Ereignisse
In der Systemtheorie werden Ereignisse etwas diffus behandelt. Zum einen sind Ereignisse Beobachtungen der Umwelt, zum anderen sind sie aber auch systeminterne Entscheidungen, mit denen sich das System informiert, wie es weiter verfahren soll.
Um das Ganze konkreter zu machen: Wenn ein Mensch einen Gedanken hat, dann ist das ein systeminternes Ereignis, das sich aber zugleich auf ein Stück Welt bezieht. Der Mensch, d.h. das psychische System, informiert sich selbst, indem es diese Information in die Welt hineinkonstruiert. Dass diese Konstruktionen nicht völlig wirr sind, liegt daran, dass psychische Systeme auf Plausibilität setzen. Plausibilität bedeutet, dass ein System mit der Zeit lernt, was wahrscheinlich ist und was unwahrscheinlich ist, was auf jeden Fall stimmt und was unmöglich ist. Wenn ich Brötchen eingekauft habe und diese in die Küche lege, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass ich sie später dort immer noch vorfinde. Ich kann also denken: Ich esse jetzt ein Brötchen! und finde - ohne mich zu wundern - die Brötchen in der Küche. Allerdings kann ich diesen Gedanken nur deshalb denken, weil ich Brötchen in meiner Welt für eine unhintergehbare Realität halte, weil ich es gewohnt bin, dass Brötchen nicht einfach auf- und abtauchen, wie es ihnen gefällt, dass sie sich essen lassen und ich, sofern sie sich in meinem Besitz befinden, auch widerstandslos essen lassen. Trotzdem ist dieser Gedanke in die Welt hineinkonstruiert, als Ereignis und Erwartungshaltung, die sich nicht in der Welt aufstöbern lässt. Brötchen erwarten nicht von sich aus, gegessen zu werden, und mein Hunger ist kein Ereignis, das sich außerhalb meines Körpers aufstöbern lässt.
Selbst in meinem Körper lässt sich der Hunger nicht aufstöbern. Das Nervensystem 'beobachtet' zwar ein Absenken des Blutzuckerspiegels und löst darauf hin eine gewisse Aktivität aus, aber erst über die Beobachtung des Nervensystems durch das psychische System wird dann Hunger beobachtet. Das Nervensystem liefert dafür nur die spezifischen Muster an elektronischen Impulsen. Und selbst Hunger noch lässt sich je verschieden beobachten; man sehe sich die Unsicherheit mancher Eltern an, ob ihr Neugeborenes Hunger hat, einfach nur unruhig ist oder vielleicht - da es zu viel gestrampelt hat - Muskelkater hat; man sehe sich die Selbstbeobachtung psychischer Systeme mit sog. "Essstörungen" an (sofern solche Selbstbeobachtungen überhaupt in der Kommunikation auftauchen können).
Ereignisse in mehreren Systemen?
Ereignisse passieren als quasi-umwelthaft, sind sinnvoll und brauchbar für das System, sofern sie plausibel sind.
Luhmann schreibt - und hier kommt eine gewisse Vagheit zum Vorschein -:
Die Einheit des Ereignisses
Sicher ist, dass ein Ereignis seine Einheit nicht aus sich selbst heraus gründet, sondern dass diese Einheit in das Ereignis hineinbeobachtet wird, ja, dass erst dieses Hineinbeobachten das Ereignis und damit seine Einheit erschafft.
Sehen wir uns das am Beispiel der Handlung an: Eine Handlung ist zunächst nur Körperbewegung. Ein ungeübter Beobachter, ein befremdlicher Außerirdischer würde in den Bewegungen eines Menschen vielleicht nur eine Art unkontrolliertes Stop-and-Go der Gliedmaßen sehen, wo ein 'geübter' Beobachter das Vorbereiten einer Mahlzeit oder das Aufpumpen eines Fahrradreifens sieht. Die Einheit einer Handlung wird in diese Körperbewegung hineinbeobachtet, und, das ist selbstverständlich, auch in den eigenen Körper hineinbeobachtet. Ich könnte diesen Text nicht schreiben, wenn ich nicht zu meinen Händen ein gewisses externes und reflektiertes Beobachtungsverhältnis habe, das sich auf Plausibilitäten stützt.
