15.06.2009

Kreativität

Das ist ein hochspannendes Thema. Tatsächlich ist nicht nur die neurophysiologische, bzw. psychische Herkunft der Kreativität ein recht umstrittenes Gebiet. Auch die soziale Funktion wird recht unterschiedlich betrachtet.

Gerhard Roth (nach Asendorp)

Hier eine Liste mit Merkmalen der Kreativität (aus Fühlen, Denken, Handeln, S. 190):
  • sprachliche "Begabung" (Anführungsstriche von mir)
  • schnelles Erkennen des Problems
  • rasches Hervorbringen unterschiedlicher Ideen, Symbole und Bilder
  • Flexibilität des Denkens, Wechsel der Bezugssysteme, Finden von Alternativen
  • Um- und Neuinterpretation gewohnter Dinge und Wege
  • schnelles Erfassen der Realisierbarkeit allgemeiner Pläne
  • seltene und unkonventionelle Gedankenführung und Denkresultate

Problemlösen, Bildung, emotionale Kompetenz

Auch Woolfolk setzt die Kreativität in ein enges Verhältnis zum Problemlösen (Pädagogische Psychologie, S. 373ff.).
Einen ganz anderen Aspekt macht die Allgemeinbildung aus: diese wird in Umschreibungen wie "unterschiedliche Ideen" oder "Wechsel der Bezugssysteme" angespielt. Damit man Unterschiede rasch produzieren kann, damit man verschiedene Disziplinen schnell aufrufen kann, braucht man eine gute, verschiedene Disziplinen umfassende Bildung.
Eine dritte, oft genannte Bedingung ist die emotionale Kompetenz. Damit ist nicht die emotionale Intelligenz gemeint. Die emotionale Intelligenz ist ein recht heilloses Sammelsurium aus Persönlichkeitsfaktoren, emotionalen und kognitiven Kompetenzen und sozialpsychologischen Prozessen (bei denen nie 1 Mensch "intelligent" ist). Lassen wir die Kirche hier im Dorf und den Daniel Goleman in der Bibliothek versauern. Die klassische Psychologie hilft hier, um hier genügend Differenzierung einzuführen. Goleman misslingt das gründlich. Seine Unschärfen haben den Nachteil, dass sie sich 1. kaum beobachten lassen (nur "digitale" Unterschiede lassen sich reproduzieren) und 2. schlecht sprachlich mitgeteilt werden können (hier greift dann die genauso wolkige Definition der "Metapher").
Emotionale Kompetenz ist nun so ein Fall für sich. Das Gebiet ist weit gesteckt und reicht von evolutiven Ansätzen über neurofunktionale Forschungen bis hin zu psychosozialen Erklärungen.
Für die Kreativität scheint aber eine dynamische, flexible und reflektierbare Emotionalität sehr wichtig zu sein. Ich neige dazu, Emotionen als strukturierende Funktionen im Arbeitsgedächtnis zu sehen. Es sind sozusagen Wegweiser für den kognitiven Prozess.

Gabe

Ganz anders sieht deCerteau (Die Kunst des Handelns) die Kreativität. Bei ihm vernichtet die Kreativität die Verpflichtung der Gabe, genauer gesagt den axiomatisierten Tausch. Die Kreativität gibt zu viel und aus diesem Grunde auch zu wenig. Genauer fällt sie aus dem kalkulierten Tausch heraus.

