Loet Leydesdorff schrieb:
It seems to me that the processing of meaning itself does not require physical space except for the coupling on the processing of information. In our thinking and discourse we need spatial metaphors because we can otherwise not think about processing. The spatial metaphors can be elaborated into mathematical topologies.Das halte ich für eine schwierige Behauptung:
1. Luhmann selbst verweist auf räumliche Objekte - Skulpturen, Architektur -, die im Kunstsystem Kommunikation ausprägen. Der Raum taucht also, wenn auch eher indirekt, als kommunikative Größe wieder auf.
2. In Interaktionen sind räumliche Bezüge wichtig: ob ich mich in einer Kirche, in einer Eckkneipe oder bei meiner Eltern während des Abendessens am Gespräch beteilige, macht deutliche Unterschiede. Natürlich sind diese Unterschiede nicht dem Essen, das meine Mutter gekocht hat, oder dem Esstisch immanent, sondern flaggen hier Erwartungshaltungen aus (SozSys 362ff), die eigentlich woanders herkommen. Und natürlich kann ich sofort über funktionale Äquivalenz diesen Bezug zum Esstisch aufbrechen, allerdings nur zum Preis, dass ich meine Mutter und mich unter den Tisch fallen lasse. – Aber wenn ich mich in empirisch kleinen Situationen bewege, geht das natürlich nicht so einfach. Der Esstisch spielt einfach eine Rolle – auch wenn er nur Erwartungen ausflaggt, die von woanders her kommen. Wollen meine Brüder und ich zotige Reden schwingen, müssen wir zur Couch wechseln.
3. Es ist auch nicht egal, wo jemand spricht. Räume sind mit Erwartungen besetzt und natürlich kommen diese Erwartungen nicht aus den Räumen selbst. Aber Kirchen funktionieren nur so lange, solange sie einen Raum mit bestimmten Stereotypen belegen, mit Wänden, Bänken, Kanzel, Altar, möglichst Buntglasfenstern und Heiligenstatuen. Prediger außerhalb von Kirchen werden, wie gesagt, mit Befremden angesehen.
4. Insofern sind Räume a) Hilfen zur Reduktion komplexer Erwartungen: in einer Schulklasse kann man von einem Lehrer eben Unterricht erwarten und nicht, dass er über die Bratwurstversessenheit seines Partners schimpft; b) in Bezug auf Erwartungen eher Katachresen als Metaphern: die Erwartungen werden ja nicht ersetzt, sondern fremdartig umgebildet.
5. Insofern ermöglichen Räume – häufig, aber nicht immer – zwar auch das „coupling of the processing of information“, aber sie konditionieren auch das Wie?, geben also Prozessmuster vor. Ob ein Chirurg mit einem Skalpell in einem Operationssaal oder in einem dunklen, unheimlichen Park auftaucht, signalisiert eben den Unterschied zwischen einer Arztserie und einem Horrorfilm, zwischen der Erwartung einer Heilung und eines Mordes.
6. Raumsoziologien zäumen oft das Pferd von hinten auf: der Raum wird als feste Größe gesetzt, dann die Programme (Skripte, bzw. koordinierte Handlungsabfolgen - siehe SozSys 432) beschrieben, die Menschen in diesen Räumen vollziehen. Auch wenn versucht wird, den Raum nicht-positivistisch zu fassen, bleibt der Umkehrschluss, dass Programme Räume erzeugen, halbherzig. Die Diskussion in der Raumsoziologie, ob es absolute und relative Räume gibt oder nur absolute oder relative Räume, stellt sich meiner Ansicht garnicht: Räume sind zunächst Kondensationen von Erwartungshaltungen. Diese Erwartungshaltungen sind immer relativ zu anderen Erwartungshaltungen. Insofern sind absolute Räume nur Räume, die als absolut erwartet werden. Demnach enstehen absolute Räume vor allem dort, wo Erwartungsänderungen entmutigt werden. Es dürfte einigen Aufwand vorher und viel Ärger hinterher bedeuten, wenn ich den Bundestag abreißen möchte. Auch das Universum lässt sich nicht so leicht erobern - die meisten Versuche dieser Art sind fingiert.
7. Luhmann schreibt, dass Erwartungen "Episoden des Bewusstseinsverlauf" begründen (SozSys 362). Episoden! - nicht: Räume. Die Frage wäre hier also, welche Episoden, welche Arten von Episoden sich gegeneinander ausdifferenzieren lassen, die dann Räume konstituieren. - Wenn ich an Erzählungen denke, dann gibt es (mindestens) zwei Arten: die Beschreibung, deren "Leim" die (spatialen) Präpositionen sind; die Schilderung, deren "Leim" die Handlungen sind.
8. Luhmann schreibt auch, dass sich Erwartungen zu Ansprüchen verdichten können (SozSys 363f). Hier haben wir die Möglichkeit, relative und absolute Räume systemtheoretisch gegeneinander auszudifferenzieren. Beide Raumarten, die, die man erwartet, und die, auf die man einen Anspruch zu haben glaubt, sind natürlich relativ. Nur in Bezug auf ihre Flüchtigkeit unterscheiden sie sich. Ein absoluter Raum ist ein Raum, der nicht so leicht verschwindet. Luhmann schreibt allerdings auch, dass die Grenze zwischen Erwartung und Anspruch "flüssig und verschiebbar" sei (SozSys 364).
9. Wenn Episoden tatsächlich Räume konstruieren, gleichsam nebenbei "ausschwitzen", dann müsste sich plausibilisieren lassen, dass unterschiedliche Episoden aus ein- und derselben Lokalität unterschiedliche Räume herausziehen. - Wenn man schon Raumsoziologie betreibt, dann wäre dies der Ansatz, der mir am vielversprechendsten erscheint. Übrigens: Foucault schlägt ja mit seinem Begriff der Heterotopie etwas ähnliches vor. In der Heterotopie vermischen sich zwei konträre, teilweise krisenhaft entgegengesetzte Orte.
SozSys = Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1988
Loet Leydesdorff: Mitteilung in der Mailingliste zur Systemtheorie Luhmann, 2007
Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen, Frankfurt am Main 2006
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