Exkurs: Dramenanalyse und Traumatisierung
Hieran ließen sich einige weitreichende Beobachtungen anschließen. So setzt die Dramenanalyse (vgl. zum Beispiel die Einführung in die Dramenanalyse von Bernhard Asmuth) immer noch auf Handlungen. Nun bestehen Texte im Prinzip nicht aus Handlungen, sondern sind lediglich Artefakte, die durch Handlungen entstehen (also zum Beispiel durch die Handlung des Schreibens). Dramen fingieren auch Handlungen. Sicher! Aber in dem Fingieren steckt eben auch das Problem: wenn ich ein Drama lese, beobachte ich ja keine Handlungen, sondern Textmuster, und insofern bestehen Dramen eben nicht aus Handlungen, sondern aus Textmustern. Die Dramenanalyse, aber auch andere Genreanalysen handeln sich hier unendliche Probleme ein, weil dies nicht klar geschieden wird. - Allerdings sind auch Textmuster Ereignisse. Indem ich beständig Einheiten von Textmustern konstruiere, wenn ich lese, schaffe ich mir beim Lesen 'meine' Ereignisse. Etwas sehr Ähnliches beschreibt ja Roland Bartes unter der Formel Lust am Text.
Eine ganz andere Schlussfolgerung ließe sich zum Beispiel für frühkindliche Traumata ziehen. Kleinkinder sind, entwicklungsbedingt, noch nicht so in die Welt hineinkultiviert, dass ihre Beobachtungen kompetent mit sozialen Prozessen gekoppelt sind, ja, dass sie bestimmte Handlungen und Vorgänge in Einheiten aufteilen können. Man könnte vermuten, dass traumatische Ereignisse dann auftreten, wenn die Konstruktion von Ereignissen auf der einen Seite versagt, auf der anderen Seite - durch Schmerzimpulse aus dem neuronalen System - gerade dazu gedrängt werden. Sexuell missbrauchte Kinder könnten so vielleicht deshalb einen Gedächtnisverlust haben, weil sie den sexuellen Akt nicht als Folge von Ereignissen beobachten, sondern nur erleben können. Was dann in der Psychoanalyse als Re-Aktivierung des Traumas beschrieben wird, könnte im Prinzip eine Re-Konstruktion eines Ereignisses sein, das sich im Zuge der Traumatisierung als Einheit gebildet hat. Dass dieses Ereignis oft auf scheinbar 'irrationale' Weise ein weit entferntes ist, mag daran liegen, dass während der Traumatisierung das psychische System unter massivem Operationalisierungszwang steht, ohne dafür schon ausreichend sozialisiert zu sein. Die Einheit des traumatisierenden Ereignisses wird dann nicht irrational gebildet, sondern 'nur' ohne die strukturelle Kopplung an soziale Systeme, ohne Ko-Evolution. Hier mag auch ein Grund dafür liegen, dass sexuell missbrauchte Kinder teilweise eine gewisse Hörigkeit zu dem Täter zeigen. Denn nur dieser bietet die Möglichkeit an, die Ereignisse an soziale Prozesse zu koppeln, und seien diese noch so unangenehm.
Ereignis und strukturelle Kopplung
Mehrsystemereignisse kann es, sofern das Konstruieren von Ereignissen ganz in die Verantwortung des Systems fällt, deshalb nicht geben. Alles, was hier den Trugschluss einer Einheit produziert, liegt an Grenzunschärfen auf der sozialen Seite, und auf biologischen Selektionen auf der anderen Seite. Man kann, ohne weiter darüber nachzudenken, den anderen Menschen unterstellen, dass sie ungefähr dasselbe sehen, was man selbst auch sieht. Man kann, wenn ein Kind zu einer Katze 'Wau-wau' sagt, noch nicht bezweifeln, dass es die Katze nicht als Katze sieht, sondern nur einen Bezeichnungsfehler feststellen. Und vielleicht ist das der Grund, warum visuelle Täuschungen so faszinierend sind: sie weisen auf eine Fehlverarbeitung von sensorischen Impulsen hin, die wir gewohnt sind als recht zuverlässig zu empfinden und gleichsam mutuell in unsere Gedanken miteinbauen.
