02.12.2016

Lesemodelle, semantische Rollen und Ideologie

Lesenlernen ist ein Prozess, der kein Ende findet. Zwar glaubt man allgemein, dass mit dem mechanischen Lesen der größte Teil dieses Prozesses bewältigt sei; doch das mechanische Lesen betrifft nur die äußere, materielle Form, und wer auf dieser Ebene stehen bleibt, transformiert Geschriebenes nur in Gesprochenes, nicht in Anschauliches und Zweckmäßiges und gehört damit zu den funktionellen Analphabeten. Der funktionelle Analphabet spricht das geschriebene Wort aber versteht nicht den Sinn. - Und genau hier greifen alle anderen Lesemodelle ein, die eben nicht auf wenige grundlegende Elemente zu reduzieren sind, sondern die ganze Vielfalt der Kultur mit sich bringen.
Man kann die Semantik in gewisser Weise als eine Lehre solcher Lesarten bezeichnen. Ursprünglich ist die Semantik die Lehre von der Bedeutung. Wenn man aber, wie dies die Entwicklungspsychologie nahelegt, den Sprachgebrauch grundständig als operativ und damit als pragmatisch ansieht, ist sie eine vom Nützlichen, Schönen, Zweckmäßigen, Spannenden, Lehrreichen der Texte. Zu dieser Lehre gehört, wie der Name schon sagt, die Satzsemantik, und zu dieser wieder die der semantischen Rollen.
Diese werde ich im Folgenden in Teilen vorstellen. Damit kehre ich auch zu einem Artikel zurück, den ich in den ersten Wochen meines Blogger-Daseins geschrieben habe: Begriffsbildungen bei Aebli.

Vorteil von Lesemodellen

Implizite Propositionen

Man kann bei der Bedeutung zunächst davon ausgehen, dass diese aus und mit Handlungen entsteht. Eine Handlung nutzt immer bestimmte Gegenstände und Phänomene aus der Umwelt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Mit anderen Worten konstelliert die Handlung Gegenstände und Phänomene zielorientiert. Aus dieser Konstellation heraus entstehen die ersten Sätze. In der Kognitionspsychologie nennt man Sätze Propositionen.
Werden solche Propositionen aufgeschrieben und in einen größeren Zusammenhang gebracht, entsteht ein Text. Jeder Satz in einem Text ist eine Proposition, und da diese Proposition offensichtlich ist, kann man diese auch explizite Proposition nennen.
Nun besteht eine solche explizite Proposition allerdings aus Elementen, die man auch in ganz anderen Konstellationen verwenden könnte. Man kann z.B. ein Ei in eine Pfanne schlagen, aber man kann es auch ausblasen und dann anmalen. Das Verb ›ausblasen‹ lässt sich wiederum in einem anderen Kontext verwenden, z.B. bei Kerzen. Darüber bilden sich unterhalb der expliziten Propositionen Netzwerke, die nicht ausgesprochen sind, aber ausgesprochen werden können. Solche Möglichkeiten heißen implizite Propositionen.
Implizite Propositionen in explizite umzuwandeln gehört zur Tätigkeit des Interpreten und macht einen wichtigen Teil der Interpretation aus.

Lesemodelle

Wie man sich sicherlich vorstellen kann, kann man mit einiger Erfindungsgabe selbst in kürzesten Texten eine relativ große Zahl solcher impliziter Propositionen finden. Nun könnte man sich damit begnügen, solche impliziten Propositionen einfach aufzuzählen, doch dies würde nur zu einer recht chaotischen Situation führen, abgesehen vom fehlenden Nutzen einer solchen Tätigkeit.
Hier greifen Lesemodelle: diese schränken die Zahl der Propositionen ein und sorgen für ein mehr oder weniger geordnetes Verhältnis dieser Propositionen zueinander. Sie machen systematisches Lesen möglich. Mit dem systematischen Lesen erkauft man sich Blindheit gegenüber allen anderen möglichen Lesarten. Allerdings ist das unsystematische Lesen meist spontan und weder der Reflexion noch der Mitteilbarkeit zugänglich: es bleibt dann – zumindest methodisch – ein „asoziales“ Ereignis. Zudem ist die Blindheit, die man sich mit einem bestimmten Lesemodell aneignet, nur eine zeitweilige; man kann dieses durch ein anderes ersetzen und damit neue Sichtweisen mit anderen Blindheiten gewinnen.