Ordnungen des Handelns

Waldenfels (Grenzen der Normalisierung, S. 90ff.) sieht die Kreativität in Bezug auf drei klassische Handlungstheorien. Diese Handlungstheorien sind 1. Handlungen als Weg zum Ziel und eine Zielordnung (Aristoteles), 2. Handlungen als Fall eines Gesetzes und eine Normenordnung (Kant) und 3. Handlungen als Glied einer Kausalkette und eine Kausalordnung (Hume).
Die Kreativität bezieht sich nun auf diese Ordnungen und zwar einmal als innerhalb dieser Ordnung die Grenzen ausnutzend und einmal die Grenzen der Ordnung überschreitend. Die Kreativität, die innerhalb der Ordnung bleibt, nennt Waldenfels dann relativ, während die Kreativität, die die Ordnung überschreitet, eine radikale sei.
Als Beispiel: kreative Handlungen innerhalb einer Zielordnung wollen das Ziel erreichen, gehen aber einen ungewöhnlichen Weg. Dies wäre der Fall, wenn man das Gute erreichen will und dafür Mittel einsetzt, die seltsam, befremdlich oder bizarr erscheinen. Radikales kreatives Handeln hieße, die Zielordnung außer Kraft zu setzen, bzw. Ziele anzustreben, die nicht in der Zielordnung vorkommen. Wenn die Zielordnung das Gute, Sittliche, Angenehme vorgibt, gehen der Verbrecher, der Perverse und der Asket radikal kreative Wege. - Ähnlich ist es mit den anderen Handlungsordnungen.
Besonders interessant erscheint mir hier die Kausalordnung. In der Kausalordnung der Handlungen haben sich in einer Kultur Metonymien etabliert (also Gewohnheiten im weitesten Sinne), die gleichsam das sinnbegleitende Unternehmen zu den Handlungen sind. Wird nun diese Handlungsabfolge kreativ aufgebrochen, entstehen metaphorische Wirkungen, sprunghafte und überraschende Gebilde, die sich nicht durch semantische Nachbarschaft, sondern durch ungesagte Vergleiche und Ersetzungen regeln. Die Metapher bildete dann einen Quell von Metonymien, und die Metapher "stirbt" dadurch, dass man sich an sie gewöhnt und sie so nicht mehr als Sprung, sondern als Nachbarschaft empfindet.

Spirituelles Unbewusstes

Bei Osho steht die Kreativität der Phantasie gegenüber. Die Phantasie lenkt die Gedanken in die Zukunft und die Vergangenheit. Sie vermeidet die Gegenwart. Deshalb sagt Osho, Phantasie sei in der Gegenwart nutzlos. Dagegen ist die Kreativität das schöpferische Spirituelle, das sich auf die Wirklichkeit bezieht, bzw. indem sich das schöpferische Spirituelle auf die Wirklichkeit bezieht, entsteht Kreativität.
Osho verdoppelt das Unbewusste. Er sieht zunächst unterhalb des Bewusstseins ein psychisches Unbewusstes, das er eng an Freud anzulehnen scheint. Darunter gibt es aber ein zweites Unbewusstes, ein spirituelles Unbewusstes, das eine gewisse lockere Nähe zu Carl Gustav Jung hält. Dieses spirituelle Unbewusste ist nicht mehr personal, sondern kosmisch. Die Meditation zielt auf dieses tiefer sitzende Unbewusste ab.
Die Verbindung mit diesem spirituellen Unbewussten kann nicht "erreicht" werden. Es ist kein Ziel, sondern eher ein Freisetzen durch Nicht-Ziele. So ist der Weg zu diesem Freisetzen auch nicht zeitlich zu fassen, sondern unzeitlich. Unzeitlich heißt in diesem Fall, dass die Gegenwart nicht durch Zukunft und Vergangenheit eingefasst wird, sondern sich quasi-unendlich erstreckt. Diese Vorstellung muss man unbedingt vollkommen antiplatonisch lesen. Bei Platon sind die Ideen ewig und das heißt natürlich zeitlos, aber so kommen von außerhalb zum Menschen. Bei Osho dagegen sind die Ideen dynamisch, referieren aber nicht auf ihr eigenes Entstehen und Vergehen und können deshalb keine Zeit in sich abbilden. Bei Platon fehlt die Beteiligung des Menschen an den reinen Ideen, während bei Osho den Ideen die Markierung einer chronologischen Zeit fehlt. Die platonischen Ideen sind unveränderlich und deshalb zeitlos, den Ideen Oshos fehlt das Bewusstsein für Zeit: sie sind dynamisch, erscheinen aber in der Gegenwart als unendliche.
Die Kreativität nun entsteht aus diesen spirituellen Ideen (Osho nennt sie allerdings nicht Ideen). Das spirituelle Unbewusste entfaltet sich in der Gegenwart an der Wirklichkeit, verwirklicht sich hier und genießt sich in diesem Sich-Verwirklichen. Die Erfahrung der sinnlichen Realität fällt ineins mit dem Sich-Erfahren. Prozess und Resultat, Handlung und Werk vernetzen sich in einer Gleichzeitigkeit so miteinander, dass trotzdem beide Seiten unterscheidbar bleiben.
Die Nähe dieser Betrachtungsweise zur kulturhistorischen Schule (Leontjew, Wygotsky, Luria) ist deutlich: dort ist es die Handlung, die Subjekt und Objekt trennt, also Werk und Mensch. Die Handlungen bilden eine Kette, einen offenen Prozess, durch den eine fortlaufende Trennung und Verflechtung von Subjekt und Objekt geschieht, ähnlich wie dies die Kreativität bei Osho für Wirklichkeit und spirituelles Unbewusstes tut.

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