrischer Gebrauch

Nach diesem etwas längeren Umweg haben wir einen ersten Leitfaden für eine Interpretation gewonnen.
Der erste Satz des Textes lautet:
"Ich erinnere mich der Küche meiner Großmutter" (Seite 11)
Aichinger fährt fort:
"Sie war schmal und hell und lief quer auf die Bahnlinie zu." (ebd.)
Der erste Satz bedient zwei der Interpretanten, die Erinnerung und die Kindheit (durch die Großmutter). Allerdings geht es hier nicht um die Großmutter selbst, sondern um ihre Küche. Die Küche hat einen Lexikoneintrag (zum Beispiel bei Wikipedia), wird aber hier im Text ganz anders benutzt. Das macht den dargestellten Unterschied zwischen Lexem und Klassem deutlich.
Auf Wikipedia ist folgende Definition zu finden (ich zitiere nur den Anfang):
"Als Küche wird ein Raum innerhalb einer Wohnung, einer gastronomischen Einrichtung oder einer Einrichtung zur Gemeinschaftsverpflegung bezeichnet, der vorwiegend zur Zubereitung und teilweise zur Lagerung von Speisen genutzt wird. Neben ihrer reinen Funktion als Ort der Zubereitung von Nahrung, ist die Küche im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte immer wieder ein bestimmendes Element der Entwicklung von Wohnformen und Abbild gesellschaftlicher Strukturen gewesen."
Als Semem festgehalten:
Küche
[+ Raum einer Wohnung]
[+ zur Zubereitung von Speisen genutzt]
[+ zur Lagerung von Speisen genutzt]
[+ bestimmendes Element der Entwicklung von Wohnformen]
[+ Abbild gesellschaftlicher Strukturen]
Gerade die letzten beiden Seme würden wir in eine alltägliche Definition des Begriffs Küche wohl nicht hineinnehmen.
Sehen wir uns jetzt an, wie Aichinger "ihre" Küche semantisch auflädt:
Küche
[+ der Großmutter]
[+ schmal]
[+ hell]
[+ läuft quer auf die Bahnlinie zu]
Schon diese erste Ansammlung von Semen zeigt deutlich, dass diese Küche, in der Erzählung, ganz anders dargestellt wird als in der Wörterbuchdefinition. Trotzdem können wir hier noch sagen, dass der Text sich auf das Alltagsverständnis des Lesers von einer Küche stützt und sie nur genauer beschreibt. In diesem Fall könnten wir einfach die aus dem Wörterbuch gewonnenen Sememe der im Text beschriebenen Küche hinzuaddieren. Doch genau dies scheinen die nächsten Sätze nicht zu wollen:
"An ihren guten Tagen setzte sie sich auch darüber hinaus fort, in den stillen, östlichen Himmel hinein. An ihren schlechten Tagen zog sie sich in sich selbst zurück. Sie war überhaupt eine unverheiratete Küche, etwas wie eine wunderbare Jungfer, der die Seligpreisungen der Bibel galten. Abgeblättert und still, aber nicht zu schlagen." (Seite 11)
Dieser Abschnitt macht nun aus der Küche etwas ganz anderes, lädt sie, über "seltsame" Beschreibungen und Metaphern, mit einer Bedeutung auf, die mit der praktischen Funktion einer Küche und mit ihrer Wörterbuchdefinition nichts mehr zu tun haben. Die Definition der Küche, die am Anfang noch empirisch war, wird hier lyrisch. Sie bleibt aber trotzdem eine Art Definition, die der Küche Eigenschaften zuweist, zum Beispiel die Eigenschaft "unverheiratet". Dies ist eine zunächst unverständliche Metapher. Man muss sich hier nämlich fragen, welches Merkmal "unverheiratet" auf die Küche überträgt. "Unverheiratet" selbst kann es nicht sein, da Küchen rein objektiv gesehen nicht verheiratet sein können. Allerdings muss ich hier die Diskussion solcher sehr ungewöhnlichen rhetorischen Figuren auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Diese setzen mindestens noch die Einführung der Begriffe Isotopie und Kontext voraus, um sie angemessener beschreiben zu können. Für uns ist wichtig, dass der Text die konventionelle Definition der Küche eigentlich komplett missachtet. Die Küche der Großmutter dient (in diesem Text) nicht dem Zubereiten und Lagern von Speisen, sondern ist ein Ort der Resonanz, wobei die Resonanz mit der Erinnerung häufig kurzgeschlossen wird.
Wir können jetzt, anhand des Textes, die Küche folgendermaßen definieren:
Küche
[+ der Großmutter]
[+ schmal]
[+ hell]
[+ läuft quer auf die Bahnlinie zu]
[+ an guten Tagen: sich ausweiten]
[+ an schlechten Tagen: sich in sich zurückziehen]
[+ unverheiratet (wie eine wunderbare Jungfer, der die Seligpreisungen der Bibel galten)]
[+ abgeblättert]
[+ still]
[+ nicht zu schlagen]