Wissenschaftlichkeit

In diesem Licht wird jede Eindeutigkeit des Sinns fraglich. Nur ein schlechter Leser versteht einen Text auf eindeutige Weise; das wissenschaftliche Lesen dagegen ist von Unsicherheiten durchzogen, zumindest von der Unsicherheit der Vollständigkeit, wenn auch nicht unbedingt von der Unsicherheit des Lesemodells.
Es ist wohl eines der ungünstigsten Zeichen unserer Zeit, dass dieses eindeutige Lesen im Internet - und nicht nur dort! - so massenhaft und scheinbar erfolgreich vorgeführt wird. Es ist aber ein Lesen, welches die eigene Methode nicht angeben kann und für die eigenen Voraussetzungen unempfindlich bleibt. Deshalb besteht wohl aus historischen Gründen in der Wissenschaft die Gepflogenheit, sich sowohl um die Inhalte wie um die Methoden zu kümmern. Den Wissenschaftler bringt es sogar in höchste Verlegenheit, eine bestimmte Lesart zu kritisieren, ohne sie komplett abzuweisen. Der dogmatische Leser argumentiert mit der Sicherheit des Inhalts, der wissenschaftliche Leser dagegen mit der Sicherheit der Methode. Gerade deshalb scheinen dogmatische Leser wissenschaftliche Leser nicht verstehen zu können, denn der wissenschaftliche Leser hat wohl die Inhalte erfahren, aber der dogmatische Leser nicht die Methoden.

Sprachkraft und harmonische Anregung

Tatsächlich ist dieser Gedanke nicht neu, und dass er wie neu erscheint, ist wohl dem Niedergang von Reflexion und Kritik in der vulgären Psychologie geschuldet. Humboldt schrieb vor über zweihundert Jahren:
Mit dem Verstehen verhält es sich nicht anders. Es kann in der Seele nichts, als durch eigene Tätigkeit vorhanden sein, und Verstehen und Sprechen sind nur verschiedenartige Wirkungen der nämlichen Sprachkraft. Die gemeinsame Rede ist nie mit dem Übergeben eines Stoffes vergleichbar. In dem Verstehenden, wie im Sprechenden, muss derselbe aus der eignen, innren Kraft entwickelt werden; und was der erstere empfängt, ist nur die harmonisch stimmende Anregung.
Wilhelm von Humboldt, zitiert bei von Polenz: Deutsche Satzsemantik. Berlin 1988, S. 23 (die Anpassung der Rechtschreibung stammt von mir)
Die Sprachkraft ist darin zuallererst nicht ein Vermögen des Sprechens und Verstehens als eines, das die Seele erweitert. Die moderne Psychologie hat eine andere Theorie, wie sich die Seele erweitert, und spricht hier von Kompetenzaufbau. Danach wird explizites Wissen (Sachwissen) durch Gewohnheit und Automatisierung zu implizitem Wissen. Dieses implizite Wissen wird beim Erwerb von neuem, explizitem Wissen verwendet. Man kann auch sagen, dass interpretiertes Wissen durch Gewohnheitsbildung zu interpretierendem Wissen wird.

