10.09.2016

Die Wahrheit einer Insel

Es ist faszinierend, dass das ganze Internet mittlerweile voll ist von der Suche nach Kriterien der Wahrheit, sozusagen nach der Wahrheit der Wahrheit. Gegen ein solch selbstreferentielles Verhalten hilft nur eine gesunde Oberflächlichkeit. Streichen wir das Wort gesund, denn das würde ja bedeuten, dass es irgendwie auch einen Gegenbegriff dazu gäbe, also eine Krankheit.

Julia Schramm

Spezialistin

Aus irgendeinem Grund bin ich dann auf Julia Schramm gestoßen. Nein, es war eigentlich ganz einfach: irgend ein Kommentierender hat auf Julia Schramm verwiesen. Julia Schramm war früher bei den Piraten, heute ist sie bei den Linken (so habe ich das zumindest gehört), und ist „Spezialistin“ für Hate-speech im Internet. Spezialistin habe ich in Anführungsstriche gesetzt, weil ich mit diesem Wort nicht sonderlich viel anfangen kann. Wenn jemand mehr Spezialist in einer Sache ist als ich selbst, kann ich es nicht nachprüfen, und falls es umgekehrt sein sollte, wird sich, zumindest in geistes- und sozialwissenschaftlichen Gebieten, trotzdem keine vollständige Überschneidung ergeben: der andere bleibt weiterhin als Gesprächspartner interessant. Aber das nur so am Rande.

Diskurstheorie

Was mich dann noch interessiert hat, das war, was Julia Schramm zum Poststrukturalismus geschrieben hat. Dazu hat sie einen Artikel geschrieben, in dem sie dann auf die Diskurstheorie verweist (Nazis und Poststrukturalismus). Das war das erste, was mich an diesem Artikel gestört hat, denn die Diskurstheorie ist keineswegs deckungsgleich mit dem Poststrukturalismus, so wie der Poststrukturalismus in sich selber aus sehr unterschiedlichen Protagonisten besteht, die sehr unterschiedliche Werke geschaffen haben. Auf wen sich Julia Schramm bezieht, ist nicht auszumachen.

Statik

Ein Problem, was den Poststrukturalismus eint, ist, dass alle Autoren Probleme mit einem statischen, geschichtsvergessenen Denken haben. Allerdings ist die Haltung der Poststrukturalisten hier deutlich schwieriger, als einfach nur an eine Rückkehr zur Geschichte und Geschichtsschreibung zu glauben. Vor allem ist die Haltung aber gegen eine bestimmte Art des Strukturalismus gewandt, die die von Claude Lévi-Strauss ausgearbeitete Methode als Theorie begriff. Lévi-Strauss selbst hat die strukturalistische Methode dazu benutzt, um umfangreiche Modelle zu erstellen. Er hat aber gleichzeitig deutlich gemacht, dass diese Modelle nicht die Wirklichkeit beschreiben, sondern Hilfsmittel sind, um die Wirklichkeit zu betrachten.
Was Julia Schramm in ihrem Artikel dann macht, ist der Versuch, eine Merkmalsliste aufzuschreiben, welche Elemente zu einem nationalsozialistischen Diskurs gehören. Das ist nicht falsch (weder von der Methode her noch inhaltlich), aber doch recht statisch gedacht. Es gibt Dynamiken, in die Menschen hineingeraten und durch die sie dann gar nicht anders können, als bestimmte Elemente, eben auch faschistische, zu wiederholen; und es braucht Zeit, um sich davon zu distanzieren. Ich will damit sagen, dass faschistisches Denken durchaus nicht so einfach zu erfassen ist, wie Julia Schramm das hier zum Besten gibt.

