Gerade lese ich von Remigius Bunia das wundervolle Buch »Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien«. Ich kann noch nicht viel mehr zu ihm sagen, als dass ich wieder beim Durchstöbern meiner Bibliothek bin.
Eines hat aber Bunia wieder aufgebrochen: das mimetische Moment in der (Intelligenz-)Diagnostik zu überdenken. Dieser Aspekt der schulischen Diagnostik ist viel zu wenig untersucht worden, wohl auch, weil der Begriff der Mimesis ein sehr alter und traditionsreicher ist und stark von anderen Gebieten als denen der pädagogischen Diagnostik in Anspruch genommen wird. Vielleicht ist es auch sein Glück, dass er bisher unentdeckt blieb. Denn die Pädagogik hat schon Konzepte wie die Inklusion oder die Postmoderne teilweise bis zur Unkenntlichkeit verhunzt.
Als ich über das sinnentnehmende Lesen geschrieben habe, habe ich ein Modell entwickelt, das sperrig sein dürfte. Zwar klingt dieses Modell zunächst einfach. Doch der ganze Witz dabei ist, wie es sich überhaupt beobachten lässt. – Natürlich kann man behaupten, dass ein Schüler ein diagnostisches Element für seine Lesefertigkeit liefert, indem er einen entsprechenden Satz sagt oder schreibt, der sich auf einen Text bezieht. So wäre eine Äußerung wie „Schillers Sprache klingt altmodisch.“ der kontingenten Lesefertigkeit zuzurechnen, während eine Äußerung wie „Schillers ästhetische Theorie hat die ethnischen Säuberungen des Faschismus vorbereitet.“ zur reflektierenden Lesefähigkeit gehört.
Der erste Einwand gegen eine solche Diagnostik ist das Modell selbst. Diagnostik ist, im wörtlichen und übertragenen Sinne, nichts anderes als Lesen. Wendete man nun das Sechs-Stufen-Modell der Lesefertigkeit so an, wie ich es eben vorgeführt habe, verharrt die Diagnostik in der konventionellen Sparte der Lesefertigkeit. Denn Beobachtungen einem Modell zuzuordnen, ist konventionell.
Dies ist der eine Einwand. Der andere Einwand ist vertrackter. Lesen, insofern man es in seinem weiter gefassten Sinn versteht, erzeugt ja zuallererst keine weiteren Sätze, sondern Vorstellungen. Und es ist üblich, dass viele unserer Gedanken zumindest einen bildlichen oder ikonischen Anteil haben (die préhension iconique bei Piaget, die so scheußlich mit symbolischem Verstehen übersetzt wurde). Demnach sind viele propositionale Relationen nicht nur mit Wörtern, sondern zum Teil mit Bildern oder Bildfragmenten besetzt. All dies bleibt flüchtig, zum Teil für den Leser selbst unfassbar. Damit aber lässt es sich nicht diagnostizieren.
Man erkennt in dem Modell und seiner Kritik eben jene Dialektik zwischen Rationalität und Uneindeutigkeit wieder, die Adorno für den Zauber der Kunst diagnostiziert:
Eines hat aber Bunia wieder aufgebrochen: das mimetische Moment in der (Intelligenz-)Diagnostik zu überdenken. Dieser Aspekt der schulischen Diagnostik ist viel zu wenig untersucht worden, wohl auch, weil der Begriff der Mimesis ein sehr alter und traditionsreicher ist und stark von anderen Gebieten als denen der pädagogischen Diagnostik in Anspruch genommen wird. Vielleicht ist es auch sein Glück, dass er bisher unentdeckt blieb. Denn die Pädagogik hat schon Konzepte wie die Inklusion oder die Postmoderne teilweise bis zur Unkenntlichkeit verhunzt.