Lesen/Denken, schnell und langsam

Methodisches Lesen ist zunächst ein langsames Lesen. Wer Satz für Satz, Muster für Muster liest, mag penetrant wirken; und es wundert nicht, wenn der dogmatische Leser dies als weltfremd bezeichnet, da sich ein Text ja auch so verstehen lässt, beim ersten Anblick.
Erinnern wir uns aber daran, wie wir selbst lesen gelernt haben: dies war zunächst mühsam; auch Kindern muss man das Satzverständnis nach und nach beibringen, selbst wenn es sich hier um explizite Propositionen handelt und die Kinder in ihrem Leben bereits tausende Male solche Sätze geäußert haben.
Lesenlernen ist allgemeiner einfach nur Gewohnheitsbildung. Wenn man sich neue Muster aneignet, fängt man in gewisser Weise wie ein Leseanfänger an; und tatsächlich lernt man ja auf eine gewisse Art und Weise eine neue Art des Lesens. Der Leseanfänger lernt eine bestimmte Art, Buchstaben zu Wörtern zusammenzubinden, und wenn er dies lange genug geübt hat, fällt ihm das leicht und bereitet ihm darüber hinaus Vergnügen. Dann wiederholt sich das Ganze auf der Satzebene, schließlich bei zunächst kurzen, dann immer längeren Texten. Schließlich sollten Schule und Elternhaus auch verschiedene Formen des systematischen Lesens vermitteln, also eines Lesens anhand von Modellen. Und auf jeder Stufe wird das Lesen neu entdeckt und erweitert, das bisherige Lesen aber als eingeschränkt empfunden und kritisiert.

Grenzen der Methode

Ich arbeite mit dem Modell der semantischen Rollen nun schon seit über 20 Jahren. Bisher habe ich allerdings noch nie so ausführlich die Vorteile und Probleme dieses Modells diskutiert. Vermutlich deshalb habe ich nur sporadisch darauf zurückgegriffen, und vor allem dann, wenn es von der Lektüre nahegelegt wurde, also dann, wenn es sich sowieso um kognitive Psychologie handelte.
Der Nachteil dabei ist klar: solange man ein Modell nur in dem Kontext anwendet, in dem es gebräuchlich ist, kann man dessen Grenzen nur vage erfahren. Für die Reflexion und die Kritik sind Grenzerfahrungen aber wichtig. Es ist also immer sinnvoll, die Reichweite eines Modells auszutesten, indem man es vielfältig anwendet, wie auch Feyerabend dies schrieb:
… dass alle Methodologien, auch die offenkundigsten, ihre Grenzen haben. Das zeigt man am besten durch Aufweisung der Grenzen und selbst der Irrationalität von Regeln.
Feyerabend, Paul: Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität der Wissenschaften. Braunschweig 1978, S. 343
In diesem Sinne war auch Feyerabends »anything goes« gemeint: nicht als prinzipielle Beliebigkeit der Methoden, sondern noch einmal, ganz unvoreingenommen, alle Methoden auf den sinnvollen Bereich und ihre Grenzen auszutesten, und sich nicht von vornherein durch fachwissenschaftliche oder allgemeingesellschaftliche Dogmen einzuschränken.
Jedenfalls hat sich bei mir in den letzten Tagen das Lesenlernen (mal wieder) gewandelt. Es ist noch zu früh, dies aus einer subjektiven Sicht zu berichten; objektiv profilieren sich die Texte, die ich lese, stärker nach ihrem „weltlichen“ Gehalt, nicht nach ihrem semiotischen oder rhetorischen, wie dies bisher meist der Fall war. Dies zu erklären gehört aber an das Ende der Diskussion.
Wer sich jetzt noch auf das Folgende einlassen möchte, muss mit zwei „Gefahren“ rechnen: die eine betrifft den Beginn der Arbeit, hier braucht man ein gewisses Durchhaltevermögen, bis sich erste Gewohnheiten eingeschliffen haben; die zweite betrifft das Ende, wenn die Gewohnheiten so automatisiert worden sind, dass man sich blindlings auf sie verlässt. Mühe bereitet es also, seinen bisherigen Dogmen zu entkommen, und Mühe bereitet es, nicht in neue zu verfallen.
Zwar vergnügt man sich damit nur im Stillen, doch erfährt man bekannte Texte noch einmal und trotzdem ganz anders, also auf wundervolle Weise.

