11.09.2009

Terror, re-entry

Eines Tages grub man eine Leiche aus. Man schaffte die Überreste eines berühmten Mannes nach einem andern Winkel der Erde. Das war eine der üblichen Feierlichkeiten, eine schöne prunkhafte Komödie wie ein richtiges Begräbnis, nur dass bei einem solchen der Leib des Toten noch frisch ist, bei einer Wiederausgrabung aber schon verfault.
Flaubert, Gustave: Gedanken eines Zweiflers

Man wird es schon gemerkt haben, dass Shaw Terrorist ist. Der Shawsche Terror ist ungewöhnlich, und er bedient sich einer ungewöhnlichen Waffe, nämlich des Humors. Dieser ungewöhnliche Mann scheint der Ansicht zu sein, dass nichts in der Welt zu fürchten sei als das ruhige und unbestechliche Auge eines gewöhnlichen Menschen, dass aber dieses zu fürchten unbedingt nötig sei. Diese Theorie verleiht ihm eine große natürliche Überlegenheit, und tatsächlich hat er durch ihre konsequente Anwendung erreicht, dass es für jedermann, der ihm je in Wirklichkeit, in einem Buch oder auf dem Theater, begegnete, völlig unvorstellbar ist, dieser Mann könne eine Handlung begangen oder einen Satz ausgesprochen haben, ohne dieses unbestechliche Auge zu fürchten.
Brecht, Bert: Ovation für Shaw, in ders.: GW, Band XV, S. 97

Die Partei soll der Zahl ihrer Mitglieder wegen a priori jeglichem Einzelnen an Erkenntniskraft überlegen sein, auch wenn sie verblendet oder terrorisiert ist. Das isolierte Individuum jedoch, unbeeinträchtigt vom Ukas, mag zuzeiten der Objektivität ungetrübter gewahr werden als ein Kollektiv, das ohnehin nur noch die Ideologie seiner Gremien ist. Brechts Satz, die Partei habe tausend Augen, der Einzelne nur zwei, ist falsch wie nur je die Binsenweisheit. Exakte Phantasie eines Dissentierenden kann mehr sehen als tausend Augen, denen die rosa rote Einheitsbrille aufgestülpt ward, die dann, was sie erblicken, mit der Allgemeinheit des Wahren verwechseln und regredieren.
Adorno, Theodor: Negative Dialektik, S. 56

Die Bedeutung der Wörter ein für allemal festzulegen, ist das Ziel des Terrorregimes.
Lyotard, Jean-Jacques: Rudiments paiens

Universalisten werfen den Kulturalisten vor, dass sie mit der Anerkennung des Fremden als Fremden auch Formen des Kannibalismus, der Frauenunterdrückung, der Diktatur, des Aberglaubens zulassen oder einem fundamentalistischen Gesinnungsterror freien Lauf lassen. Kulturalisten replizieren mit dem Gegeneinwand, dass es einen universalen, transkulturellen Maßstab gar nicht gebe, da alternierende Maßstäbe mit der jeweiligen Lebensform entstehen und vergehen. Sie geben außerdem zu bedenken, dass ein angemaßter Universalismus nicht wenig zur Zerstörung ganzer Kulturen beigetragen hat. Selbst die Berufung auf universale Menschenrechte verlöre ihre Unschuld, wenn sie sich einem ungehemmten Universalisierungsstreben überlässt.
Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, S. 112f.

Man müsste den Begriff der Ideosphäre, die Realität dieser oder jener Ideosphäre, mit der Gewalt in Beziehung setzen. Leider gibt es mehrere Arten von Gewalt: Gewalt des Gesetzes, des Rechts, des Staates; Gewalt der Organisationen, die ihm - qua Organisation - Widerpart bieten, Gewalt der gewerkschaftlichen Streiks; organisierte Gewalt, deren Organisation jedoch klandestin, illegal ist; sogenannte »wilde« Gewalt (der Generalstreik nach Walter Benjamin). Festzuhalten, scheint mir, ist davon nur: Das explizite Auftreten einer Ideosphäre mäßigt die Wirkung (das Bild) von Gewalt; staatliche Gewalt: wird nicht sichtbar, weil sehr stark verbalisiert, umgeben von einer breitangelegten, stabilen Ideologie; Gewalt des Terrorismus: hinterlässt starken Eindruck da sehr wenig verbalisiert: Die terroristische Ideosphäre ist wenig versprachlicht: Man weiß nicht genau, mit welcher Ideosphäre die Gewalttat verbunden ist. Der Terrorismus führt keine Diskurse → Eindruck von Wahnsinn, Schrecken.
Barthes, Roland: Das Neutrum, S. 160f.

