05.10.2010

Udo Reiter und Sarrazin

Offensichtlich gibt es ein neues Wort: sarrazinesk.
Damit wird wohl derzeit jegliche Kritik am Islam, die politisch inkorrekt erscheint, in ein Adjektiv fassbar.

Udo Reiter twittert

Gefunden habe ich dieses wunderbare Adjektiv in einem Artikel über Udo Reiter, der auf Twitter folgende Aussage veröffentlicht hat:
"Einheitstag 2030: Bundespräsident Mohammed Mustafa ruft die Muslime auf, die Rechte der Deutschen Minderheit zu wahren."
Damit erntete Reiter eine "Welle der Empörung". Nur: warum?

Die Richtung der Parodie

Diese Zwischenüberschrift darf man durchaus doppeldeutig lesen. Was Reiter veröffentlicht hat, ist eine Parodie. Eine gute Parodie tut weh. Und tatsächlich, wenn man sich ernsthaft überlegt, was Reiter eigentlich ausgesagt hat, dann macht er sich in einem so vieldeutigen Sinne lustig, dass man durchaus nicht sagen kann, dass diese Parodie eine bestimmte "Richtung" besäße. Will sagen: wer hier eine Eindeutigkeit liest, kann nicht richtig lesen.
Was macht eine Parodie? Sie spricht unter anderem durch eine andere Stimme, zum Beispiel die der Nationalisten. Und wäre es nicht eine Befürchtung, mit der die Nationalisten beständig spielen, dass das wahr würde, was Reiter hier schreibt? Oder spricht er vielleicht durch die Stimme all jener Naivlinge, die glauben, dass der Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft und die Fähigkeit, Deutsch zu sprechen, schon die wesentlichste Bedingung der Integration sein?
Man könnte diesen Satz noch eine ganze Menge mehr "Feinde" abgewinnen. Nur was nützt das? Die Parodie ist vielfältig, und wer sich angegriffen fühlt, wird, zumindest in diesem Fall, mehr von sich selbst offenbaren, als Kritik üben. (Nachtrag: seltsamerweise ist die Parodie gerade dadurch so vielfältig lesbar, weil sie so kurz, so einfältig ist.)

Shitstorm

Auch das ist ein neues Wort. "So nennt man es heute, wenn jemand in der Netzöffentlichkeit plötzlich und heftig mit Dreck beworfen wird, ob berechtigt oder unberechtigt.", so der Autor des Artikels, Christian Stöcker. Und er fährt fort: "Twitter ist das perfekte Shitstorm-Medium, weil es sich seine Form der Informationsverbreitung Nachrichten innerhalb kürzester Zeit einer großen Gruppe von Menschen zugänglich machen kann und ihnen gleichzeitig eine Reaktionsmöglichkeit eröffnet. Je größer das Erregungspotential einer Äußerung oder Information, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie durch zahlreiche "Retweets" an immer weitere Netzwerke weitergereicht wird."

Parodie lernen

Meine persönliche Meinung zu den Deutschen, die ich zum besten geben, ob ich gefragt werde oder nicht: Deutsche verstehen nichts von Ironie. Deutsche können auch, zumindest glaubt man das in PISA, nicht lesen. Nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch. Und mindestens müssen Deutsche zu alle Ihre Meinung geben, auch wenn sie gar keine haben. Auch darüber macht sich Udo Reiter, strukturell gesehen, lustig. Jede massenmediale Erregung (zum Beispiel in Twitter) ist eben auch ein struktureller Witz.
Schön wäre es, wenn die Deutschen die wunderbaren Formen des literarischen Witzes wieder kennen und schätzen würden. Zwar würde dann Mario Barth nicht nur arbeitslos werden, sondern wahrscheinlich der Jean Paulschen Scharia anheimfallen, und leider würde dies auch nicht zur Islamisierung oder Ent-Islamisierung Deutschlands beitragen, aber man hätte doch ein wenig mehr zu lachen, zumindest als Intellektueller.
Um ein paar der wunderbaren Werke zu nennen: die Tagebücher von Walter Kempowski, die Sudelbücher von Lichtenberg (der ja geschrieben hat: wenn ein Tweet und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, muss das nicht immer am Tweet liegen), natürlich Jean Paul, und - wer hat ihn nicht gelesen? - Grimmelshausen. Kennen Sie übrigens von Schiller und Goethe die Xenien?
Und wenn Sie ein zugleich hoch wissenschaftliches, hochsensibles und doch parodierendes Werk lesen wollen, dann empfehle ich von Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts.
Außerdem: Jörg Räwel: Humor als Kommunikationsmedium; Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes; Gerard Genette: Palimpseste.

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