23.06.2014

Ethische Demonstrationen

Das, und nicht so sehr ihr Selbstverliebtsein und der speckige Heiligenschein, ist es, was wir an den »Gutmenschen« so hassen: dass das Tun für andere zugleich ein Spektakel sein muss und dass es sein Objekt zugleich distanziert und abstrahiert. Da man nichts Gutes tun kann ohne die Hilfe der Medien, wird das Objekt von Solidarität und Zuwendung weitgehend fiktionalisiert. Aber seien wir ehrlich: Auch die christlichen Missionare erfanden sich ihre Objekte. Kann man etwas Furchtbareres von einem System sagen, als dass es auch noch die Tugend der Caritas in eine Blödmaschine zu verwandeln versucht?
Seeßlen, Georg/Metz, Markus: Blödmaschinen, Frankfurt am Main 2011, S. 536
Die gegenseitige Hilfe - die Kooperation in den Konflikthandlungen - sichert noch nicht den individuellen Erfolg. Der Zusammenhalt wird für den einzelnen nicht unmittelbar prämiiert, die Gemeinsamkeit bedeutet zunächst nur ein Wagnis. Was die Besitzlosen sich wirklich gegenseitig zu bieten haben, entscheidet sich erst später. Die Solidarität ist also davon abhängig, dass sich alle Beteiligten auf die übernächste Phase hin orientieren. Nicht auf einen Augenblicksvorteil, sondern auf ein fernes Ziel muss die Organisationsbereitschaft sich konstituieren, nicht auf den wirklichen, sondern den imaginären Liegestuhl. Sie kann sich nur auf ein spekulatives Vertrauen gründen, auf eine spekulative Solidarität, - eine unvergleich viel höhere Leistung, als sie den Privilegierten zugemutet wird.
Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 194 f.
Ich habe den Abend über noch Zitate zur Solidarität gesammelt. Mir fällt bei den Schriften von Marcuse immer wieder unangenehm auf, dass er große Worte in den Raum schmeißt, ohne sie zu vermitteln. Solidarität ist ein solches. In diesem Sinne ist Marcuse ein Prediger, wie Gauck die Freiheit predigt. Ähnliches muss man Arendt vorwerfen. — Ich gestehe aber ein, dass ich mich mit beiden Denkern nicht gut genug auskenne und mich in ihren Werken immer noch tastend vorwärts bewege. Andererseits gefallen mir solche Passagen wie die oben zitierten wesentlich besser, da sie den Begriff in ein Netzwerk hineinstellen. Sie definieren, kritisieren.

Roland Barthes hat diese isolierte Begrifflichkeit einmal wunderbar geschildert:
Paris-Match hat uns eine Geschichte erzählt, die vieles über den kleinbürgerlichen Mythos des Negers verrät. Ein junges Lehrerehepaar hat das Land der Kannibalen erforscht, um dort Bilder zu malen; Bichon, ihr wenige Monate altes Baby, nahmen sie mit. Man ist entzückt über den Mut der Eltern und des Kindes.
Zunächst einmal ist nichts irritierender als ein Heldentum ohne Objekt. Eine Gesellschaft, welche die Formen ihrer Tugenden unmotiviert zu entfalten beginnt, muss in einer ernsten Lage sein. Wenn die Gefahren echt waren, die der kleine Bichon durchgemacht hat (Sturzfluten, Raubtiere, Krankheiten usw.), so war es eigentlich töricht, ihn solchen Gefahren auszusetzen, bloß um in Afrika ein bisschen zu malen und dem zweifelhaften Ehrgeiz freien Lauf zu lassen, »einen Rausch von Sonne und Licht« auf der Leinwand festzuhalten. Und noch mehr zu verurteilen ist es, diese Dummheit für eine schöne, schmückende und bewegende Kühnheit auszugeben. Man sieht, wie in diesem Fall der Mut funktioniert: als ein formaler und hohler Akt, der, je unmotivierter er ist, desto mehr Respekt eingibt. Wir befinden uns in einer Pfadfinderkultur, in welcher der Code der Gefühle und Werte von den konkreten Problemen der Solidarität und des Fortschritts völlig losgelöst ist. Es ist der alte Mythos des »Charakters«, das heißt der »Dressur«. Die Leistungen Bichons sind von der Art spektakulärer Bergbesteigungen: Es sind ethische Demonstrationen, die ihren Wert letztlich nur von der Publizität beziehen, die sie erhalten.
Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 2012, S. 82.

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