Die Antwort: von der Form »Frage« erzwungener Diskursabschnitt. Es gibt, darauf will ich hinaus, stets einen Terrorismus der Frage; jede Frage impliziert eine Macht. Die Frage bestreitet das Recht auf Nichtwissen, das Recht auf ein unschlüssiges Begehren → Bei manchen Subjekten zu denen ich zähle - weckt jede Frage eine gewisse panische Angst; erst recht, wenn die Frage präzise ist oder sein will (Präzision als Macht, Einschüchterung: das ist der große Trick, mit dem die Naturwissenschaft ihre Macht ausübt) → stets Lust dazu, auf präzise Fragen vage zu antworten: Selbst wenn diese Ungenauigkeit der Antwort als Schwäche ausgelegt wird, dient sie indirekt dazu, die Frage zu entmystifizieren: denn jede Frage geht von einem Subjekt aus, das auf etwas anderes hinauswill als auf eine Antwort ersten Grades → Jede Frage lässt sich als Situation der Befragung lesen, als Situation inquisitorischer Macht (Staat und Bürokratie: die großen Fragesteller).
Barthes, Roland: Das Neutrum, S. 185

Aber stattet man dieses nicht gerade mit Schrecken aus, die solche des Bewusstseins, seines allzu sicheren Glaubens an sich selbst sind? Ist es übertrieben zu sagen, dass im Unbewussten notwendigerweise weniger Grausamkeit und Terror, und von anderer Natur, als im Bewusstsein eines Erben, eines Militär oder eines Staatschefs herrschen? Das Unbewusste besitzt seine Schrecken, aber diese sind nicht anthropomorph. Nicht der Schlaf der Vernunft erzeugt Monster, sondern die aufmerksame, nie schlafende Rationalität.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus, S. 144

Das Problem des Verhältnisses zwischen Verbrechen und Strafe stellte sich nicht in Begriffen von Maß, Gleichheit oder messbarer Ungleichheit. Zwischen dem einen und dem anderen gab es eher eine Art Streit und Rivalität. Die Maßlosigkeit der Bestrafung musste der Maßlosigkeit des Verbrechens entsprechen und sie überbieten. Es gab also zwangsläufig ein Ungleichgewicht mitten im Vorgang der Bestrafung selbst. Auf der Seite der Strafe musste es ein Mehr geben. Dieses Mehr war der Terror, der abschreckende Charakter der Strafe. Unter abschreckendem Charakter der Strafe ist eine gewisse Zahl konstitutiver Elemente dieser Abschreckung zu verstehen. Zunächst musste der strafimmanente Terror das Verbrechen erneut manifestieren, das Verbrechen musste in gewisser Weise in der Strafe vergegenwärtigt, repräsentiert, aktualisiert und wiederaktualisiert werden. Der Horror des Verbrechens musste selbst gegenwärtig sein, auf dem Schafott. Andererseits musste in diesem grundlegenden Element des Schreckens die Rache des Souveräns selbst aufscheinen, der sich als unüberwindlich und unbesiegbar präsentieren musste. Schließlich musste die Abschreckung von jedem zukünftigen Verbrechen Teil des Schreckens sein. Die Strafe schrieb solchermaßen ganz natürlich ihren Platz in diese Ökonomie ein, in diese ungleichgewichtige Ökonomie der Bestrafungen. Das Hauptstück dieser Ökonomie war nicht das Gesetz des Maßes, sondern das Prinzip exzessiver Manifestation.
Foucault, Michel: Die Anormalen, S. 110

Die erste, die »kosmologische« Lesart, versteht den Angriff der Vögel als Verkörperung der Hitchcockschen Vision des Universums, des (menschlichen) Kosmos, als eines Systems - friedlich an der Oberfläche, normal in seinem Verlauf -, das jederzeit aus der Fassung gebracht und durch einen puren Zufall ins Chaos gestürzt werden kann. Seine Ordnung ist immer irreführend: jederzeit kann ein unaussprechlicher Terror, ein traumatisches Reales ausbrechen, um den symbolischen Kreislauf zu stören.
Zizek, Slavoj: Warum greifen die Vögel an?, in ders. u.a.: Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, S. 181