Der mutuelle Unterbau psychischer Systeme und die grenzunscharfe kommunikative Umwelt lassen die Gleichheit von Ereignissen in verschiedenen Systemen äußerst fragwürdig erscheinen. Trotzdem funktioniert ja irgendwie die Kommunikation. Auch wenn jemand zu mir sagt 'Baum auf einer Wiese' und er stellt sich einen Apfelbaum auf einem Hügel vor, ich dagegen einen Walnussbaum in einem Tal, eine gewisse Gleichheit ja trotzdem da ist. Die Bezeichnung 'Baum' ist zwar, gleichsam zum Innenhorizont hin, unscharf, aber nach außen hin scharf. Ein kompetenter Sprecher verwechselt Bäume nicht mit Hunden, Flugzeugen, Vulkanausbrüchen.
Hier wird nun klar, warum es zwar keine Mehrsystemereignisse gibt, aber die verschiedenen Ereignisse trotzdem eine gewisse gegenseitige Verlässlichkeit erzeugen. Über Strukturen wird die Konstruktion von Ereignissen so eingeschränkt, dass diese eine gewisse Wiederholbarkeit garantieren. Koppeln sich solche Strukturen, dann entsteht über die strukturelle Kopplung eine hinreichende Genauigkeit, um Ereignisse als 'gleich' zu behandeln.
Zeitgenössische Intimsysteme und wissenschaftliches Arbeiten
An zeitgenössischen Intimsystemen kann man oft das Scheitern struktureller Kopplung feststellen. Man ist verliebt, man findet sich gegenseitig außergewöhnlich, man möchte am liebsten keinen Alltag einkehren lassen. Man glaubt, man könne den Alltag bannen, wenn man nicht von ihm spricht, oder ihn nicht lebt. Doch der Alltag zieht ein, das Verliebtsein schwindet, und wenn man nicht über den Alltag spricht, wenn man ihn nicht mit Wörtern, Sätzen, Anekdoten überzieht, nicht die Erwartungen und impliziten Regeln ausdifferenziert, dann bleibt dieser im Vagen. Und hier haben wir dann einen ähnlichen Effekt wie bei der Traumatisierung (siehe oben): der Alltag ist massiv, es geht ums Einkaufen, Waschen, Putzen, Kochen, aber die Klärung in der Kommunikation findet nicht statt. Ebenso kann man die Rolle, die man zu Beginn füreinander spielt, nicht durchhalten. Man ist auch mal schlecht gelaunt, lässt seine Socken einfach fallen, bohrt sich beim Lesen im Ohr. Man nimmt es wahr, kommuniziert es aber nicht. Man koppelt seine psychischen Ereignisse daran, muss sie daran koppeln, da man sich nicht von seinem Nervensystem trennen kann, aber genau das taucht in der Kommunikation nicht auf. So lösen sich Intimsysteme auf, ja, werden im Nachhinein als traumatisch empfunden, weil gegenseitige Wahrnehmung und Kommunikation nicht aufeinander abgestimmt worden sind, weil man mit ganz unterschiedlichen Ereignissen operiert. Solche zeitweilig verbundenen Systeme haben dann, wie Luhmann feststellt, verschiedene Geschichten zu erzählen, weil sie verschiedene Einheiten rekonstruieren.
Lesen ist - salopp formuliert - das Sich-Ankoppeln psychischer Systeme an einen Text. Oder anders gesagt: je gründlicher man einen Text liest, umso mehr bilden sich Strukturen, Muster heraus, mit denen man etwas anfangen kann. Je gründlicher man einen Text liest, umso mehr beeindruckt er die Bildung gewisser Einheiten beim Leser und dieses Bilden-Können gewisser Einheiten wird dann als Verstehen bezeichnet, ist handlungsleitend, ist praktisch. Wie bei Intimsystemen wird gleichsam der Alltag in einem Text eingeführt. Am Anfang findet man Luhmann verwirrend, später liest man ihn zur Entspannung. Den Alltag in einen Text einzuführen könnte man als wissenschaftliches Arbeiten bezeichnen.
In der Systemtheorie werden Ereignisse etwas diffus behandelt. Zum einen sind Ereignisse Beobachtungen der Umwelt, zum anderen sind sie aber auch systeminterne Entscheidungen, mit denen sich das System informiert, wie es weiter verfahren soll.