Semantische Rollen

Fillmore

Die Theorie semantischer Rollen geht auf Charles Fillmore zurück. Dieser hatte zunächst nur eine genauere Beschreibung der Fälle (Kasus) im Satz vorgeschlagen, also eine Verfeinerung der grammatischen Theorie. Die grammatische Theorie ist jedoch eng mit der Semantik verbunden; von Humboldt hatte den Nutzen der Grammatik damit bestimmt, dass sich Vorstellungen genauer ausdrücken lassen, wenn diese durch analoge Verhältnisse in der Sprache ausgedrückt werden. Das sprachliche Ideal wäre, dass die grammatischen Verhältnisse die weltlichen Verhältnisse exakt abbilden und die Sprache damit weder illusionär noch verfälschend noch vereinfachend ist.
Was die verschiedenen Kasi angeht, so ist (im Deutschen) zum Beispiel der Dativ längst nicht mehr der ›Kasus des Gebens‹, der Nominativ nicht der ›Kasus des Nennens‹ oder der Genitiv der ›Kasus des Erzeugens‹. Der Genitiv hat sich schon seit langer Zeit in einen genitivus obiectivus und einen genitivus subiectivus (und weiteren mehr) gespalten, sodass damit zwei semantische Rollen für dasselbe grammatische Phänomen existierten.
Zunächst hatte Fillmore also eine genauere Kasustheorie im Sinn. Die dabei geschaffenen Rollen nannte er Tiefenkasus, später Kasusrollen. Wie wir sehen werden, sind diese Rollen allerdings grundsätzlich etwas anderes als der Kasus, auch wenn sich die beiden verschiedenen Bezeichnungen auf denselben Ort im Satz beziehen. Dadurch hat sich die Bezeichnung semantische Rolle oder einfach nur Rolle eingebürgert. Mit einer gewissen Berechtigung bezeichnet Hans Aebli diese auch als Entsprechung zur menschlichen Handlung (Aebli 1993, S. 62 f.).

Der einfache Satz

Von Polenz zählt nun in seinem Buch Deutsche Satzsemantik eine Reihe von semantischen Rollen auf. Am besten lässt sich dies jedoch erklären, wenn man ein Beispiel nimmt, welches unkompliziert verdeutlicht, wie man solche semantischen Rollen identifiziert und verwenden kann.
Im Winter sind die Rehe aus dem Wald in den Garten gekommen, und im Sommer sind die Kinder aus dem Herrenhaus über die Wiesen gelaufen, soweit sie nur konnten.
Kaschnitz, Marie Luise: Der alte Garten. Frankfurt am Main 1999, S. 9
Wenn wir diesen Satz umwandeln, ist es üblich, die entsprechenden Satzteile zu unterstreichen und die semantischen Rollen in Form von Abkürzungen der Unterstreichung beizufügen. Das lässt sich hier, am Computer, nicht machen; deshalb werde ich die Bezeichnung in Klammern hinter dem dafür wichtigsten Wort, meist ein Substantiv, einfügen.
Im Winter (TE) sind die Rehe (AG) aus dem Wald (OR) in den Garten (DIR) gekommen, und im Sommer (TE) sind die Kinder (AG) aus dem Herrenhaus (OR) über die Wiesen (LOC) gelaufen, soweit (DIR) sie nur konnten.
Insgesamt habe ich neun semantische Rollen in dem Satz identifiziert. Diese gehören fünf verschiedenen Typen an:
AG:
Eine der wichtigsten Rollen ist der Agens, also der Handelnde. Hier sind dies die Rehe und die Kinder; der Agens ist an ein aktives Verb gebunden, aber nicht an die Position des Subjekts im Satz und auch nicht an den Kasus des Nominativs.
TE:
Der Temporativ bezeichnet einen Zeitraum oder einen Zeitpunkt. Diese Verschmelzung von Zeitpunkt und Zeitraum ist philosophisch nicht zu rechtfertigen. Auch in der Alltagssprache unterscheidet man zwischen Ereignis und Dauer, aber nur fallweise und dann, wenn es notwendig erscheint. Zunächst soll uns hier eine undifferenzierte alltagssprachliche Auffassung genügen.
OR:
Der Origativ ist die erste von drei Raumbestimmungen. Mit ihr wird das Woher bezeichnet, also der räumliche Ursprung einer Handlung oder eines Vorgangs.
DIR:
Dem entspricht der Direktiv, also das Wohin einer Handlung oder eines Vorgangs.
LOC:
Schließlich wird mit dem Locativ ein Ort, bzw. Raum benannt. Bei diesem Satz ist der Raum ein Durchgangsort. Gelegentlich ist es wichtig, solche Durchgangsorte von Orten des Verweilens zu unterscheiden. Die Erkenntnis aus diesem Beispiel ist zunächst bescheiden. Sie formt ein Textmuster, welches man als ›belebte Landschaft‹ bezeichnen könnte. Zumindest eine Erkenntnis, und nicht die unwichtigste, lässt sich aber daraus ziehen (zumindest, wenn man dies an einer größeren Menge von Beispielen ausprobiert hat): Textmuster werden nicht durch eine Art von Grenze konstituiert, sondern durch eine relative Häufigkeit bestimmter semantischer Rollen.
Eine zweite Sache muss man hier anmerken: die semantische Analyse, die von Polenz vorschlägt, ist wesentlich komplexer. Zu den semantischen Rollen gehört mindestens noch die Funktion des Verbs im Satz, die sogenannte Prädikatsklasse. Diese lasse ich zunächst noch implizit mitlaufen und erläutere sie zu einem späteren Zeitpunkt.