Einige Anmerkungen zur lyrischen Definition

Bei einem ersten Lesen versuche ich möglichst dicht am Text zu bleiben. (Ich hoffe, dass mir das hier gelungen ist. Denn dieser Text von Aichinger treibt mich seit mittlerweile über zehn Jahren um; und ich weiß nicht genau, ob ich meine Lesarten gut vermitteln kann.)
Die lyrische Definition ist insgesamt eine sehr verkürzte Deutung, eher ein Einstieg in die Interpretation als die Interpretation selbst. Sie bezieht sich auf einen konkreten Text und missachtet eine lexikalische Definition oder die Begrifflichkeit in ihrem wissenschaftlichen Kontext (zum Beispiel eine Kulturgeschichte der Küche).
An der Definition selbst fällt auf, dass diese einmal eine Fallunterscheidung mit einbezieht (an guten Tagen, an schlechten Tagen), die über eine Opposition (sich ausweiten, sich zurückziehen) getroffen wird. Dies ist in dem ganzen Text keine unschuldige Entgegensetzung, sondern eine sehr bedeutsame.
Eine zweite Auffälligkeit ist der Vergleich, der die "kühne" Metapher "unverheiratete Küche" scheinbar argumentativ erläutert; dabei ist die Argumentation deshalb scheinbar, weil diese lyrisch, bzw. rhetorisch unterlaufen wird.
Ich versuche also in der Notation interpretatorische Unsicherheiten in irgendeiner Weise deutlich zu machen, soweit sie mir auffallen. Da es keine feststehende Notation gibt, gehe ich hier "frei Schnauze" vor.

Die Merkmale und die Isotopien

Die Seme bezeichnet man auch als bedeutungstragende Merkmale. Diese Seme kann man entweder konventionell definieren (das, was üblicherweise ein Semem ausmacht) oder über den Textzusammenhang erschließen (was ich oben als lyrische Definition bezeichnet habe).
Nun sind diese bedeutungstragende Merkmale nicht auf einzelne Sememe beschränkt, sondern können in einigen oder sogar vielen Sememen auftauchen. Zudem betreffen sie nicht nur einzelne Wörter, sondern auch Wortfolgen.
Die Worte bündeln diese Seme. Zugleich streuen sie sich über den Text aus, mal mehr und mal weniger. Nehmen wir zum Beispiel das Wort "Mohnbeugel", das sich als eines der wenigen Wörter in dem Text den Speisen zuordnen lässt und auch als Speise definiert wird (anders zum Beispiel als die Haselnuss). Das Sem [+ Speise] taucht in der Küche auf, aber auch im Mohnbeugel. Dadurch stellt sich eine Ebene der Bedeutungsgleichheit her, die in diesem Fall zum Beispiel auf die Küche, den Mohnbeugel, später die Beeren und einige, wenige, andere Wörter zutrifft. Trotzdem ist es das, was ich als Isotopie bezeichne (im Anschluss an Greimas): über ein gemeinsames Sem werden im Text Bezüge hergestellt. Diese Ebene der Bezüge ist immer homogen. Sie definiert sich aus dem gemeinsamen Merkmal.
Jeder Text weist eine Vielzahl solcher Isotopien auf, jeder Witz und Sinnspruch, jeder Roman und jede Tragödie, das persönliche Tagebuch ebenso wie der öffentliche Leserbrief. Mit einer sehr glücklichen Formulierung hat der französische Philosoph Roland Barthes dies als das "begrenzte Plurale" des Textes bezeichnet.