Um das Ganze konkreter zu machen: Wenn ein Mensch einen Gedanken hat, dann ist das ein systeminternes Ereignis, das sich aber zugleich auf ein Stück Welt bezieht. Der Mensch, d.h. das psychische System, informiert sich selbst, indem es diese Information in die Welt hineinkonstruiert. Dass diese Konstruktionen nicht völlig wirr sind, liegt daran, dass psychische Systeme auf Plausibilität setzen. Plausibilität bedeutet, dass ein System mit der Zeit lernt, was wahrscheinlich ist und was unwahrscheinlich ist, was auf jeden Fall stimmt und was unmöglich ist. Wenn ich Brötchen eingekauft habe und diese in die Küche lege, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass ich sie später dort immer noch vorfinde. Ich kann also denken: Ich esse jetzt ein Brötchen! und finde - ohne mich zu wundern - die Brötchen in der Küche. Allerdings kann ich diesen Gedanken nur deshalb denken, weil ich Brötchen in meiner Welt für eine unhintergehbare Realität halte, weil ich es gewohnt bin, dass Brötchen nicht einfach auf- und abtauchen, wie es ihnen gefällt, dass sie sich essen lassen und ich, sofern sie sich in meinem Besitz befinden, auch widerstandslos essen lassen. Trotzdem ist dieser Gedanke in die Welt hineinkonstruiert, als Ereignis und Erwartungshaltung, die sich nicht in der Welt aufstöbern lässt. Brötchen erwarten nicht von sich aus, gegessen zu werden, und mein Hunger ist kein Ereignis, das sich außerhalb meines Körpers aufstöbern lässt.
Selbst in meinem Körper lässt sich der Hunger nicht aufstöbern. Das Nervensystem 'beobachtet' zwar ein Absenken des Blutzuckerspiegels und löst darauf hin eine gewisse Aktivität aus, aber erst über die Beobachtung des Nervensystems durch das psychische System wird dann Hunger beobachtet. Das Nervensystem liefert dafür nur die spezifischen Muster an elektronischen Impulsen. Und selbst Hunger noch lässt sich je verschieden beobachten; man sehe sich die Unsicherheit mancher Eltern an, ob ihr Neugeborenes Hunger hat, einfach nur unruhig ist oder vielleicht - da es zu viel gestrampelt hat - Muskelkater hat; man sehe sich die Selbstbeobachtung psychischer Systeme mit sog. "Essstörungen" an (sofern solche Selbstbeobachtungen überhaupt in der Kommunikation auftauchen können).
Ereignisse in mehreren Systemen?
Ereignisse passieren als quasi-umwelthaft, sind sinnvoll und brauchbar für das System, sofern sie plausibel sind.
Luhmann schreibt - und hier kommt eine gewisse Vagheit zum Vorschein -:
Damit ist nicht ausgeschlossen, dass ein Beobachter eine bewusste kommunikative Aktivität - sei es Mitteilen, sei es Zuhören, sei es Verstehen - als ein einziges Ereignis identifizieren kann. Auch innerhalb des Kommunikationssystems Gesellschaft sind ja Mehrsystemzugehörigkeiten von Ereignissen (zum Beispiel eine Zahlung als Änderung eines Rechtszustandes) zu beobachten. Solche Mehrsystemereignisse haben jedoch nicht nur eine Geschichte, sondern mehrere Geschichten und je nach System verschiedene. Sie können also nicht »geschichtlich erklärt« werden - es sei denn durch Beschreibung des Beobachters, der sie als Einheiten identifiziert.Das Vage an dieser Stelle ist der Moment, in dem Luhmann von einzigen Ereignis zum Mehrsystemereignis übergeht.Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 32
Die Einheit des Ereignisses
Sicher ist, dass ein Ereignis seine Einheit nicht aus sich selbst heraus gründet, sondern dass diese Einheit in das Ereignis hineinbeobachtet wird, ja, dass erst dieses Hineinbeobachten das Ereignis und damit seine Einheit erschafft.
Sehen wir uns das am Beispiel der Handlung an: Eine Handlung ist zunächst nur Körperbewegung. Ein ungeübter Beobachter, ein befremdlicher Außerirdischer würde in den Bewegungen eines Menschen vielleicht nur eine Art unkontrolliertes Stop-and-Go der Gliedmaßen sehen, wo ein 'geübter' Beobachter das Vorbereiten einer Mahlzeit oder das Aufpumpen eines Fahrradreifens sieht. Die Einheit einer Handlung wird in diese Körperbewegung hineinbeobachtet, und, das ist selbstverständlich, auch in den eigenen Körper hineinbeobachtet. Ich könnte diesen Text nicht schreiben, wenn ich nicht zu meinen Händen ein gewisses externes und reflektiertes Beobachtungsverhältnis habe, das sich auf Plausibilitäten stützt.