Die Verschränkung der semantischen Rollen

Betrachten wir ein zweites Beispiel, und eines, in dem die Verhältnisse etwas verwickelter werden. Zugleich werde ich hier in einem wichtigen Punkt von der Theorie von Polenz' abweichen.
Das Zitat sollte bekannt sein:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Ich werde nur den zweiten Satz formal untersuchen:
Sie (BEN) zu achten und zu schützen ist Verpflichtung (?) aller staatlichen Gewalt (AG/PAT).
Das Pronomen ›Sie‹ zu Beginn des Satzes verweist auf die Würde; die semantische Rolle wird als Benefaktiv, als Nutznießer, bezeichnet, als Abkürzung: BEN. AG ist der Agens, Handelnde, und PAT der Patiens, der Betroffene.
Zunächst sollte rein optisch auffallen, dass ich eine semantische Rolle nicht benannt habe, eine andere doppelt.
Das Wort ›Verpflichtung‹ korrespondiert mit dem Wort ›Gewalt‹. Die Gewalt ermächtigt zur Handlung, und insofern ist die staatliche Gewalt ein Agens (AG), ein Handelnder; zugleich erfährt sie aber auch die Verpflichtung und muss auf diese Rücksicht nehmen, ist also ein Patiens (PAT), ein Betroffener. In gewisser Weise sind Verpflichtung und Gewalt gegenläufig; und man könnte in metaphorischem Sinne sagen, dass sie dort, wo sie sich treffen, eine Grenze bilden.
Das Problem ist allerdings, schon semantisch, etwas komplizierter. Denn im Prinzip werden hier zwei Arten von Grenzen behandelt, nämlich einmal die, in der der Staat eingreifen muss, weil die Würde des Menschen von anderen bedroht ist: dann ist die staatliche Gewalt aufgefordert, von der Gewalt Gebrauch zu machen. Und auf der anderen Seite darf der Staat nicht die Grenze überschreiten, in der er selbst die Würde des Menschen bedrohen oder verletzen könnte. Diese Grenze wird durch Unterlassung von Handlungen gewahrt.
Hier zeigt sich, dass die Theorie semantischer Rollen einige Erweiterungen erfordert.

Syntaktische Einebnung

Werden Handlungen zusammengeschoben und verdichtet, wie wir dies hier in den Wörtern Verpflichtung und Gewalt finden, kann man von einem Handlungsschwund sprechen. Dass dieser Handlungsschwund massiv ist, kann man durch einen Vergleich feststellen. Entfalte ich nämlich das Wort Verpflichtung zu einer Handlung, komme ich zu folgendem Satz:
Die staatliche Gewalt verpflichtet sich zum Schutz und zur Achtung der menschlichen Würde.
Dies ist aber ein ganz anderer Satz als folgender:
Peter verpflichtet sich seine Mutter zu besuchen.
Im ersten Satz wird ein Handlungsrahmen gesetzt, im zweiten Satz dagegen eine (relativ) konkrete Handlung benannt. Grund dafür ist, dass bestimmte Handlungen auf das Wohlwollen oder die Mitwirkung anderer Menschen angewiesen sind; ein einzelner Satz ist nicht in der Lage, diese Kooperation auszudrücken, und zudem muss sich ein Staat mit demokratischer Grundverfassung auf eine gewisse Offenheit einlassen, kann also gar nicht spezifisch werden.
In diesem Sinne werden Handlungen, aber auch Subjekte syntaktisch verdichtet. Man nennt dies syntaktische Einebnung: in ihr schwinden zugleich Subjekt(e) und Handlung(en).

