19.06.2008

Hyperaktivität; oder: Fragestellungen entschleunigen

Gerade lese ich - in Das World Café -, dass ein großes Problem jeder Lösungsorientierung ist, dass man zu schnell in Aktivität verfällt.
Ich habe dies selbst erlebt: von der Schulbehörde aus wurde eine Projektwoche zur politischen Bildung ausgerufen. Politische Bildung ist, so steht es im Berliner Schulgesetz, oberstes Ziel der Schulbildung. Nun wurde eine Konferenz abgehalten, wer was macht. Ich selbst hatte mich zwar längere Zeit mit politischer Bildung beschäftigt, aber genau genommen konnte ich nicht sagen, was das nun sein soll. Viel schlimmer: dadurch, dass mir nicht ganz klar war, was politische Bildung ist, fehlte mir eine Möglichkeit, dies zu operationalisieren. Viele Lehrer haben auf das zurückgegriffen, was - scheinbar - am naheliegendsten ist: politische Bildung ist, wenn man über Politik ein Projekt macht, sei es, dass man ins jüdische Museum geht, sei es, dass man noch einmal die Bundestagswahlen behandelt.
Aber politische Bildung muss ja mehr sein: Teilnahme an einem demokratischen Leben, zu dem der klassische Schulunterricht durchaus nicht gehört.
Jedenfalls hatte ich keine Ahnung, was sich die Kollegen unter politischer Bildung vorstellten. Verhandelt wurde es jedenfalls nicht. Es wurde auch nicht mit den Schülern verhandelt. Ihre Teilnahme an diesem Mikroprozess war das Mitmachen(-müssen).
Wie dem auch sei: die Aktivität war eher eine Hyperaktivität. Jeder geplante Unterricht muss sich auf geklärte Begriffe stützen, bzw. die Klärung von Begriffen in Szene setzen (wenn der Lehrer denn so mutig ist zu sagen, dass er selbst einen Begriff nicht so genau kennt und die Hilfe der Schüler benötigt, um hier auf seinem persönlichen Weg ein Stück weiter zu kommen).
Eine weitere Ursache dieser Hyperaktivität dürfte sein, dass man viele Planungsfragen in Problemkonstellationen erfasst, zum Beispiel, dass die Schüler nicht genügend politisch gebildet sind. Womöglich stecken dann auch noch Katastrophenszenarien dahinter, wie gerade passierte rechtsradikale Übergriffe oder ähnliches.
Begriffe sind aber nunmal erst sozial, wenn sie sozial verhandelt worden sind, das heißt, wenn sie in einer größeren Gruppe noch einmal neu gestaltet und ausformuliert worden sind. Diese Arbeit an der Begriffsbildung verlangt ein gehöriges Maß der Fähigkeit, sich zurücknehmen zu können und sich, selbst wenn man meint, man weiß schon etwas, neugierig und offen gegenüber den Gesprächsteilnehmern zu verhalten. Man braucht hier vor allem die Bereitschaft zu lernen und eine ethische Disposition: die, dass jeder Mensch einen neuen Aspekt, eine weitere sinnvolle Perspektive zu einem Thema beitragen kann, sei es durch Klärung, sei es durch Zusammenfassung, sei es durch Übertragung und Transfer, oder eben -: Abweichung (ein kreativer Aspekt, bei dem man auch Sackgassen respektieren und schätzen sollte).
Das englische Wort "question" stammt von der Wurzel "quest"=Suche ab. Fragen heißt, etwas suchen (und ich mag hier jetzt keine neunmalklugen Antworten hören: ja, suchen, ob der Schüler weiß, was man ihm beigebracht hat).
Das World Café ist ein solches Forum. Hier werden Fragen offen und, das war das Neue für mich, ohne Problemhintergrund formuliert: es geht nicht darum, etwas besser zu machen, sondern nur darum, etwas auch mal anders zu machen. Der aktuelle Zustand wird nicht diskriminiert. Hintergrund dieser Entproblematisierung ist, dass die Frage damit nicht unter Zeitdruck, auch nicht unter einer Lösungsorientierung steht. Beides verhindert - wenn auch nicht immer - kreative Umwälzungen, in denen eine Idee plötzlich in eine ganz andere Richtung davonschießt. Und dadurch vielleicht einen Weg öffnet, der bisher so noch nicht gesehen wurde.

Brown, Juanita/Isaacs, David: Das World Café. Kreative Zukunftsgestaltung in Organisation und Gesellschaft, Heidelberg 2007

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