07.08.2015

Zurückschauen, vereinfachen (Verrätselung)

Das mache ich gerade: ich sehe alle meine alten Notizen durch, zumindest alle, die im Zettelkasten stehen. Allerdings schreibe ich nicht, sondern ich zeichne, entwerfe Schaubilder und kleine Skizzen. Um mich herum stehen Behälter mit Stiften, Buntstifte, dicke und dünne Faserstifte und die ganz wunderbaren Pinselstifte mit Künstlertusche, zudem vier Kugelschreiber und mehrere Bleistifte.

Verrätselung

Alte Notizen

Anfang Juli habe ich begonnen, statt in den Computer in ein Schreibheft zu schreiben. Mittlerweile ist dieses fast voll. Ich habe es allerdings auf mehreren Seiten fast ausschließlich mit Schaubildern vollgefüllt.
Gerade arbeite ich zur Verrätselung. Und kehre zu ganz alten Notizen zurück, solchen, die ich 2007 gemacht habe, eventuell schon früher (ich kenne nur das Datum, zu dem ich meine Notizen in den Zettelkasten übertragen habe, nicht mehr das Datum, zu dem ich die Notiz tatsächlich gemacht habe). Die Verrätselung war mit ein Grund, warum ich mich dann in den letzten Jahren sehr intensiv und der Argumentationslehre auseinandergesetzt habe.

Rätsel, linguistisch gesehen

Alle meine Notizen, die zu Harry Potter, zu diversen Büchern von Stephen King, zu allen möglichen Krimis, liegen seit Jahren ohne System und ohne Ordnung auf meinem Computer. Da ich diese jetzt aber besser überblicken kann, stellt sich die Verrätselung als etwas recht Einfaches dar.
Ein Rätsel ist nichts anderes als eine zerstreute und entstellte Definition eines Willens. Jemand will etwas. Doch das, was er will, bleibt dem Leser (und dem Protagonisten) verborgen. Sichtbar wird nur ein Teil des Handlungsresultats (zum Beispiel ein Tatort). Die Rekonstruktion, die der Krimi leistet, zielt natürlich auf die Motivation des Täters ab. Zumindest im klassischen Krimi verläuft sie vom Tatort zum Tathergang zum Tatmotiv und schließlich zum Täter.

Der Widersacher

Im Mittelpunkt

Das bedeutet natürlich auch, dass nicht der Detektiv im Mittelpunkt der Planung steht, sondern sein Kontrahent. Das gleiche lässt sich aber auch von Fantasygeschichte sagen, die einen deutlichen Bezug zum Kriminalroman haben, wie zum Beispiel Harry Potter oder die Chroniken der Unterwelt. Bei Harry Potter ist dies natürlich Lord Voldemort; in Chroniken der Unterwelt heißt der Widersacher Valentin. Diese wollen etwas; dadurch wird die Welt des Protagonisten gründlich durcheinandergewirbelt (weil der Protagonist etwas anderes will).

Bruchstücke

Eine Verrätselung findet nun in dem Sinne statt, dass die Taten des Widersachers nur bruchstückhaft und unzusammenhängend in die Welt des Protagonisten hineingeraten. Die erste Aufgabe des Schriftstellers ist also, den Willen des Widersachers in dieser bruchstückhaften Weise vor dem Protagonisten und dem Leser auszubreiten.
Und da diese Bruchstücke nicht richtig zugeordnet werden können, stellt der Protagonist allerlei Vermutungen darüber an, was dieses oder jenes bedeuten könnte. Er interpretiert diese Bruchstücke, den Tatort oder die Zeitungsmeldung, die geheimnisvolle Stimme oder das abgehörte Telefon; und je nach Willen des Autors interpretiert er falsch oder richtig: er rekonstruiert oder entstellt jenes, was der Täter gewollt hat.