Interpretation

In einem ersten Durchgang der Interpretation bleibe ich also relativ dicht an der Oberfläche und sammle lediglich solche Isotopien und Textstellen, die eine einzelne Isotopie stützen.
Wo aber fange ich an? Welche Isotopie wähle ich zuerst aus? Dies kann man so gar nichts sagen: die Isotopien sind zunächst alle als gleichwertig zu fassen. Es gibt natürlich bestimmte Isotopien, die einen Text dominieren. So finden Sie in jedem Spannungsroman zahlreiche Stellen, die die Isotopie [+ gefährlich] stützen. Und im Gegensatz dazu gibt es in jedem Spannungsroman auch die Isotopie [+ bedroht] mit zahlreichen Belegen. Anders kann es ja gar nicht sein. Diese beiden Isotopien definieren geradezu den Spannungsroman. Trotzdem sind dies natürlich nicht die einzigen Isotopien, die in einem Thriller zu finden sind.
Es ist also eher ein Spiel zwischen Auffälligkeiten und Analysen, die die Interpretation eines Textes nach Isotopien ermöglicht, denn eine Hierarchie zwischen Wichtigem und Unwichtigem. Und es macht eine große Unsicherheit bei der Interpretation aus, denn der Interpret wird hier deutlich auf sich selbst zurückgeworfen. Er muss entscheiden, er muss irgendwo beginnen. Und dann mag es auch sein, dass gerade zu Beginn die Interpretation von verschiedenen Leuten so verschieden begonnen wird, dass man meint, man habe es mit unterschiedlichen interpretierten Texten zu tun.

Die Auswahl der Merkmale

Es gibt noch ein unsicheres, stark kreatives Moment bei dieser Analyse. So kann ich zum Beispiel aus dem Wort "Großmutter" die Isotopie "Großmutter" bilden und nachschauen, wo überall auf die eine Großmutter oder auf alle Großmütter angespielt werden. So könnte ich zum Beispiel aus dem Wort "Lager" eine Isotopie machen und danach Herta Müllers Roman "Atemschaukel" durchlesen; ich könnte aber auch aus dem Wort "Lager" das Merkmal [+eingeschlossen] ziehen und auf dieses hin den Roman durchlesen. Ja, ich kann sogar noch weitergehen, und aus diesem Merkmal wieder weitere Merkmale herausarbeiten, zum Beispiel [+Schwelle, bzw. Grenze] oder [+Türhüter/Wachmann]. Genauso könnte ich aus dem Wort "Großmutter" das Merkmal [+ alt] oder das Merkmal [+ dem Tode nah] oder das Merkmal [+ aus vergangener Zeit] ziehen. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesteckt, außer den Grenzen der einzelnen Wortbedeutung.

Die Gruppierung der Isotopien

Ich hatte oben schon angedeutet, dass es Isotopien gibt, die sich aufeinander beziehen. Zwei typische Isotopien hatte ich bereits genannt, nämlich [+ gefährlich] und [+ bedroht], die typisch für Spannungsliteratur sind. Diese beiden hängen mit zwei weiteren typischen Isotopien zusammen, [+ gut] und [+ böse]. Typischerweise eignet sich aber auch der zunächst bedrohte, gute Held im Laufe des Romans "gefährliche" Eigenschaften an, wodurch er die Bedrohung nach und nach umdrehen kann. Und so zeichnen sich Endkämpfe in Spannungsromanen dadurch aus, dass der Zusammenhang zwischen den Isotopien [+ gefährlich] / [+ bedroht] und [+ gut] / [+ böse] umgedreht wird.
Häufig jedenfalls, nicht immer. In manchen Gespensterromanen entkommt der Held einfach der feindlichen Umgebung. Und in diesem Sinne könnte man sogar einen Thriller wie "Jurassic Parc" als einen Gespensterroman bezeichnen, einfach, weil die Helden ihrer feindlichen Umgebung entkommen, aber nicht den Gegner besiegen.
Eine erste Möglichkeit (und die einfachste) besteht in der Opposition von Isotopien. Eine zweite Möglichkeit ist die Gleichschaltung solcher Oppositionen. Solche Gleichschaltung findet man zum Beispiel häufig auch bei den Oppositionen [+ Mann] / [+ Frau], [+ intellektuell] / [+ emotional], [+ extravertiert] / [+ introvertiert], und so weiter. Diese stehen häufig nicht alleine, sondern werden durch weitere Oppositionen gestützt, teilweise in schwankender Form (das muss man dann bei der einzelnen Analyse entscheiden), teilweise auch ironisch.
Schließlich gibt es auch typische Gruppierungen, die aus der Kultur vorgegeben sind, zum Beispiel die vier Elemente, aus denen sich die Isotopien [+ Erde], [+ Luft], [+ Wasser] und [+ Feuer] ziehen lassen. Eine andere vierstellige Gruppierung sind die Jahreszeiten. Dreistellige Gruppierungen während zum Beispiel Vater, Sohn und Heiliger Geist oder die drei klassischen Stände der Feudalgesellschaft: Adelige, Geistliche und Bauern.