Als ich über das sinnentnehmende Lesen geschrieben habe, habe ich ein Modell entwickelt, das sperrig sein dürfte. Zwar klingt dieses Modell zunächst einfach. Doch der ganze Witz dabei ist, wie es sich überhaupt beobachten lässt. – Natürlich kann man behaupten, dass ein Schüler ein diagnostisches Element für seine Lesefertigkeit liefert, indem er einen entsprechenden Satz sagt oder schreibt, der sich auf einen Text bezieht. So wäre eine Äußerung wie „Schillers Sprache klingt altmodisch.“ der kontingenten Lesefertigkeit zuzurechnen, während eine Äußerung wie „Schillers ästhetische Theorie hat die ethnischen Säuberungen des Faschismus vorbereitet.“ zur reflektierenden Lesefähigkeit gehört.
Der erste Einwand gegen eine solche Diagnostik ist das Modell selbst. Diagnostik ist, im wörtlichen und übertragenen Sinne, nichts anderes als Lesen. Wendete man nun das Sechs-Stufen-Modell der Lesefertigkeit so an, wie ich es eben vorgeführt habe, verharrt die Diagnostik in der konventionellen Sparte der Lesefertigkeit. Denn Beobachtungen einem Modell zuzuordnen, ist konventionell.
Dies ist der eine Einwand. Der andere Einwand ist vertrackter. Lesen, insofern man es in seinem weiter gefassten Sinn versteht, erzeugt ja zuallererst keine weiteren Sätze, sondern Vorstellungen. Und es ist üblich, dass viele unserer Gedanken zumindest einen bildlichen oder ikonischen Anteil haben (die préhension iconique bei Piaget, die so scheußlich mit symbolischem Verstehen übersetzt wurde). Demnach sind viele propositionale Relationen nicht nur mit Wörtern, sondern zum Teil mit Bildern oder Bildfragmenten besetzt. All dies bleibt flüchtig, zum Teil für den Leser selbst unfassbar. Damit aber lässt es sich nicht diagnostizieren.
Man erkennt in dem Modell und seiner Kritik eben jene Dialektik zwischen Rationalität und Uneindeutigkeit wieder, die Adorno für den Zauber der Kunst diagnostiziert:
Fortlebende Mimesis, die nichtbegriffliche Affinität des subjektiv Hervorgebrachten zu seinem Anderen, nicht Gesetzten, bestimmt Kunst als eine Gestalt der Erkenntnis, und insofern ihrerseits als ›rational‹. Denn worauf das mimetische Verhalten anspricht, ist das Telos der Erkenntnis, das sie durch ihre eigenen Kategorien zugleich blockiert. Kunst komplettiert Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene und beeinträchtigt dadurch wiederum den Erkenntnischarakter, ihre Eindeutigkeit. (ÄT 86f.)
Beide Einwände aber gehen in einen über: begriffliche Diagnostik ist ausschließend, wie nicht-begriffliche Diagnostik unscharf ist. Ihr dialektisches Moment, so könnte man mit Adorno weiter argumentieren, ist so notwendig wie unversöhnlich.
So ist auch die Diagnostik der Lesefähigkeit selbst ein Lesen, das sich in seinen verschiedenen Aspekten unvermittelt nebeneinander stellt. Trotzdem ist die Diagnostik anderes als Kunst. Die Diagnostik bildet ab. Dazu dient ja das Modell. Sie ist mimetisches Verhalten, am Modell in eine Konvention gegossen. Sie ist begrifflich und mimetisch zugleich. Und – mit einer gewissen Boshaftigkeit formuliert -: indem sie ausschließt, bleibt sie unscharf, und indem sie unscharf ist, schließt sie aus.
Bunia formuliert in seinem Buch ein differentielles Modell. Indem verschiedene Formen, Modelle und Aspekte nebeneinander gestellt werden, ergibt sich ein widerstreitendes Bild. Das gerade macht aber Realität nicht aus. Realität sei, so Bunia mit Luhmann, »das Resultat von Konsistenzprüfung«. Indem Diagnostik nicht auf Konsistenz zielt, sondern auf Inkonsistenz, irrealisiert sie den diagnostizierten Schüler. Andererseits entkommt sie so der konventionellen Diagnostik, die eine Diagnostik der Verdinglichung ist; ja, die sogar in der subjektorientierten Diagnostik (nach Holzkamp) verdinglichend ist. Eine solche Diagnostik, die sich der reflektierenden und systematisierenden Lesefähigkeit anschmiegt, ist weder statisch (im Sinne der Statusdiagnostik), noch prozessual (im Sinne der lernbegleitenden Diagnostik), sondern performativ; eher Intervention als Bestandsaufnahme. (Mein Unbehagen an der lernbegleitenden Diagnostik bleibt, dass diese punktuell Zustände feststellt, also nichts anderes als eine Statusdiagnostik ist, zumal sie ihre Kategorien häufig aus der Statusdiagnostik ableitet.)