Subjektivierung

Die Kombination von Handelndem und Betroffenem findet sich in politischen Texten relativ häufig. Sie entspricht in etwa gewissen modernen Theorien des politischen Subjekts, in denen das Subjekt erst dadurch entsteht, dass es sich (in gewisser Weise) dem herrschenden Diskurs unterwirft. Politisches Subjekt und politisches Objekt sind untrennbar miteinander verschränkt: es erleidet seine Handlungsfähigkeit – und dies ist in seiner ganzen Paradoxie zu lesen. Insofern ist das politische Subjekt, indem sich Agens und Patiens vermengen, ein Oxymoron, ein scharfer Widerspruch.

Semantische Rollen und implizite Propositionen

Kehren wir zu den impliziten Propositionen zurück, dann stecken in einem Satz und zwischen Sätzen eine beliebige Menge weiterer Sätze, die expliziert werden können. Damit bestehen neben der manifesten semantischen Rolle auch latente semantische Rollen. Ebenso verschränken sich verschiedene semantische Rollen in zweideutigen, verdichteten oder komplexen Kontexten.
Zwar geht eine solche Behandlung weit über den isolierten Satz hinaus, doch von Polenz weist genau darauf gleich im ersten Satz des Buches hin:
Die Beispieltexte gehören an den Anfang dieses Buches; seine Leser und Benutzer sollten sich mit dem Inhalt und dem Situationskontext der Texte vertraut machen, bevor sie mit der Lektüre dieser Einführung in die Satzsemantik beginnen. Die in diesem Buch herangezogenen und erklärten Beispielsätze sind meist nur mit dieser Kontextkenntnis richtig zu verstehen.
von Polenz, Peter: Deutsche Satzsemantik. Berlin 1988, S. 9

