21.10.2008

Unsicherheit

Vor vielen Jahren hatte ich mal, aus einem noch pubertären Leichtsinn heraus, beschlossen, die Unsicherheit als mein wichtigstes Gefühl zu nehmen. Nicht, dass es bis dahin so gewesen wäre. Was mich eher genervt hat, war die Pseudo-Sicherheit, bei Lehrern, bei meinen Eltern, bei Altersgenossen, und so fort. Ich bin mit dieser Entscheidung übrigens nicht schlecht gefahren. Ich habe nach meiner sehr entfremdeten Kindheit wieder mehr meine eigenen Bedürfnisse und meine Kompetenzen, vor allem aber meine Lust am Lernen entdeckt. Immer wieder fasziniert hat mich, dass Unsicherheit nicht zu den Gefühlen gehört, die von den Gefühlsduseligen als wichtig oder auch nur brauchbar angesehen werden. Hass, Wut, Ärger, all das ja, meist ja sehr unreflektiert, aber Unsicherheit nicht. Ebenso seltsam ist, dass Unsicherheit nicht oder nur am Rande in der Emotionspsychologie als Thema auftaucht. Und ebenso seltsam ist, dass Vertreter des Konstruktivismus den Begriff der sozialen Unsicherheit im pathologischen Sinne benutzen können.
Wie dem auch sei. Bei Lajos Egri lese ich im Buch Literarisches Schreiben auf S. 27 folgendes:

Alle Gefühle sind Erscheinungsformen der Unsicherheit, welche wiederum vom Selbsterhaltungstrieb herrührt ...
Wie seltsam, dachte ich. Da hätte ich doch gerne eine Quelle gehabt, die dies etwas wissenschaftlicher belegt. Aber damit kann Egri nun nicht dienen.
Jedenfalls liebäugele ich seit Jahren mit folgendem Gedanken: Unsicherheit markiert, dass Handlungsstrukturen nicht greifen, Planungen nicht möglich sind, Wahrnehmungen durcheinander kommen und problematisch werden. Unsicherheiten weisen also auf Suchwege hin, also auf kreative Arbeit. Unsicherheit ist nicht der Folge von kreativer Arbeit, sondern deren Ursprung, und wer sich mit kreativem Schreiben unsicher fühlt, gerät in einen Zirkel hinein, wenn er einfach nur mehr desselben tut. Daher kommen vermutlich die meist mittelmäßigen bis schlechten Ergebnisse des kreativen Schreibens. Aus Zirkeln kommt man nur mit einem Sprung, indem man also etwas anderes macht. Mein Weg war da immer, noch einmal in die Analyse zu gehen und statt kreativ dann wissenschaftlich zu schreiben. Man kann aber auch einfach andere Übungen machen, wenn man denn unbedingt schreiben will.
Unsicherheit jedenfalls erscheint mir heute mehr und mehr nicht als ein einfaches Gefühl, auch wenn es so schlicht daher kommt, sondern gerade als ein sehr komplexes Gefühl. Denn anders als Egri glaube ich nicht, dass Unsicherheit das Fundament jeglichen Gefühls bildet, sondern eher eine emotionale Rekonstruktion einer emotionalen Widersprüchlichkeit ist. Es ist eine Meta-Emotion, nicht eine und schon garnicht die Grundemotion. Untersucht man die Komponenten einer aktuellen Unsicherheit und gliedert diese, dann löst sich meist das Gefühl der Unsicherheit auf. Die Therapie jeglicher Unsicherheit ist die Struktur, im Sozialen das Vertrauen und die Zuverlässigkeit, im Zeitlichen die Planung, im Kognitiven der Begriff.
Deshalb spielen bei der kreativen Arbeit auch Begriffe eine so starke Rolle. Diese ermöglichen nicht nur das Kleinarbeiten von Unsicherheit, sondern geben im Einzelnen und im Rahmen Strukturen vor, auch die man sich als Schreibender verlassen kann. Nur so kann nach und nach die Angst vor dem weißen Blatt verschwinden.

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