20.12.2015

Volker Beck und die Machwerke

Volker Beck bezweifelt, ob Hitlers Mein Kampf im Unterricht eingesetzt werden solle. Was in der Schule gelehrt werde, stellt sich bei ihm folgendermaßen dar:
„Im heutigen Kontext von Hass und Hetze durch AfD, Pegida und Co. halte ich es für notwendig, dass Lehrkräfte auch im Umgang mit den Machwerken von Pirinçci, Sarrazin und Elsässer geschult werden …“ (So Volker Beck gegenüber dem Handelsblatt.)

Argumentationslehre in der Schule

Die Boolesche Logik

Argumentationslehre ist die Praxis der Logik, also die angewendete Logik. Kant bezeichnet dies auch als Dialektik. Obwohl sich die Logik zunächst als einfach darstellt, sind moderne Logiken durchaus vielfältig und zum Teil recht kompliziert. Wie ich aus einigen unangenehmen Diskussionen erfahren musste, glauben manche Leute, die Logik bestände vor allem aus der Booleschen Logik. Diese ist aber nur ein Teil der Logik, vom Umfang und den Anforderungen her sogar eine der unwichtigsten, wenn auch nicht von der kulturellen Wirkung, da diese einen großen Teil der Elektronik prägt. Und die Elektronik wiederum ist für unser tägliches Leben enorm wichtig geworden.
Man wird aber mit der Booleschen Logik keinesfalls ideologische Gedankengänge kritisieren können. Diese ist eine extrem reduktive Logik; eine kritische Logik allerdings muss die Strategien der Reduktion mitbedenken. Genau dies gelingt der Booleschen Logik nicht.

Argumentieren lernen

Neben den verschiedenen Logiken, die uns die Philosophie anbietet, John Dewey, William van Orman Quine, George Spencer Brown, geht es bei den politischen Argumentationen nicht nur um Argumente, Schlüsse und Schlussfolgerungen, sondern auch um rhetorische Komponenten, um den Gebrauch von Metaphern in Argumentationsketten, um die Parallelisierung, die Extrapolation, die Amplifikation, schließlich auch um intentionale Argumentationen; und in dieser Form wird die Argumentationslehre recht kompliziert und voraussetzungsreich. Ich bezweifle, dass man dies mehr als ansatzweise in der Schule lehren kann.

Fachübergreifend Voraussetzungen schaffen

Allerdings kann man in allen Fächern Voraussetzungen schaffen, um den erwachsenen Menschen eine solche kritische Teilnahme an sozialen/politischen Prozessen zu ermöglichen. Dazu gehört ganz unbedingt die Mathematik. Man mag die mathematischen Formeln für wenig bedeutend auf dem Gebiet der politischen Diskussion halten.
Doch das ist ein Irrtum. Zum einen lehrt die Mathematik modellhaft die kritische Überprüfung von Beweisen. Zum anderen übt sie in das Modellieren ein; und gerade weil die Mathematik so reduktionistisch in Bezug auf die anschauliche Umwelt ist, ermöglicht sie besonders gut einen kritischen Blick darauf, was Formeln anrichten und leisten. Denn so sehr sie auch die Wirklichkeit reduzieren, so sehr verdeutlichen sie die Strukturen und Muster, die man in der Wirklichkeit finden kann.
Dann gehören auch alle Tatsachenwissenschaft dazu, sprich die Naturwissenschaften. Derzeit wünschte ich mir eine präzisere Kenntnis der Biologie, insbesondere des Verhältnisses von Evolution, Ökologie und Genetik. Und in Bezug auf die Humanbiologie auch die Auswertung von Ergebnissen der Neurowissenschaften. Denn hier wird nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig ganz schön viel Humbug erzählt.
Und bevor wir zu den eigentlichen Sozialwissenschaften kommen, gehört das Fach Deutsch erwähnt, dass natürlich auch die Bedingungen von Interpretationen und die Voraussetzungen, zum Beispiel die grundlegende Semiologie (in gewisser Weise die Argumentationslehre dann auch Teil der Semiologie), zu lehren hat.

Machwerke

Die postmoderne Beliebigkeit des Pejorativs

Natürlich hat Volker Beck recht, wenn er die Werke von Pirinçci, Sarrazin und Elsässer als „pseudowissenschaftliche Beschimpfungsarien“ bezeichnet. Damit hat er allerdings keineswegs den Kern getroffen. Es braucht keine wissenschaftliche Fundierung, um miteinander leben zu können, auf welche Weise auch immer. Die Menschen haben sich auch zu Zeiten fortgepflanzt, als sie noch keine Ahnung von der menschlichen Anatomie hatten. Und was sie alles sonst noch mit ihrem Körper getrieben haben: wer weiß?
Wissenschaftlichkeit ist, ob es geklagt sei, ob es egal ist, nicht das Maß des Zusammenseins. Und insofern ist die Beurteilung jener Werke als „Machwerke“ wenig ergiebig, ein Pejorativ, welches sich hier wie dort beliebig anwenden lässt, in postmoderner Beliebigkeit.