Politische Pläne und politische Handlungen

Ein Satz aus Politische Emotionen

Eine weitere typische Vermischung zweier semantischer Rollen zeigt jene Passage aus Martha Nussbaums Politische Emotionen, die ich neulich zitiert habe und der ich bereits eine längere, aber anders geprägte Analyse gewidmet habe. Der von mir ausgewählte zentrale Satz lautet:
Fürsprecher der Armen, die sich an dem Plan zunehmend störten, dachten gemeinsam darüber nach, wie die Ausstellung Vorstellungen von Chancengleichheit und Opfern miteinbeziehen könne.
Nussbaum, Martha: Politische Emotionen. Berlin 2016, S. 311
Mit semantischen Rollen versehen sieht der Satz so aus:
Fürsprecher (AG) der Armen (CAG/BEN), die (AG/EXP) sich an dem Plan (CAU/IN) zunehmend störten, dachten gemeinsam (AG/COM) darüber (AOB) nach, wie die Ausstellung (AOB) Vorstellungen (ADD/PAR) von Chancengleichheit (PER) und Opfern (PER) miteinbeziehen könne.
Die semantischen Rollen, die ich oben noch nicht erklärt habe, sind:
CAG:
Der Contraagens bezeichnet die Person, auf die eine Handlung hin gerichtet ist. Typisch taucht diese Rolle beim Schenken auf; man schenkt jemandem etwas, das Schenken ist auf einen Contraagens gerichtet. Auch der Fürsprecher richtet seine Handlungen auf jemanden aus. In unserem Fall sind das die Armen, die zugleich Nutznießer sein sollen; deshalb steht hier auch noch der Benefaktiv.
EXP:
Der Experiens oder Erfahrende ist jemand, der einen bestimmten psychischen Zustand an sich erfährt, sei es eine Emotion, sei es ein neuer Gedanke oder eine wiederkehrende Vorstellung.
CAU:
Mit dem Causativ wird ein Ereignis oder Phänomen bezeichnet, das etwas bewirkt, also eine Ursache.
IN:
Als Instrument gelten Gegenstände, Situationen oder Personen, die zum Erreichen eines Ziels genutzt werden.
COM:
Der Comitativ oder Begleitende führt mit dem Agens zusammen eine Handlung aus.
AOB:
Das affizierte Objekt ist von einer Handlung, einem Vorgang oder Geschehen betroffen.
ADD:
Mit dem Additiv werden alle Gegenstände oder Lebewesen bezeichnet, die zu etwas hinzugefügt werden dann im Besitz oder der Verfügungsgewalt eines Menschen oder zum Teil eines Gegenstandes werden. Der Additiv spielt bei allen Vorgängen, bei denen sich etwas verändert oder entwickelt, eine wichtige Rolle, so z.B. in: Der Käse setzte Schimmel an. Schimmel ist hier ein Additiv. Es findet sich aber auch in folgenden Sätzen: Sie bekam große Augen. Er bekam eine Glatze.
PAR:
Der Partitiv ist ein Teil von etwas. Gelegentlich überschneidet sich diese Rolle mit dem Additiv oder ist die Folge von dem Additiv. Die Grenze zwischen Partitiv und Additiv ist oft kulturabhängig. So wird Kleidung in unserer Kultur als Teil einer Person betrachtet; bestimmte schamanistische Völker sehen eine psychische Störung nicht als Teil der Person an, sondern als eine Form der Besessenheit, usw.
PER:
Schließlich schlägt von Polenz außerhalb der offiziellen Liste ein Perspektiv als semantische Rolle vor. Damit kann man alle Rollen im Satz bezeichnen, die etwas perspektivieren oder auf eine Idee hin relativieren, die etwas unter einem bestimmten Aspekt betrachten oder eine bestimmte besondere Betrachtungsweise thematisieren. Gerade in der politischen Philosophie scheint diese semantische Rolle von besonderer Wichtigkeit zu sein, da in dieser oftmals verschiedene Betrachtungsweisen verschiedener Gruppen oder Personen gegeneinander abgewogen werden. Wo die Erzählung davon berichtet, dass ein Mensch verletzt wird, spricht die politische Philosophie von der Vernetzbarkeit des Menschen, und wo die Erzählung die Liebe an einem konkreten Beispiel schildert, wird sie in der politischen Philosophie zu einer Perspektive des politischen Handelns.

Handelnder und Behandelter

Regelmäßig finden sich in erzählenden und politischen Texten Überschneidungen von Rollen, zum Teil auch Unsicherheiten oder bewusste Vermischungen. So ist der Benefaktiv oftmals gleichzeitig ein Contraagens. Das liegt in der Natur der Sache: wer das Ziel einer Handlung ist, zieht aus dieser meist einen Nutzen oder einen Schaden. Allerdings ist das nicht immer so. Gelegentlich ist eine Handlung so gewöhnlich, dass sie als neutral eingestuft werden kann. Dies ist z.B. in dem Satz ›Sie schickte ihm eine Mail.‹ der Fall. Und ebenso kann der Nutznießer vom Ziel der Handlung unterschieden sein, wie dies z.B. in dem Sprichwort ›Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte‹ ausgedrückt wird.
Eine andere, sehr typische Konstellation ist die von Handelndem und Erfahrendem. Zahlreiche Erzählungen bauen auf Figuren, die zugleich handeln und erleben; dort findet man dann einen raschen Wechsel von AG und EXP an derselben Person und immer wieder auch ihre Vermischung zu AG/EXP in einem Satzteil und als Bestandteil eines Satzes.
Bei unserem Beispiel ist nicht deutlich, ob dieses ›sich stören‹ als aktive Handlung oder als Erfahrung zu verstehen ist. Deshalb ist hier die Zusammenstellung der beiden semantischen Rollen auch nicht eine Vermischung, sondern ein Zeichen semantischer Vagheit.
Schließlich habe ich eine dritte Überschneidung in dem Satz bezeichnet, die von AG/COM. Auch dies ist in politischen Gruppen immer eine Sache der Einschätzung: wird eine solche Gruppe streng geführt und auf eine bestimmte Meinung verpflichtet, hat man es im Prinzip mit einer einzigen politischen Person zu tun und damit nur mit einem einzigen Handelnden. Gibt es ein solches vereinheitlichendes Prinzip nicht, begleiten sich die Personen gegenseitig und bilden nur zeitweise ein Kollektivindividuum.