Exkurs: Dramenanalyse und Traumatisierung
Hieran ließen sich einige weitreichende Beobachtungen anschließen. So setzt die Dramenanalyse (vgl. zum Beispiel die Einführung in die Dramenanalyse von Bernhard Asmuth) immer noch auf Handlungen. Nun bestehen Texte im Prinzip nicht aus Handlungen, sondern sind lediglich Artefakte, die durch Handlungen entstehen (also zum Beispiel durch die Handlung des Schreibens). Dramen fingieren auch Handlungen. Sicher! Aber in dem Fingieren steckt eben auch das Problem: wenn ich ein Drama lese, beobachte ich ja keine Handlungen, sondern Textmuster, und insofern bestehen Dramen eben nicht aus Handlungen, sondern aus Textmustern. Die Dramenanalyse, aber auch andere Genreanalysen handeln sich hier unendliche Probleme ein, weil dies nicht klar geschieden wird. - Allerdings sind auch Textmuster Ereignisse. Indem ich beständig Einheiten von Textmustern konstruiere, wenn ich lese, schaffe ich mir beim Lesen 'meine' Ereignisse. Etwas sehr Ähnliches beschreibt ja Roland Bartes unter der Formel Lust am Text.
Eine ganz andere Schlussfolgerung ließe sich zum Beispiel für frühkindliche Traumata ziehen. Kleinkinder sind, entwicklungsbedingt, noch nicht so in die Welt hineinkultiviert, dass ihre Beobachtungen kompetent mit sozialen Prozessen gekoppelt sind, ja, dass sie bestimmte Handlungen und Vorgänge in Einheiten aufteilen können. Man könnte vermuten, dass traumatische Ereignisse dann auftreten, wenn die Konstruktion von Ereignissen auf der einen Seite versagt, auf der anderen Seite - durch Schmerzimpulse aus dem neuronalen System - gerade dazu gedrängt werden. Sexuell missbrauchte Kinder könnten so vielleicht deshalb einen Gedächtnisverlust haben, weil sie den sexuellen Akt nicht als Folge von Ereignissen beobachten, sondern nur erleben können. Was dann in der Psychoanalyse als Re-Aktivierung des Traumas beschrieben wird, könnte im Prinzip eine Re-Konstruktion eines Ereignisses sein, das sich im Zuge der Traumatisierung als Einheit gebildet hat. Dass dieses Ereignis oft auf scheinbar 'irrationale' Weise ein weit entferntes ist, mag daran liegen, dass während der Traumatisierung das psychische System unter massivem Operationalisierungszwang steht, ohne dafür schon ausreichend sozialisiert zu sein. Die Einheit des traumatisierenden Ereignisses wird dann nicht irrational gebildet, sondern 'nur' ohne die strukturelle Kopplung an soziale Systeme, ohne Ko-Evolution. Hier mag auch ein Grund dafür liegen, dass sexuell missbrauchte Kinder teilweise eine gewisse Hörigkeit zu dem Täter zeigen. Denn nur dieser bietet die Möglichkeit an, die Ereignisse an soziale Prozesse zu koppeln, und seien diese noch so unangenehm.
Ereignis und strukturelle Kopplung
Mehrsystemereignisse kann es, sofern das Konstruieren von Ereignissen ganz in die Verantwortung des Systems fällt, deshalb nicht geben. Alles, was hier den Trugschluss einer Einheit produziert, liegt an Grenzunschärfen auf der sozialen Seite, und auf biologischen Selektionen auf der anderen Seite. Man kann, ohne weiter darüber nachzudenken, den anderen Menschen unterstellen, dass sie ungefähr dasselbe sehen, was man selbst auch sieht. Man kann, wenn ein Kind zu einer Katze 'Wau-wau' sagt, noch nicht bezweifeln, dass es die Katze nicht als Katze sieht, sondern nur einen Bezeichnungsfehler feststellen. Und vielleicht ist das der Grund, warum visuelle Täuschungen so faszinierend sind: sie weisen auf eine Fehlverarbeitung von sensorischen Impulsen hin, die wir gewohnt sind als recht zuverlässig zu empfinden und gleichsam mutuell in unsere Gedanken miteinbauen.