Architektur und Land, Vermischung und Nichtberührung

Solche Gruppierungen werden aber nicht nur kulturell vorgegeben, sondern gerade auch in modernen, lyrischen Texten individuell geschaffen. So gibt es in dem Aichinger-Text eine dreistellige Gruppe von [+ Architektur], [+ Land] und [+ Formen der Vermischung].
Zur Architektur gehören zum Beispiel die "Küche meiner Großmutter", das "Waffenarsenal, das am Ende der Gärten stand", die "Schule", und so weiter. Zum Land gehören "der stille, östliche Himmel", die "Gärten", die "vielen Erdteile", die "Parkluft", usw.
Schließlich gibt es die Formen der Vermischung:
"An ihren guten Tagen setzte sie [die Küche] sich auch darüber hinaus [die Bahnlinie] fort, in den stillen, östlichen Himmel hinein.",
"…, die Bahn bewegte alles. Sie rührte die staubigen Muscheln in der Lade meines Großvaters, als wäre sie die See, und sie brachte die ziegelroten, nie benützten Mokkatassen zum Klirren, als wären sie eine größere Gesellschaft.",
"Sie [die Schüler] brachten mit den Bällen, die sie noch in Netzen über den Schultern trugen, die Parkluft mit, die Nachmittagsluft, …"
Diese Gruppierung ist deshalb so wichtig, weil die Isotopie [+ Vermischung] mit einer ganz anderen Isotopie in Verbindung tritt, der [+ Nichtberührung]. So ist allein schon der Titel darauf aufgebaut: "Kleist, Moos, Fasane" berühren sich, weil sie nebeneinanderstehen und trotzdem berühren sie sich nicht, weil es gar keinen gemeinsamen Sinn ergibt, kein offensichtlich gemeinsames Merkmal. Diesen Nichtzusammenhang erklärt Aichinger dann folgendermaßen:
"… oder gegen die Kleistgasse zu, die vielleicht deshalb so hieß, weil nichts darin an Kleist erinnerte oder weil niemand, der dort wohnte, etwas von ihm wusste. Und das wäre ja Grund genug. Dass Kleist mit Fasanen zusammenhing, mit Moos und mit der Bahn, wer hätte es sich träumen lassen, wenn nicht er selber und die Kinder dieser Gegend, die in der Moosgasse wohnten, in der Fasangasse, in der rechten und linken Bahngasse." (Seite 11 f.)
Und später:
"Einmal jede Woche Turnen, Handarbeit oder Gesang, drei Dinge, die nur, solange die Schule dauerte, zusammenhingen wie noch viel früher Kleist mit Moos und Fasanen." (Seite 13),
"Es war uns wohl, als müssten wir selbst zusammenhalten, was sonst zerfiel, die zarten Grenzen unserer Welt: Turnen, Handarbeit und Gesang." (Seite 14)
Und Sie sehen hier schon, wie komplex sich in einem lyrischen Text Isotopien überlagern und miteinander korrespondieren können. Und wie sehr die Interpretation schon alleine auf dieser Ebene von dem Geschmack des Interpreten abhängt.

Noch einmal: der Interpretant

Wir können jetzt deutlicher sagen, dass Merkmale einzelner Sememe (Wörter) zu den Interpretanten gehören, da diese jenseits der Sätze und der Satzlogik Bezüge herstellen (die wir Isotopien genannt haben). Ebenso gehören zu den Interpretanten (kulturell vorgegebene) Oppositionen, die bei der Interpretation von Texten ebenso eine wichtige Rolle spielen, genauso wie typische Gruppen, die als Teil eines Ganzen verstanden werden (die vier Elemente, die vier Jahreszeiten, die drei Grundfarben, die sieben Tage der Woche, die zwölf Monate, die zwölf Sternzeichen, die acht basalen Emotionen, usw.).

Auf diese Aspekte möchte ich in einigen Beispielen genauer eingehen. Allerdings möchte ich mich hier zuerst bei den Verlagen rückversichern, dass ich auch einige längere Textpassagen zitieren darf (was gerade bei Kurzprosa ein Problem ist, da man rasch ein halbes Werk zitiert, wenn es nur eine dreiviertel Seite lang ist und damit deutlich über der Grenze liegt, die ein Zitat noch eindeutig als Wahrung des Urheberrechts ausweisen).

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