Metonymisieren

Hier nun kommen die Metonymien ins Spiel. Jedes Rätsel basiert auf diesen.
Wenn man als Autor von Kriminalromanen (oder diesen ähnlich stehenden Genres) also tatsächlich von dem Willen des Bösen (oder Täters oder Widersachers) ausgeht, und man nun gut daran, den ganzen Plan, den sich der Widersacher ausgeheckt hat, zu metonymisieren.
So will Lord Voldemort an den Stein der Weisen gelangen. Zunächst aber bekommt Harry Potter davon nur Bruchstücke mit. Wenn er mit Hagrid in die Verliese der Zaubererbank fährt und dort einen ersten Blick auf das geheimnisvolle Päckchen erhascht, dann kennt er weder den Inhalt des Päckchens noch die gesamte Bedeutung. Bei einer Metonymie weiß man, worauf sie zeigt, bzw., welche Vorstellung man sich dazu machen muss. Bei dem geheimnisvollen Päckchen allerdings ist genau dieser Platz leer; dies nenne ich eine leere Metonymie. Sie ist natürlich nicht leer. Gäbe es jenen anderen Ort, jene Vorstellung nicht, hätten wir keine Metonymie vorliegen, sondern nur ein ganz gewöhnliches Zeichen. Aber jede Metonymie verweist auf einen größeren Zusammenhang. Jede Leiche mit einem Messer in den Rücken zeigt auf ein größeres Ganzes, auf einen Tathergang, auf ein Tatmotiv.

Täuschung

Umgekehrt kann natürlich der Autor den Leser zunächst hinters Licht führen und behaupten, dass eine bestimmte Metonymie nur ein Zeichen ist. Der Turban von Professor Quirrell verbirgt Lord Voldemort. Doch zunächst lässt uns der Text glauben, und über lange Zeit glauben, dass der Turban nur ein Turban ist.
Damit einher geht oft eine falsche Erklärung. Als Harry Potter zum ersten Mal in der großen Halle des Schlosses Hogwarts sitzt, spürt er plötzlich ein Brennen seiner Narbe. Auch das ist eine leere Metonymie. Doch Harry erklärt sich dieses Ereignis sofort, indem er Professor Snape als Ursache vermutet. Er versteht also, dass das Brennen seiner Narbe eine Metonymie ist, aber er füllt diese Metonymie falsch auf. Dies ist, von der Zeichentheorie her gesehen, die Definition einer Täuschung: sie ist eine falsch aufgefüllte Metonymie. So kann in einem Koffer etwas vermutet werden, dass dann doch nicht in ihm ist; so kann der Detektiv glauben, der Mörder habe das Fenster zerbrochen, obwohl es die Ermordete war.

Die Welt der Zeichen

So reduzieren sich ganze umfangreiche Bücher auf wenige grundlegende Elemente.
Natürlich ist es dann doch nicht ganz so einfach. Nur von dem Blick des Rätsels aus gesehen kann man zu einer solch einfachen Definition kommen.
Zumindest eine Sache sollte dem Autor allerdings bewusst sein: was auf der Ebene der Zeichen einfach nur Definitionen und Metonymien sind, gilt nicht für die Welt des Protagonisten. Dort ist es eben ein konkreter Turban, eine konkrete Stimme aus der Wand, ein tatsächlich verwüstetes Zimmer, eine wirkliche Leiche. All das, was der Autor dann zu schildern hat, muss geschehen, als ob die Welt real wäre; Leser wollen sich etwas vorstellen, nicht Zeichengefüge untersuchen. Sich aber im Bewusstsein zu behalten, dass ein Krimi auch nur ein Zeichengefüge ist, mag dem Autor helfen, wenn er dabei ist, ein Rätsel zu konstruieren.

Ein früherer Aufsatz von mir ist dazu sehr hilfreich: Krimis plotten und schreiben. Dieser Artikel hat allerdings das Problem, dass er sich noch zu sehr auf die Tätigkeit des Detektivs konzentriert. Die erscheint mir heute, obwohl sie dann im Roman im Mittelpunkt steht, als recht unwichtig, wenn man beim Planen ist. Trotzdem zeige ich dort die enge Verknüpfung zwischen Argumentation und Krimiplot sehr gut.

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