Der mutuelle Unterbau psychischer Systeme und die grenzunscharfe kommunikative Umwelt lassen die Gleichheit von Ereignissen in verschiedenen Systemen äußerst fragwürdig erscheinen. Trotzdem funktioniert ja irgendwie die Kommunikation. Auch wenn jemand zu mir sagt 'Baum auf einer Wiese' und er stellt sich einen Apfelbaum auf einem Hügel vor, ich dagegen einen Walnussbaum in einem Tal, eine gewisse Gleichheit ja trotzdem da ist. Die Bezeichnung 'Baum' ist zwar, gleichsam zum Innenhorizont hin, unscharf, aber nach außen hin scharf. Ein kompetenter Sprecher verwechselt Bäume nicht mit Hunden, Flugzeugen, Vulkanausbrüchen.
Hier wird nun klar, warum es zwar keine Mehrsystemereignisse gibt, aber die verschiedenen Ereignisse trotzdem eine gewisse gegenseitige Verlässlichkeit erzeugen. Über Strukturen wird die Konstruktion von Ereignissen so eingeschränkt, dass diese eine gewisse Wiederholbarkeit garantieren. Koppeln sich solche Strukturen, dann entsteht über die strukturelle Kopplung eine hinreichende Genauigkeit, um Ereignisse als 'gleich' zu behandeln.
Zeitgenössische Intimsysteme und wissenschaftliches Arbeiten
An zeitgenössischen Intimsystemen kann man oft das Scheitern struktureller Kopplung feststellen. Man ist verliebt, man findet sich gegenseitig außergewöhnlich, man möchte am liebsten keinen Alltag einkehren lassen. Man glaubt, man könne den Alltag bannen, wenn man nicht von ihm spricht, oder ihn nicht lebt. Doch der Alltag zieht ein, das Verliebtsein schwindet, und wenn man nicht über den Alltag spricht, wenn man ihn nicht mit Wörtern, Sätzen, Anekdoten überzieht, nicht die Erwartungen und impliziten Regeln ausdifferenziert, dann bleibt dieser im Vagen. Und hier haben wir dann einen ähnlichen Effekt wie bei der Traumatisierung (siehe oben): der Alltag ist massiv, es geht ums Einkaufen, Waschen, Putzen, Kochen, aber die Klärung in der Kommunikation findet nicht statt. Ebenso kann man die Rolle, die man zu Beginn füreinander spielt, nicht durchhalten. Man ist auch mal schlecht gelaunt, lässt seine Socken einfach fallen, bohrt sich beim Lesen im Ohr. Man nimmt es wahr, kommuniziert es aber nicht. Man koppelt seine psychischen Ereignisse daran, muss sie daran koppeln, da man sich nicht von seinem Nervensystem trennen kann, aber genau das taucht in der Kommunikation nicht auf. So lösen sich Intimsysteme auf, ja, werden im Nachhinein als traumatisch empfunden, weil gegenseitige Wahrnehmung und Kommunikation nicht aufeinander abgestimmt worden sind, weil man mit ganz unterschiedlichen Ereignissen operiert. Solche zeitweilig verbundenen Systeme haben dann, wie Luhmann feststellt, verschiedene Geschichten zu erzählen, weil sie verschiedene Einheiten rekonstruieren.
Lesen ist - salopp formuliert - das Sich-Ankoppeln psychischer Systeme an einen Text. Oder anders gesagt: je gründlicher man einen Text liest, umso mehr bilden sich Strukturen, Muster heraus, mit denen man etwas anfangen kann. Je gründlicher man einen Text liest, umso mehr beeindruckt er die Bildung gewisser Einheiten beim Leser und dieses Bilden-Können gewisser Einheiten wird dann als Verstehen bezeichnet, ist handlungsleitend, ist praktisch. Wie bei Intimsystemen wird gleichsam der Alltag in einem Text eingeführt. Am Anfang findet man Luhmann verwirrend, später liest man ihn zur Entspannung. Den Alltag in einen Text einzuführen könnte man als wissenschaftliches Arbeiten bezeichnen.
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