10.12.2016

Weihnachten ist für alle

So las ich heute während meines Lidl-Besuchs. Wahrer wäre es ohne das 'für'.

Exklusion

Weihnachten ist, wenn man es im christlichen Sinne sieht, tatsächlich für alle. Der Sohn Gottes sei geboren worden, um den Menschen Vorbild und Hoffnung zu geben. Was soll dann diese Aussage über einer Reihe von Luxusartikeln? - Nein, diese Frage ist unpräzise, denn was diese Aussage und dieses Plakat sollen, ist offensichtlich. Vielmehr muss man fragen, welche Ideen mit dieser Werbung mittransportiert werden.
Zunächst macht es einen Unterschied, ob man die weihnachtlichen Gaben als materiell oder ideell betrachtet. Vom christlichen Idealismus aus gesehen ist die Geburt Christi eine Botschaft, die allen Menschen gilt, ob sie sie hören wollen oder nicht; die Gnade wird allen Menschen zuteil, ob sie darum wissen oder nicht. Es ist eine inklusive Botschaft. Die Sprache der Werbung dagegen sagt: die einen kaufen diese Güter (und können sie kaufen), die anderen nicht. Wer sie nicht kaufen kann, so impliziert der Spruch an dieser Stelle, für den ist Weihnachten nicht. Es ist eine exklusive Botschaft; schlimmer noch ist es eine moderne Form des Ablasshandels. Wie Luther schrieb:
Lug und Trug predigen diejenigen, die sagen, die Seele erhebe sich aus dem Fegfeuer, sobald die Münze klingelnd in den Kasten fällt.
(27. These)

Tugend und Status

Mich interessiert weniger, ob die christlichen Werte noch zeitgemäß sind (Werte sind nie 'zeitgemäß', doch das ist eine andere Geschichte), als der Unterschied zwischen Tugend und Status. Die Tugend ist, in einem moderneren Sinne, die Verwirklichung einer Idee, bzw. die Haltung, die zur Verwirklichung einer Idee führt. Sie war bei Aristoteles noch stark auf die Erscheinung in der Gemeinschaft ausgelegt, so dass man dem Spruch 'Tue Gutes und rede darüber' einen anderen Wert beimessen muss, solange er die griechische Polis betrifft; in einer Gesellschaft, in der massive Ungleichheiten den Menschen sehr unterschiedliche Möglichkeiten und Positionen zuweisen, muss er - der Spruch - sauer werden. Denn was der eine an geringfügig Gutem tut, kann unendlich viel mehr an Selbstbewusstsein und Disziplin bedeuten, denn was der andere mit großzügiger Hand doch ohne Not verteilt.
So bestimmt einmal die Tugend den Status (unter Gleichen), und einmal der Status die Tugend (in einem scharfen ökonomischen Gefälle).

Sichtbarkeit I

In gewisser Weise stellt der Status die Sichtbarkeit des Tugendhaften auf den Kopf. Wer einen Status hat (also 'prominent' ist), ist in gewisser Weise schon sichtbar; tugendhaftes Handeln führt unter solchen Bedingungen zu einer weiteren, erhöhten Sichtbarkeit. Die Tugend, also die Haltung, die zum Handeln führt, ist eine per se unsichtbare Sache. Wenn in der protestantischen Tradition ein Misstrauen gegen die Oberfläche der Zeichen (den Signifikanten) herrscht, dann auch aus dem Grunde, dass diese trügerisch sind; so Luther in seinen Thesen:
Unchristliches predigen diejenigen, die lehren, dass bei denen, die Seelen loskaufen oder Beichtbriefe erwerben wollen, keine Reue erforderlich sei.
(35. These)
Man könnte auch, in einer etwas weiter gefassten Auslegung, sagen, dass die 'wahre' Sichtbarkeit der Tugend eine asketische Sichtbarkeit ist, eine der Zuverlässigkeit und Disziplin:
Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: "Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen", wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.
(1. These)

Sichtbarkeit II

Nun predige ich nicht Buße, jedenfalls nicht als alleinige Möglichkeit; die Askese - abgeleitet vom gr. askein, üben - ist immer ein offenes Projekt; Sichtbarkeit ist dabei mindestens zweifach zu bewerten. Geht man noch einmal auf den Begriff der Tugend zurück, so ist diese zugleich fest als auch erhöhend: sie ist zuverlässig und vorbildlich.
Nun kreuzen sich in diesem Verhältnis viele Sichtbarkeiten; darunter lässt sich aber eine wesentliche Differenz finden, die alle Überlegungen zur Sichtbarkeit der Tugend komplex macht. Einmal ist eine Tugend nur für sich: als Praxis einer Ethik finden sich darin alle Handlungen, die sich um sich selbst sorgen; aber die Tugend wird beständig von der politischen Praxis, insbesondere der Mikropolitik, berührt. So sehr sie für sich ist, schreibt sie sich in den Körper ein und wird damit für andere sicht- und interpretierbar. So wohnt der Tugend, kraft ihrer Sichtbarkeit, der Zwiespalt von Zweck und Ziel inne, und damit der Streit, ob eine Tugend besser werde, wenn sie sich sichtbar oder unsichtbar macht.

Weihnacht

Man sollte meinen, dass Weihnachten ein leises, unsichtbares Fest ist; man sollte meinen, dass man des 'letzten großen Europäers', wie Nietzsche Jesus einmal nannte, gedenke, seiner Tugend, seiner Zuverlässigkeit, seiner Größe (und wenn es nur eine Geschichte wäre, so wäre sie es doch wert, gedacht zu werden).
Wie seit langem bleiben für mich Fragen zur Tugend offen; nicht ohne Grund habe ich eine gängige philosophische Formulierung vermieden: die Tugend-für-sich und die Tugend-für-andere. Es wäre leicht gewesen, diese hier herbei zu zitieren. Doch hatte ich neulich zur Kritik bei Nietzsche geäußert, dass dieser die Kritik in gewisser Weise anti-evolutionär auffasst und damit a-historisch (nicht aber anti-historisch). Die Tugend scheint mir einen ähnlichen Rang zu haben: sie als dialektisch aufzufassen verfehlt eine umfassende Betrachtung.
Zwar haben die christlichen Tugenden hier nur Beispielcharakter (es gibt, wie gesagt, auch andere Tugenden), doch ist Weihnachten als Modeerscheinung ein besonders eklatantes Beispiel dafür, wie eine Tugendlehre durch ihre von Fremdem ausgehöhlte Sichtbarkeit jegliche Haltung und damit alle Eigenschaften verliert, die eine Tugend ausmachen. Es ist reiner Glanz:
Ach, die Sterne / Sind am schönsten in Paris, / Wenn sie dort, des Winterabends, / In dem Straßenkot sich spiegeln.

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