08.06.2014

Übersetzungen (Wittgenstein und die Kinder)

Vor über einem Jahr hat mich der (philosophische) Wind von Christa Wolf zu Ludwig Wittgenstein geweht. Seitdem lässt mich Wittgenstein nicht mehr los. Dabei ist es gar nicht so sehr seine Philosophie, sondern seine Art und Weise, an Phänomene heranzugehen, die mich so fasziniert.

Leibhaftig

Leibhaftig von Christa Wolf beschäftigt mich seit letztem Frühjahr. Seitdem kehre ich immer wieder zu diesem Buch zurück, mehr, als zu jedem anderen Buch von dieser wunderbaren Autorin. Im Laufe der Zeit sind kleine Netzwerke entstanden, z.B. eben zu Ludwig Wittgenstein.
Letztes Jahr im Spätsommer habe ich z.B. geschrieben (die Seitenzahlen ohne Literaturangabe beziehen sich auf Wittgensteins Philosophische Grammatik):
Sätze sind anfällig für ein "Außen". So verweist ›der Baum‹ auf ein Bild, das Wort ›wachsen‹ auf eine Erfahrung, die man nicht nur mit Bäumen machen kann, ›im Frühjahr‹ ist ebenfalls eine Erfahrung, an die man sich erinnert und schließlich ist das Wort ›noch‹ ein logischer Partikel, der sich auf eine Aussage bezieht. So entsteht der Satz: ›Der Baum wächst im Frühjahr noch.‹

"Kann man einen halben Satz verstehn?" (39)
Kann man eine Ellipse verstehen? Ja, wenn sie zu einer anderen Gruppe dazugehört.
So macht folgende Stelle durchaus Sinn: "Absinken. Dass immer dann das Klagen lauter wird. Abfahrt. Eine neue, hohe Welle der gleichen Flut, die nimmt mich mit. Untertauchen. Untergetauchtwerden. Dunkel. Stille." (Leibhaftig, 8)
Natürlich, denn hier schiebt sich unter die elliptischen Sätze ein Wortfeld, das des Wassers. Zugleich gibt es aber auch diese Isotopie des Nach-unten-Sinkens, zu der zugleich der Abstieg in einer Hierarchie gehört (Urban), als auch in den Keller oder in die Hölle hinabzusteigen. Eine zweite Isotopie wird angedeutet durch das Wort Abfahrt, die Isotopie des Reisens. Denn die Icherzählerin reist, wenn auch auf ganz andere Art und Weise, als die Kultur dies vorsieht oder es für sie persönlich wünschenswert ist. Die Reise im Krankenwagen, die Reise durch die dunklen Keller, die Reise in die Erinnerungen und einmal, da treffen sich die Icherzählerin und ihr Antagonist Urban an der Passkontrolle. Passkontrolle heißt: darfst du überhaupt auf diese Art und Weise reisen?

Andere Denkordnungen — Ellipse, Anakoluth und Aposiopese

Die "Misshandlung" eines Satzes, zum Beispiel in der Ellipse, verweist auf eine andere Ordnung als die Grammatik.
(zu 39)

Das Anakoluth dagegen verweist eher auf eine andere Denkordnung als auf eine andere Ordnung insgesamt. Im Artikel zum Anakoluth auf Wikipedia wird dies deutlich:
"Man fängt einen Satz an, besinnt sich neu und fährt in einer Weise fort, die dem begonnenen Satz nicht entspricht, oder bricht ihn auch ab. Beispielsweise kann die grammatische Beziehung der Satzglieder gestört sein, oder ein neu hereinbrechender Gedanke stört die Folgerichtigkeit des Satzes; oft wird einfach umgeplant."
(zu 39)

Spannend ist auch, dass Ernst Bloch, der scheinbar für Christa Wolf eine große Rolle spielt, einen Artikel über das Anakoluth verfasst hat. Noch einmal aus dem Wikipedia-Artikel:
"Ernst Bloch widmete der Figur einige Aufmerksamkeit und bescheinigte ihr, die Fragmentierung der Welt besser abzubilden als die üblicherweise ungebrochene Schriftsprache: "Das an sich Klare kann auch in der Darstellung klar sein. … Anders das Gährende, das sich Gebärdende, das noch im Schwange ist …. Ihm entspricht in der Sprache das Bewegte, das Opake, der Neueinsatz, das Anakoluth. Eine solche Sprache des ›Unvollendbar‹ … steht nicht in der Gefahr, dort Vollendung vorzuspiegeln, wo keine ist, während eine geglättete Sprache durch ihre eigene Glattheit das zu Sagende gerade verbirgt.""
Im Gegensatz zu dem Eingangssatz bei Wikipedia betont Bloch hier die Abbildfunktion dieser rhetorischen Figur. Der Eingangssatz betont die Unordnung der grammatischen Regel, spricht von einer Störung, einer gewissen Impulsivität oder einer geringen Fähigkeit zu planen. Bloch dagegen verweist auf das utopische Moment dieser Figur, nicht auf den Mangel an Kompetenz.
(Zu 39)

