15.06.2009

Gewalt - Reichtum, Sinnlichkeit, Codierung

Eine kleine Konstellation aus Zitaten (bei Walter Benjamin ist die Idee selbst nicht darstellbar: die Idee ist eine Konstellation aus Phänomenen, und diese Phänomene lassen sich wieder begrifflich darstellen: deshalb kann die Idee nur durch Konstellation, nicht aber "an-sich" beschrieben werden):

Es zeuget gern Übermut alter Zeit Übermut fort und fort,     
Der im Leide grünt und reift -     
Sei's heut, sei's morgen, wenn nur erst die rechte Stunde kommt -,     
Den unüberwindlichen, den allverhassten, den Abscheu des Sonnenlichts, in des Geschlechts     
Nachtdunkler Schuld göttervergessne Frechheit,     
Wieder dem Vater ähnlich!
Doch Dike strahlt unter armselgem, rauchschwarzem Dach,     
Ehret frommes Leben hoch;     
Wer aber goldgewirkte
Pracht mit schmutzger Hand sich webt,     
Da flieht des Vaters hehre Tochter, den Blick abgewandt, des Reichtumes Gewalt,     
Von feilem Lob falsch gemünzt, verachtend;     
Jegliches probt am Ziel sie!
Sophokles, Agamemnon

Nicht wenige Schäden, sogar Zerstörungen und Verheerungen, richteten die Bilder, so wurde allgemein erzählt, aber an im privaten Leben. Dort nämlich gaukelten sie, hieß es, gewaltig. Das Strahlen, oder der Glanz, der, mit ihnen zusammen, von ihr, der Frau, ausging, konnte in den Augen des oft zufälligen Gegenüber nur Huld nein, Versprechen, Bereitschaft, Hingabe sein. Nichts Helleres, Offeneres, Nackteres als das Gesicht dieser mir unversehens zugewandten Fremden in seinem jedes Frauenlächeln übersteigenden Glanz. Begehren, Liebe, Barmherzigkeit: all das in einem. Dann freilich der Rückprall. Der Glanz jedoch blieb. Und das war es, das uns getäuschte Liebhaber entweder zu Rasenden oder zu Kümmerern oder zu beidem machte. Und da Gewalt bei ihr, der Frau!, nicht in Frage kam, mussten Schmähen und Lästern her. »Du hast dein Versprechen nicht gehalten.« - »Du hast mich betrogen.« - »Du führst jeden hinters Licht.« - »Sie ist die Leere und Kälte in Person.« »Sphinx, die uns mit leuchtenden Augen in den Abgrund fallen sieht.«
Handke, Peter: Der Bildverlust, S. 26

Gewisse Länder sind imstande, ihre Eigentumsverhältnisse noch mit weniger gewalttätig wirkenden Mitteln aufrechtzuerhalten als andere. Ihnen leistet die Demokratie noch die Dienste, zu welchen andere die Gewalt heranziehen müssen, nämlich die Garantie des Eigentums an Produktionsmitteln. Das Monopol auf die Fabriken, Gruben, Ländereien schafft überall barbarische Zustände; jedoch sind diese weniger sichtbar. Die Barbarei wird sichtbar, sobald das Monopol nur noch durch offene Gewalt geschützt werden kann.
Brecht, Bertolt: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, in: GW 18, S. 227

In diesem Sinne also ist der Charakter des Todes im Schicksalsdrama ganz verschieden von dem sieghaften Tode des tragischen Helden. Und eben diese Verfallenheit des verschuldeten Lebens an die Natur ist es, die in der Hemmungslosigkeit seiner Leidenschaften sich kundgibt. Die Gewalt, welche die leblosen Dinge im Umkreis des schuldigen Menschen zu dessen Lebzeiten schon gewinnen, ist der Vorbote des Todes. Die Leidenschaft setzt die Requisiten in Bewegung; diese sind gleichsam nur die seismographische Nadel, welche die Erschütterungen des Menschen verzeichnet.
Benjamin, Walter: "El mayor monstruo, los celos" und "Herodes und Mariamne", in: GW II,1, S. 267