In diesem Sinne hätte man es dann mit einem diagnostischen Prozess zu tun, beim Lesen wie bei der Intelligenz, der sich verhält wie bei Benjamin die semiotische Seite der Sprache zu ihrer magischen:
So ist auch die Diagnostik der Lesefähigkeit selbst ein Lesen, das sich in seinen verschiedenen Aspekten unvermittelt nebeneinander stellt. Trotzdem ist die Diagnostik anderes als Kunst. Die Diagnostik bildet ab. Dazu dient ja das Modell. Sie ist mimetisches Verhalten, am Modell in eine Konvention gegossen. Sie ist begrifflich und mimetisch zugleich. Und – mit einer gewissen Boshaftigkeit formuliert -: indem sie ausschließt, bleibt sie unscharf, und indem sie unscharf ist, schließt sie aus.
Bunia formuliert in seinem Buch ein differentielles Modell. Indem verschiedene Formen, Modelle und Aspekte nebeneinander gestellt werden, ergibt sich ein widerstreitendes Bild. Das gerade macht aber Realität nicht aus. Realität sei, so Bunia mit Luhmann, »das Resultat von Konsistenzprüfung«. Indem Diagnostik nicht auf Konsistenz zielt, sondern auf Inkonsistenz, irrealisiert sie den diagnostizierten Schüler. Andererseits entkommt sie so der konventionellen Diagnostik, die eine Diagnostik der Verdinglichung ist; ja, die sogar in der subjektorientierten Diagnostik (nach Holzkamp) verdinglichend ist. Eine solche Diagnostik, die sich der reflektierenden und systematisierenden Lesefähigkeit anschmiegt, ist weder statisch (im Sinne der Statusdiagnostik), noch prozessual (im Sinne der lernbegleitenden Diagnostik), sondern performativ; eher Intervention als Bestandsaufnahme. (Mein Unbehagen an der lernbegleitenden Diagnostik bleibt, dass diese punktuell Zustände feststellt, also nichts anderes als eine Statusdiagnostik ist, zumal sie ihre Kategorien häufig aus der Statusdiagnostik ableitet.)
In diesem Sinne hätte man es dann mit einem diagnostischen Prozess zu tun, beim Lesen wie bei der Intelligenz, der sich verhält wie bei Benjamin die semiotische Seite der Sprache zu ihrer magischen:
Diese, wenn man so will, magische Seite der Sprache wie der Schrift läuft aber nicht beziehungslos neben der andern, der semiotischen, einher. Alles Mimetische der Sprache ist vielmehr eine fundierte Intention, die überhaupt nur an etwas Fremdem, eben dem Semiotischen, Mitteilenden der Sprache als ihrem Fundus in Erscheinung treten kann. So ist der buchstäbliche Text der Schrift der Fundus, in dem einzig und allein sich das Vexierbild formen kann. So ist der Sinnzusammenhang, der in den Lauten des Satzes steckt, der Fundus, aus dem erst blitzartig Ähnliches mit einem Nu aus einem Klang zum Vorschein kommen kann. Da aber diese unsinnliche Ähnlichkeit in alles Lesen hineinwirkt, so eröffnet sich in dieser tiefen Schicht der Zugang zu dem merkwürdigen Doppelsinn des Wortes Lesen als seiner profanen und auch magischen Bedeutung.« (II.1, 208f)
Natürlich sind all dies nur vorläufige Gedankengänge, die weiter auszuarbeiten wären.
- ÄT = Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970
- II.1 = Benjamin, Walter: II. Band – Aufsätze, Essays, Vorträge, Teilband 1, Frankfurt am Main 1991
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