Natürlichkeit

Nehmen wir zum Beispiel die Natürlichkeit. Julia Schramm schreibt:
Dass es eine natürliche Ordnung gibt, die Menschen befolgen sollten (Hierarchien, etc.)
Nun ist das gar nicht so einfach mit dieser natürlichen Ordnung, selbst bei Nazis nicht. Denn offensichtlich herrscht bei diesen „naturalisierten“ Deutschen eine große Verwirrung darüber, was überhaupt Deutsch sein soll. Das ist ja meine ewige Klage: es ist nichts aus ihnen herauszubringen außer einer Art Tautologie, dass deutsch eben das sei, was deutsch ist. Solche Tautologien tauchen meist in erweiterter Form auf, nämlich als Umweg über den anderen, der eben nicht-deutsch sei (siehe auch: Gauck und Lewitscharoff und die Bio-Politik).
Es gibt wohl Strategien der Naturalisierung und der Denaturalisierung, des Verwahrheitlichens und Verlügnens, nur ist das, was sich dahinter immer wieder in Szene setzt, dass das Sprechen über etwas schon das Sprechen aus einer bestimmten Position heraus erforderlich macht. Und auch Julia Schramm spricht von einer Position aus, die sie wahrscheinlich nicht als natürlich bezeichnen würde, aber eben doch als vernünftig, oder, wie sie schreibt, „intellektuell“. (Das ist übrigens noch so ein Begriff, den ich nie begriffen habe.)
Dummerweise wird damit der Begriff der Natürlichkeit selbstreferentiell. Plötzlich wird es natürlich, die Natürlichkeit zu kritisieren. Und so dümmlich es auch ist, wenn ein Hagen Grell von seiner „natürlichen Männlichkeit faselt, so albern ist es, dies durch andere Natürlichkeiten – wie zum Beispiel dem „wissenschaftlichen Stand der Geisteswissenschaften“ – zu ersetzen.

Uns

Schließlich erlaubt sich Julia Schramm auch noch eine Art „Besitztum“: Sie spricht davon, dass derselbe Diskurs, der den Holocaust ermöglicht habe, auch uns geprägt hätte. Genau das aber ist eine komplette Geschichtsvergessenheit, und implizit führt Julia Schramm hier sogar einen nationalistischen Gedanken wieder ein, den sie doch so gerne aus der Welt schaffen würde.
Erstens ist der Diskurs nie derselbe. Nach fünfzig Jahren sollte man zumindest ahnen, dass sich der Diskurs geändert hat. Wie sehr und in welchen Elementen, das wäre zu überprüfen. Was aber auch keineswegs heißt, dass der Diskurs heute weniger gefährlich, mit weniger „Vernichtungspotential“ versehen sei.
Zweitens dreht Julia Schramm zwar das Besitztum um: Nicht wir besitzen den Diskurs, sondern wir sind vom Diskurs besessen. Aber damit konstituiert sie, so lose auch immer, eine Menschengruppe, die dies im besonderen Maße betrifft. Ich bin nun sehr dafür, für den Holocaust weiterhin Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung in dem Maße, dass er sich nicht wiederholen soll, nicht an den Juden, aber auch nicht an irgend einem anderen Volk oder einer anderen Religionsgemeinschaft. Aber diese Verantwortung kann ich nur für mich übernehmen; ich kann hier, auch wenn ich an der Komplexität der Verhältnisse ständig scheitere, nur so vorbildlich sein, wie es möglich ist und wie ich mir ein Vorbild vorstelle, also vermutlich auch dadurch begrenzt.
Ein „uns“ oder ein wie neues oder altes „Wir-Gefühl“ auch immer gibt es dabei nicht, jedenfalls nicht bei mir.

Die Suche nach der Wahrheit

Jedenfalls hat sich, nicht durch Julia Schramm, aber durchaus mit ihr, ein sehr unangenehmes Thema in den Medien breit gemacht, insbesondere aber im Internet, ebenjener Kampf um die Wahrheit und die Wahrheit der Wahrheit. Um weniger soll es also nicht gehen, und das wird dann in einem teils arroganten, teils ignoranten Tonfall vorgetragen, der mit Sicherheit nicht zur Wahrheit führen wird (falls es eine solche überhaupt gibt), aber zu einem Einverständnis, zu einer Glättung gesellschaftlicher Spannungen sicherlich auch nicht.
Meine Lieblingsstelle aus dem ganzen Artikel ist jedoch folgender Satz:
Ja, ich weiß Diskurstheorie ist anstrengend, aber ich empfinde es zum Teil als tief anti-intellektuell, wenn eine Partei sich dem wissenschaftlichen Stand der Geisteswissenschaften verweigert.
Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, was nun der wissenschaftliche Stand der Geisteswissenschaften sein soll (da gibt es doch noch anderes, nicht nur den Poststrukturalismus in seiner Uneinheitlichkeit, da wäre der New Criticism zu nennen, ebenfalls keine Einheit, oder eventuell solche Sonderlinge wie Slavoj Žižek); welche Partei hätte denn überhaupt die Zeit, sich auf den wissenschaftlichen Stand zu bringen und wenn, warum müssen es jetzt unbedingt die Piraten sein; was Anti-Intellektualismus angeht, da fallen mir doch noch ganz andere Parteien ein.
Abgesehen davon, dass Julia Schramm implizit, eben aus ihrer Position heraus, behauptet, sie würde diesen wissenschaftlichen Stand kennen (und besitzen).

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