Damit kann man deutlich sagen, dass sowohl die Ellipse (das Weglassen von Satzgliedern bis hin zu einem völligen Skelett aus einem Wort), das Anakoluth (das "dysgrammatische" Vermischen zweier Satzgefüge), die Aposiopese (eigentlich eine Form der Ellipse und nicht, wie Wikipedia das schreibt, eine Form des Anakoluth: nämlich das Abbrechen eines Satzes), die Retraktion (eine Art Korrektur eines Satzgliedes, das ausgesprochen, dann aber sofort verändert wird) und schließlich eine tatsächliche zerbrochene Ineinanderfügung von zwei grammatischen Konstruktionen (die man dann vielleicht, um abzugrenzen, als kontaminierendes Anakoluth bezeichnen könnte). Damit also könnte man deutlich sagen, dass sich die Ordnung eines Satzes durchaus auflösen kann, ohne die Ordnung in einem Textmuster zu verlieren.
(Zu 39)

Die radikale Ellipse und das Verstehen

Wie versteht man eine rhetorische Figur? Doch bei vielen der rhetorischen Figuren nur, indem man erkennt, dass sie den geregelten Ablauf der Sprache in irgendeiner Weise verletzen.
(Zu 39)

Die radikale Ellipse (der Skelettsatz) hatte ich zunächst der Verdinglichung zugeschlagen. Tatsächlich aber bezieht sich ein solcher Skelettsatz, manchmal nur Ein-Wort-Sätze, immer auf seine Umgebung.
Einige Beispiele aus Christa Wolfs Leibhaftig:
"Verletzt." (7) — Dieses Wort springt mich an. Scheinbar ist es aus dem Zusammenhang gerissen. Vielleicht eine Art Ruf. Im Folgenden aber wird es erklärt, durch eine Szene im Krankenwagen.
"Elixier. Lebenselixier." (7) — Eine Präzisierung. Zugleich wird damit der vorhergehende Satz auf seinen wichtigsten Aspekt zusammengefasst (Emphase): "Aus dem ovalen durchsichtigen Behältnis, das über ihr im Rhythmus des Krankenwagens schüttert, mit Tropfen um Tropfen über Schläuche in ihre Armvenen geleitet. Elixier. Lebenselixier." (7); logisch gesehen natürlich die Extrapolation.
(Zu 39)

So gesehen ist die Ellipse ein Übergang zur Theorie, ein Übergang von der praktischen Situation zur sprachlichen.
Es ist aber die radikalste Form der sprachlichen Situation: wenn die Wörter noch keine Verbindung untereinander haben, die die Situation ersetzen; aber eben auch nicht sprachlich vortäuschen. Die radikale Ellipse ist zugleich gewaltsam und sehr zerbrechlich. Sie ist gleichsam der Soldat in der Materialschlacht.
Andererseits: die nicht geordneten Wörter sind weder einer Norm unterworfen (sie haben noch keinen Teil an der sprachlichen Hegemonie), noch verschweigen sie die Pflicht zur Argumentation (sie haben also eine gewisse Nähe zur Aufklärung).
Schließlich färben sich diese radikalen Ellipsen stark nach ihrer Interpretation ein. Sie sind für das Lesen empfänglich.
(Zu 39)

In zahlreichen Sätzen in Leibhaftig fehlt das Verb, bzw. der Verbkern des Prädikats: "Über ihr zwei Tropfbehälter." (Leibhaftig, 8)
Zum einen wird hier das Faktische suggeriert, zum anderen das Statische.

Übersetzungen und Quellen

Übersetzen heißt, das Original, die Quelle zu beleuchten:
"Ich kann als Erklärung nur das musikalische Bild in das Bild eines anderen Vorgangs übersetzen; und dieses Bild jenes beleuchten lassen." (41)
Sinn jeglicher Transmedialisierung: das Verständnis des Originals. (Hier ist auch der Einbruch — ein möglicher Einbruch! — für die verletzende und befriedende Wirkung der Sprache. Indem ich die Sprache in Akte des Verstehens übersetze, mache ich sie wirksam.) (?)

Aber es ist ein schöner Gedanke: Verstehen heißt etwas zu übersetzen, die Anknüpfungsstellen zu finden. (Aber davon gibt es ja Myriaden! — Genau aus diesem Grund kann man auch nicht zu Ende verstehen. Das Verständnis ist nur ein Horizont, kein Ort. — Intertextualität, Vielstimmigkeit, Palimpsest)
(Zu 41)

Wollte man also das Verständnis zu einem Machtwort machen, dann käme das einer Art Rassismus gleich: gut ist nur, was ich sowieso schon kenne (die Heimat) und was ich kenne, ist das, was gut ist (die Tautologie).
(Zu 41)

Es gibt kein Verstehen ohne das Experiment (das Verständnis-Experiment).
(Zu 41)

Ein ganzes Stück weit wird diese Behauptung von der Neurophysiologie auch gestützt. Wenn das Gehirn über Vernetzungen arbeitet, dann ist es genau diese Verknüpfung, diese Verkopplung, die hier ihre "biologische" Basis findet (allerdings haben die Neurophysiologen noch nicht entdecken können, was ein Gedanke auf der biochemischen Ebene eigentlich ist).
(Solange man diese Basis nicht ausgearbeitet hat, muss man sich auf eine phänomenologische Beschreibung des Gedankens stützen, d.h. im weitesten Sinne auf eine Täuschung, die durch Reflexion erzeugt, aber auch korrigiert wird.)
(Zu 41)

Könnte man sagen: die Wörter eines Satzes umstellen ein Wort, wie die Vorstellungen ein Wort umstellen. Und so lernen wir nach und nach die Sätze kennen, bis sie selbst wieder zu Akten des Verstehens werden.
(Zu 41)

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