11.06.2014

Soziale Passivität

Kulturen, die an der Mitteilung orientiert sind, haben einen beweglicheren, dynamischeren Charakter. Sie neigen dazu, die Menge der Texte unendlich zu vergrößern, und erzeugen einen schnellen Zuwachs an Wissen. Ein klassisches Beispiel ist die europäische Kultur des 19. Jahrhunderts. Die negative Seite dieses Typs von Kultur ist die scharfe Trennung der Gesellschaft in Übermittelnde und Empfangende, die psychologische Erwartung, dass man Wahrheit in Gestalt einer fertigen Mitteilung von einer fremden geistigen Anstrengung erhält, und die wachsende soziale Passivität jener, die in der Position der Empfänger der Mitteilung sind. Es ist offensichtlich, dass der Leser eines neuzeitlichen europäischen Romans passiver ist als der Hörer eines Zaubermärchens, der die aufgenommenen Formeln erst in Texte seines Bewusstseins transformieren muss, und dass ein Theaterbesucher passiver ist als ein Teilnehmer des Karnevals. Die Tendenz zur geistigen Konsumhaltung ist die gefährliche Seite einer Kultur, die einseitig auf das Empfangen von Information von außen ausgerichtet ist.
Lotman, Jurij: Die Innenwelt des Denkens. Berlin 2010, 51
Das ist ein hübsches Beispiel, wie Oppositionen überraschend umgedreht werden können. Normalerweise setzt man Aktivität mit Dynamik gleich. Lotman behauptet hier das Gegenteil. Dynamische Gesellschaften sind durch eine große soziale Passivität geprägt.

Ich habe den ganzen Argumentationsgang von Lotman noch nicht so richtig verstanden. Insbesondere ist mir recht unklar, wie der Rhythmus eines Textes (als Beispiel) zu einer Veränderung der Persönlichkeit beim Leser führt. Doch zumindest erklärt seine Behauptung (oder könnte erklären), warum die zahlreichen Veränderungen der letzten 20 Jahre zu solchen Auswüchsen an Biederkeit geführt haben. Im kulturellen Feld ist die Neuerung und das Experiment geradezu zu einem Makel geworden, während man recht stumpfsinnig und willkürlich das Wort Kreativität auf alles Mögliche klebt, Hauptsache, es ist nichts Neues.

Zumindest eine Sache kann man aber zu diesem Zitat sagen: der Begriff der Aktivität, den Lotman hier benutzt, ist nicht mit der Handlung gleichzusetzen. Aktivität scheint eher darin zu bestehen, neue Informationen zu erschaffen, an der Produktion von informativen Ereignissen teilzunehmen. Dann aber wäre die Aktivität, die Lotman meint, eine aktive politische Teilnahme (wobei man Politik im weitesten Sinne hören darf). Umgedreht wäre die reine Information etwas, was nicht auf das aktive politische Verhältnis des Individuums einwirkt.

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