Pirinçcis Pluralität

Und wohl gemerkt, dies müsste ich tatsächlich vorführen: zumindest die Rede Pirinçcis, die ich als KZ-Rede bezeichne, erfreut sich einer ausgesprochenen Vielstimmigkeit. Sie ist uneinheitlich, holpert, insgesamt schwierig zu analysieren; und was für Pirinçci gilt, das gilt auch für andere Vertreter dieser sich als einheitlich und konform und durchdacht haltenden Autoren.
Es ist doch ein seltsames Phänomen, dass sich in die Texte immer und immer wieder ein vielstimmiger und heterogener Ursprung (ein Oxymoron, ich weiß) einschreibt, also eine zerfaserte, bunte, zum Teil bizarre und exotische Ursprünglichkeit. Doch was ist daraus zu schließen?

Die Wahrheit

Zunächst lehne ich den Begriff des „Machwerks“ als zu undifferenziert ab. Diese summarische Geste, mit der missliebigen Büchern begegnet wird, wiederholt nur die ebenso summarischen Strategien dieser Autoren. Wie nannte das mal jemand so geschickt: Kommunikation im Unverstand. So wie es ja sehr bequem ist, wenn man sich nur noch in seiner eigenen Logikblase bewegt, nur noch die Autoren zitiert, die einem sowieso schon Recht geben, und sich keineswegs die Mühe macht, sämtliche Argumente in ihrer Gewichtung neu und erneut zu beurteilen.
Ich lasse mich hier von den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan leiten, der einmal gesagt hat:
Ich sage immer die Wahrheit, nur nie die ganze Wahrheit, denn die ganze Wahrheit zu sagen unmöglich.
Es gelte also, den Rest an Wahrheit, der selbst in den krudesten Aussagen noch vorhanden sein könnte, nachzugehen und hervorzuheben. Diese Differenzierung zur Vielstimmigkeit, diese genaue, penible Interpretation, könnte man tatsächlich als eine Art subversiver Wertschätzung auffassen. Die Wertschätzung wäre so, dass sie zugleich das Objekt der Wertschätzung verunsichert, fragmentiert, aufbricht.

Was wahr ist

Wahr ist wohl die Unruhe, die durch Krisen ausgelöst wird: die Bankenkrise, die Annexion der Krim und die militanten Auseinandersetzungen in der Ukraine und in Syrien (aber auch sonst wo in der Welt, auch wenn uns dies nicht in dem Maße zu betreffen scheint), die sogenannte Flüchtlingskrise, wir hatten in den letzten Jahren viel zu verarbeiten. Eine Unruhe, die ich ebenfalls teile, ist die Angst vor der Altersarmut. Ich verstehe, dass viele deutsche Bürger darüber verunsichert sind. Und die Unruhe, keine Wohnung zu finden, oder in ein ungünstiges Stadtviertel ziehen zu müssen, auch die verstehe ich durchaus.
Unter all den Worten, unter den Missklängen und schrillen Tönen findet man doch immer wieder auch berechtigte Regungen. Fraglich ist nur, ob sie in solche Argumentationen und Reden gegossen werden müssen, ob also solche Schlussfolgerungen notwendig sind. Hier wünschte ich mir eine deutlichere Präsenz etablierter Politiker, die solchen Befürchtungen und Ängsten begründend und nicht nur behauptend entgegen treten. Hier wünschte ich mir auch mehr Mikroanalysen von engagierten Journalisten und Bloggern.

Volker Beck

Abgesehen davon, dass die Schule vermutlich nicht die Zeit haben wird, um sich in umfassenderem Maße um eine gute Analyse solcher Texte zu kümmern, abgesehen davon, dass die Schule zunächst die Grundlagen legen muss, wozu auch eine gute Trennung von naturwissenschaftlichen, geisteswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Argumentationsweisen gehört, stellt sich mir noch die Frage, ob man nicht eher an positiven Beispielen orientieren sollte, an Nathan der Weise, an der Iphigenie auf Tauris, an der Vermessung der Welt (und vielen anderen Werken mehr).
So leid es mir tut: ich glaube, dass eine solch kritische Arbeit in der Schule nur vorbereitet werden kann. Und was die Schulung der Lehrkräfte angeht, um die es Beck ja eigentlich geht: sofern sich ein Lehrer für seine Fächer und seine Schüler engagiert, hat er genug zu tun.
Sollte jemand die Feinheiten der Argumentation und der Rhetorik aus einem grundlegenden Bedürfnis heraus weiter verfolgen, wäre ich der letzte, der ihn davon abhalten würde. Ansonsten finde ich aber, dass die Kollegen (meine Kollegen), insofern sie engagiert sind, dann auch gelegentlich noch mal das Recht auf Privatsphäre, Familie und Freizeit haben.
In gewisser Weise verstehe ich, was Volker Beck meint, in gewisser Weise aber mag ich es auch wieder nicht: gelegentlich ist er mir zu blauäugig, zu wenig vorbildlich. Wer gute Analysen einfordert, sollte hin und wieder zeigen, dass er diese ebenfalls beherrscht und auch nachvollziehen kann. Mit anderen Worten: Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für ein intelligentes Buch mit einer intelligenten Analyse, Autor: Volker Beck.

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