Worin wir am feinsten sind. - Dadurch, dass man sich viele Tausend Jahre lang die Sachen (Natur, Werkzeuge, Eigentum jeder Art) ebenfalls belebt und beseelt dachte, mit der Kraft zu schaden und sich den menschlichen Absichten zu entziehen, ist das Gefühl der Ohnmacht unter den Menschen viel größer und viel häufiger gewesen, als es hätte sein müssen: man hatte ja nötig, sich der Sachen ebenso zu versichern, wie der Menschen und Tiere, durch Gewalt, Zwang, Schmeichelei, Verträge, Opfer, - und hier ist der Ursprung der meisten abergläubischen Gebräuche, das heißt eines erheblichen, vielleicht überwiegen den und trotzdem vergeudeten und unnützen Bestandteils aller von Menschen bisher geübten Tätigkeit! - Aber weil das Gefühl der Ohnmacht und der Furcht so stark und so lange fast fortwährend in Reizung war, hat sich das Gefühl der Macht in solcher Feinheit entwickelt, dass es jetzt hierin der Mensch mit der delikatesten Goldwaage aufnehmen kann. Es ist sein stärkster Hang geworden; die Mittel, welche man entdeckte, sich dieses Gefühl zu schaffen, sind beinahe die Geschichte der Kultur
Nietzsche, Friedrich: Morgenröthe, in: KSA 3, S. 34f.

Ein Künstler ist derjenige, bei dem der Augenblick der größten Leidenschaft mit dem der größten Klarheit zusammenfällt. Die Dilettanten ermessen die Gewalt eines Eindrucks daran, dass ihnen die Tabakspfeife ausgeht. Der Mut des Künstlers besteht darin, dass er denkt. Dieses Denken ist bei dem Grad leidenschaftlichen Gefühls, dem er ausgesetzt ist, gefährlicher als alles. Was die Reinheit der Kunst betrifft, so hat sie mit der Sauberkeit ihres Materials nichts zu tun, und die Unschuld hat wie beim Weib viele Grade und ist nichts, was man verlieren, sondern eher etwas, was man gewinnen kann.
Brecht, Bertolt: Heiterkeit der Kunst, in: GW 15, S. 120f.

Physische Gewalt ist dasjenige Drohmittel, das sich am besten zur Erzeugung des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Macht und zugleich (und auf dieses »zugleich« kommt es in der Evolution an) zur Ausdifferenzierung eines spezifischen Funktionssystems für Politik eignet, das später den Namen »Staat« erhalten wird. Physische Gewalt ist nämlich in besonderem Maße organisationsfähig - wenn man sie etwa vergleicht mit dem Besitz von Informationen, deren Bekanntgabe für andere unangenehm sein könnte. Der Machthaber braucht die physische Gewalt nicht selbst auszuüben. Es muss nur plausibel sein, dass er sie durch andere (durch Diener, durch Polizei, durch Militär) ausüben lassen kann. Der Machthaber selbst kann für andere Aufgaben freigestellt werden. [...].
Schränkt man das Thema der Untersuchung auf das politische System ein, dann liegt es nahe, Macht, ähnlich wie Geld, als Mittel für noch undefinierte Zwecke anzusehen. Drohung mit physischer Gewalt kann so viel Verschiedenes bewirken, dass man einen Erzwingungsapparat aufbauen kann, ohne sich im Voraus schon auf die Politik festzulegen, die man damit im Einzelnen durchsetzen will. Macht in diesem Sinne ist ein generalisiertes Potential, ein generalisiertes Medium, und dieser Zuwachs an Möglichkeiten und an Bedarf für interne Einschränkung ihres Gebrauchs fällt im politischen System an.
Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft, S. 55f.


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