Aktion und Reaktion

Eine weitere typische Verschränkung ist die von Causativ und Instrument, wie hier der Plan für die Weltausstellung. Für diejenigen, die für die Weltausstellung verantwortlich sind, ist der Plan ein Instrument; für die Fürsprecher der Armen ist sie eine Ursache, die sie zum Handeln und zu eigenen Forderungen bewegt. Dass sich diese beiden Rollen verschränken, ist natürlich. Diese Verschränkung findet sich regelmäßig dann wieder, wenn zwei Gruppen oder Personen aufeinander reagieren.

Ideologische Bestimmungen

Gerade in politischen Texten fällt auf, dass die Verwendung bestimmter Personen, Gegenstände oder Ideen in Form spezifischer semantischer Rollen oder Konstellationen von Rollen geschieht und dadurch ein bestimmter Eindruck erzielt wird. In der Passage von Martha Nussbaum ist bemerkenswert, dass die Armen nie in der Rolle des Agens auftauchen. Immer werden sie von jemandem repräsentiert, so auch in diesem Satz. Doch auch die wesentlichen Nutznießer der Weltausstellung handeln nicht, sie sind sogar, mehr noch als die Armen, durch zahlreiche Passivierungen verschwunden.
Im Allgemeinen sollte man vorsichtig sein, die semantische Rolle Benefaktor als rein positiv oder rein negativ zu sehen. In dem Fall, den Martha Nussbaum schildert, wird zwar behauptet, dass die Armen die Nutznießer seien (und das nicht nur in diesem Satz), aber zugleich werden sie mit ihrem persönlichen Willen und der Chance der Willensbildung ausgeschlossen; sie sind immer nur das Ziel politischer Handlungen, nie deren Träger. Wenn Martha Nussbaum schreibt:
Wie es oft bei patriotischen Gefühlen der Fall ist, erwies sich das Gelöbnis bald als eine Formel sowohl der Inklusion als auch der Exklusion.
Nussbaum, Martha: Politische Emotionen. Berlin 2016, S. 312
so zeigt sie doch nicht, dass diese Spaltung von Anfang an vorhanden ist. Denn nicht die Armen sind daran interessiert, dass in der Weltausstellung allgemeine Werte der Chancengleichheit dargestellt werden. Offensichtlich genügt ihnen auch, dass es außerhalb der Weltausstellung einen Jahrmarkt gibt, auf dem auch sie sich vergnügen können.
Ich hatte bisher gezeigt, wie man Sätze analysiert; und wer mit der semantischen Analyse beginnt, sollte auch zunächst die Sätze vollständig betrachten. Man kann aber auch bestimmte Gegenstände oder Personen über eine längere Textpassage hinweg betrachten, ohne jeden einzelnen Satz vollständig zu bestimmen. Meist reicht das, um von einem ersten Augenschein zu einer genaueren Darstellung zu kommen.

Schluss

Die semantische Analyse kann nicht alleine auf die semantischen Rollen beschränkt werden; dieser Artikel ist als Einführung gedacht, eine Einführung in die Methode, und ich hoffe, ich konnte zeigen, dass diese Methode einen gewissen Nutzen hat. Ein weiterführender Beweis der Fruchtbarkeit steht allerdings noch aus. Dieser soll in weiteren Artikeln gezeigt werden.
Wir werden den Bereich in mehrere Richtungen ausdehnen. Zum einen habe ich nur einige Ausschnitte aus dem Modell semantischer Rollen vorgestellt, und hier muss ich natürlich den Rest noch nachliefern. Dann müssen wir diese auf weitere Textsorten anwenden. Schließlich sind weitere Versatzstücke wie die semantischen Prädikatsklassen, der Prädikatsrahmen, der Handlungsgehalt von Sätzen und die semantischen Klassen mit zu betrachten.
All dies muss aber in dem noch weiteren Rahmen des präzisen Lesens verortet werden. Lesen heißt dann, die Konfigurationen des Sinns zu erfassen und zu bedenken; dies darf man auch Kritik nennen.

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