Es gibt bei vielen psychotischen Depressionen eine zerschmetternde, psychotische Form der Schuld; doch begegnen wir bei manchen depressiv-katatonen Formen der Schizophrenie einer Schamangst, die wahrscheinlich noch durchdringender und lähmender ist. Diese Art der Angst führt zu Wut und Zorn, gelegentlich zu Raserei - genauso wie Schuld, wenn sie die Verkehrung ins Gegenteil zu Abwehrzwecken benutzt, ungefähr derart: "Anstatt dass ich mich terrorisiert fühle, terrorisiere ich andere; anstatt dass ich niederschmetternde Verachtung fürchte, behandle ich die Welt mit Verachtung, mache sie lächerlich und absurd." Scham kann ebenso wie Schuld projiziert werden, d. h. die anderen sind genauso verurteilend und abweisend, ebenso voller Ekel und "böser Blicke" wie das eigene Gewissen. Daher sind die häufigen Beziehungsideen eigentlich projizierte Scham: "Jedermann schaut mich an und sieht, wie wunderlich und falsch ich bin, wie schmutzig und ekelhaft, wie verachtungswürdig."
Wurmser, Leon: Die Maske der Scham, S. 228f.

Die Präokkupation der Partei mit der Formulierung und Bewahrung und Kontrolle der richtigen Meinung ist einerseits eine erhebliche Reduktion von Komplexität, indem sie den Informationsverarbeitungsprozess auf das Schema konform/abweichend mit Bezug auf Vorgaben einschränkt (so wie dann auch die Beobachtung der Wirtschaft auf das Schema Erfüllung/Nichterfüllung von Planzielen). Sie ist andererseits eine beträchtliche Überforderung des politischen Systems, weil sie funktionale Differenzierung nicht akzeptieren kann und sich gesellschaftsweit engagieren muss, wohin immer das Schema konform/ abweichend die Beobachtung lenkt. Man kann vermuten, dass unter solchen Bedingungen auch die Form des modernen Staates nicht typengerecht realisiert werden kann. Die frühere Sowjetunion war eher ein Reich als ein Staat.
Während die ältere Totalitarismusforschung »Terror« als ein wesentliches Element solcher Regimes gesehen und entsprechend verurteilt hatte und daraufhin Forschungen folgten, die stärker auf die internen Probleme einer nach außen totalitär wirkenden politischen Ordnung hingewiesen hatten, können Analysen »überspannter« politischer Organisationen vielleicht noch deutlicher zeigen, dass und wie politische Parteien, die mit dieser Spannung von Einheitsmeinung und personal zugerechneten Abweichungen zurechtkommen müssen, Verdacht generieren und universalisieren und dafür sekundäre Kontrollmechanismen organisieren mit der Folge, dass in allen Interaktionssituationen etwas Abwesendes (und deshalb: Ungreifbares) anwesend ist. Offenbar kann aber, auch wenn die Einheitsmeinung niemanden mehr wirklich überzeugt, die bloße Differenz von angenommenen (eingeschlossenen) und abgelehnten (ausgeschlossenen) Meinungen und Personen noch motivierend wirken - zumindest für einige Zeit.
Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft, S. 270

Soweit das politische System auf der einen Seite, das Rechtssystem auf der anderen über »private« Pressionsmacht, Terror und Korruption verknüpft sind, kann weder das eine noch das andere System, sofern man sie überhaupt unterscheiden kann, hohe Komplexität erreichen. Über Verfassungen erreicht man also durch Beschränkung der Berührungszonen auf beiden Seiten eine immense Zunahme von wechselseitiger Irritabilität - mehr Möglichkeiten des Rechtssystems, politische Entscheidungen in Rechtsform zu registrieren, aber auch mehr Möglichkeiten der Politik, das Recht zur Politikumsetzung zu benutzen.
Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, S. 470f.

Sehen Sie, dies Franzosenvolk ist sonst nicht mein Gustus, und ihre Guillotinenwirtschaft, was sie damals ›La Terreur‹ oder, wie wir sagen, den Schrecken oder den Terrorismus genannt haben, das kann ich ihnen nicht vergessen; aber, der Wahrheit die Ehre, mit dem Cognakkaffee, da haben sie's getroffen. Es gibt so Sachen, worin sie uns überlegen sind.
Doktor Leist, in: Fontane, Theodor: Vor dem Sturm

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