22.06.2014

Lese-Sprünge

Man möge mir meine Abstinenz vom Internet verzeihen. Ich bin auch seit einer Woche nicht mehr auf Facebook gewesen (was sich als sehr angenehm empfinde). Fleißig bin ich aber, wirklich.
Im Hintergrund lese ich sehr viel Wittgenstein, auch sehr viel über Wittgenstein. Vor allem durch Kant, Arendt und Butler angeregt beschäftige ich mich intensiv mit der Anthropologie. Derzeit ist es ein Buch von Gunter Gebauer: Wittgensteins anthropologisches Denken. Weitere Bücher stehen auf meiner Leseliste. So wollte ich mir vor einigen Monaten Blumenbergs Beschreibung des Menschen kaufen. Das hatte ich mir im Februar auf der Bibliothek ausgeliehen und fand es so faszinierend, dass ich es sofort kaufen wollte. Leider aber war es vergriffen. Mein aufmerksamer Buchhändler hat mich vor zwei Monaten darauf aufmerksam gemacht, dass es ab August neu verlegt wird.
Blumenbergs Ausführungen zeigen sehr schön, dass man die Lebenswelt als interaktiv ausgehandelt verstehen kann.

Blumenberg schreibt z.B. von dem vorprädikativen Status der Lebenswelt (S. 50). Hier wäre ein Vergleich mit dem späten Wittgenstein interessant, bei dem die Sprachspiele vor allem durch eine Nachbarschaft geprägt sind, die operativ zusammenwirkt.
Ein Prädikat kann auf doppelte Art und Weise gebraucht werden:
(1) ist es eine Aneignung von Merkmalen durch ein Subjekt, welches zugleich als eine Kontrolle der Merkmale durch das Subjekt als auch einer Unterwerfung des Subjekts unter die Merkmale etabliert, die in etwa der Satz von Foucault ausrückt:
Im Herzen der Disziplinarprozeduren manifestiert sie [die Disziplinaranstalt] die subjektivierende, die als Objekte wahrgenommen werden, und die objektivierende Vergegenständlichung jener, die zu Subjekten unterworfen werden.
Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1991, S. 238.
(2) bildet es zusammen mit dem Subjekt ein Gefüge, in dem sich beides, Subjekt wie Prädikat, realisiert: die Aussage ist damit nicht mehr ein Herrschaftsverhältnis, sondern der Ausdruck eines verwirklichenden Austauschs.

Anders gesagt:
Was hier Sphäre heißt, wäre demnach, in einem ersten und vorläufigen Verständnis aufgefasst, eine zweihälftige, von Anfang an polarisierte und differenzierte, gleichwohl innig verfugte, subjektive und erlebende Kugel - ein zweieinig gemeinsamer Erlebnis- und Erfahrungsraum. Durch Sphärenbildung ist folglich, was die Tradition Geist nennt, ursprünglich räumlich ausgespannt. Ihrer Grundform nach erscheint die Sphäre als eine Zwillingsblase, ein ellipsoider Geist- und Erlebnisraum mit mindestens zwei polarisch einander zugewandten und zugehörigen Einwohnern. Leben in Sphären heißt also Wohnen im gemeinsamen Subtilen. Es ist die Absicht [...], den Nachweis zu führen, dass das Sein-in-Sphären für Menschen das Grundverhältnis bildet - freilich eines, das von Anfang an durch die Nicht-Innenwelt angetastet wird und das sich ständig gegen die Provokation des Außen behaupten, wiederherstellen und steigern muss. In diesem Sinne sind Sphären immer auch morpho-immunologische Gebilde. Nur in innenraumbildenden Immunstrukturen können Menschen ihre Generationenprozesse weiterführen und ihre Individuationen vorantreiben. Noch nie haben die Menschen unmittelbar zur so genannten Natur gelebt, und erst recht haben ihre Kulturen niemals den Boden dessen betreten, was man die nackten Tatsachen nennt; sie haben ihr Dasein immer schon ausschließlich im gehauchten, geteilten, aufgerissenen, wiederhergestellten Raum. Sie sind die Lebewesen, die darauf angelegt sind, Schwebewesen zu sein, wenn schweben bedeutet: von geteilten Stimmungen und von gemeinsamen Annahmen abhängen. Somit sind die Menschen von Grund auf und ausschließlich die Geschöpfe ihres Interieurs und die Produkte ihrer Arbeiten an der Immanenzform, die ihnen unabtrennbar zugehört. Sie gedeihen nur im Treibhaus ihrer autogenen Atmosphäre.
Sloterdijk, Peter: Sphären I, Frankfurt am Main 1998, S. 45 f.

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