12.08.2007

Michel Foucault und Roland Barthes zum Terror

JEAN-FRANCOIS: Und die Drogen?
SERGE: Das ist kein Phänomen für sich. Für die Schüler, die sie nehmen, bedeuten sie einen totalen Verzicht auf Karriere. Die politisierten Schüler setzen ihre Studien fort; diejenigen, die Drogen nehmen, steigen völlig aus.
FOUCAULT: Der Kampf gegen die Drogen ist ein Vorwand zur Verstärkung der gesellschaftlichen Repression: Streifzüge der Polizei - aber auch zur Verherrlichung des normalen, rationalen, bewussten und angepassten Menschen. Man findet dieses Markenbild auf allen Ebenen: Schauen Sie sich die Schlagzeile des heutigen France-Soir an: 53% der Franzosen für die Todesstrafe. Vor einem Monat waren es nur 38%.
JEAN-FRANCOIS: Die ist vielleicht auch eine Folge der Gefängnisrevolte von Clairvaux?
FOUCAULT: Selbstverständlich. Man spielt den Terror des Verbrechers, die Drohung des Monsters aus, um jene Ideologie von Gut und Böse, von Erlaubt und Verboten, zu stärken, welche die Schule heute nicht mehr so unverblümt zu vertreten wagt wie früher. Was der Philosophieprofessor in seinem komplizierten Vokabular nicht mehr zu sagen wagt, wird vom Journalisten ohne Vorbehalt proklamiert. Vielleicht sagen Sie: das ist immer so gewesen, die Journalisten und die Professoren hatten immer dasselbe zu sagen. Aber heute werden die Journalisten angehalten, gestoßen, gezwungen, es eindringlicher zu sagen, als es den Professoren noch möglich ist. Eine kleine Geschichte: die Ereignisse von Clairvaux führten zu einer Woche der Rache in den anderen Gefängnissen. Da und dort haben die Wärter die Gefangenen tätlich angegriffen, vor allem im Jugendgefängnis von Fleury-Mérogis. Die Mutter eines Gefangenen ist zu uns gekommen. Ich war mit ihr bei Radio Luxemburg, um ihren Bericht verbreiten zu helfen. Ein Journalist hat uns empfangen und gesagt: »Wissen Sie, das erstaunt mich nicht, denn die Wärter sind fast ebenso degeneriert wie die Gefangenen.« Wenn ein Professor an einer Schule so spräche, würde er einen kleinen Aufstand provozieren und eine Ohrfeige einstecken.
Gespräch zwischen Studenten und Michel Foucault, aus: Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a. M. 1996
Ich habe ein wenig herumgesucht, um Informationen über die Aufstände in Clairvaux zu finden. Die meisten Artikel sind entweder zu tendenziös, zu ungenau, oder reichen nicht bis ins Jahr 1971 zurück. Eine ganz gute historische Übersicht findet sich allerdings hier. Leider nur auf Französisch.

Der Terror der Perspektive
Auch Roland Barthes spricht vom Terror. In den Mythen des Alltags spricht er von dem Terror, der zugleich benennt und bewertet. Demgegenüber will Barthes zunächst eine Beschreibung: man kennt dies aus seinem Buch Die Sprache der Mode, eine scharfe, wissenschaftliche Untersuchung. In einem Interview allerdings sagt Barthes:
Die Modeliteratur ist eine schlechte Literatur, aber sie ist trotz al­lem eine Schrift. (ÜSM, 54)
Kritik entsteht zunächst aus der Trennung von Beschreiben und Bewerten: wie funktioniert etwas? unter welchen Bedingungen funktioniert etwas?, dies sind die Fragen, die man sich zuerst zu stellen hat. "Schlecht" - das ist der Ausdruck einer Bewertung; "trotz allem" - das wirft der Wissenschaftler dem voreiligen Kritiker entgegen: sie ist trotz allem eine Schrift, will sagen: auch wenn sie schlecht ist, muss man sie beschreiben.
Barthes weist anhand von Racine auf die Tabus der Interpretationen hin und auch - noch einmal - auf die Probleme bestimmter Adjektive, Adjektive, die zugleich benennen und bewerten:

So dann aber nehmen die Beschuldigungen Picards etwas Ver­bissenes und beinahe Obsessionelles an. Seine Kritik gibt sich »terroristisch«, verbal und beruht auf Adjektiven wie »aberwit­zig«, was mich kaum interessiert.
[...]
Und der Vorwurf bezüglich der »Solidarität«, was halten Sie da­von?
Nach Picard beruhen die Racineschen Personen auf verschiede­nen »Solidaritäten«. Doch die Tiefenpsychologien haben uns ge­lehrt, bestimmte Substitutionen als gültig anzuerkennen. Von ei­ner Symbolik ausgehend kann ich bestimmte Regeln anwenden, die mir erlauben, die gemeinsamen Züge, die tieferliegende Ein­heit scheinbar unterschiedlicher Symbole aufzufinden. Picard lehnt diese Psychologien ab. Das ist sein Recht. Indem ich die strukturale und psychoanalytische Analyse anwende, rede ich von Racine in der Sprache unserer Zeit, im kulturellen Wortsinne. (RP, 45f)

Die Debatte um Racine war - als sie ausbrach - nebensächlich: es ging nicht um Racine selbst, sondern um die erlaubten und die nicht erlaubten Perspektiven. Es ging um Dogmatismus und Terror. Roland Barthes zerlegt den Körper des Lesenden, indem er das Verhältnis umdreht: nicht der Leser blickt den Text an, sondern er fühlt sich durch den Text angeblickt. Dies gliedert die Empfindungen des Lesers, und der Text "wölbt" sich dem Leser entgegen, wie der Leser "in den Text stürzt". - Lesen, das ist dieses endlose Weitertreiben, dessen einzige Perspektive es ist, ohne Perspektive zu bleiben.
Mit jeder Brandmarkung der bürgerlichen Ideologie geht gleich­zeitig eine gewisse Verdunkelung der Frage einher: von wo aus spreche ich? Ich wollte mich einfach - jedoch die gesamte Mo­derne seit Blanchot tut es - für die im wesentlichen reflexiven Diskurse einsetzen, die den unendlichen Charakter der Sprache aufnehmen, in sich nachahmen und niemals mit dem Beweis eines Signifikats abschließen. Indem ich versuche, eine Reflexion über die Erotik der Lektüre ans Licht zu befördern, mache ich nichts anderes, als dem dogmatischen Diskurs entgegenzutreten. Heute verwechselt man in ein und derselben Anklage den dogmatischen und den terroristischen Diskurs. Der dogmatische Diskurs stützt sich auf ein Signifikat. Er neigt dazu, die Sprache durch die Exi­stenz eines letzten Signifikats aufzuwerten: von daher die wohl­bekannten Beziehungen zwischen dem dogmatischen und dem theologischen Diskurs. Dieses Signifikat nimmt oft die Gestalt ei­ner Ursache an: einer politischen, ethischen oder religiösen. Aber von dem Augenblick an, in dem der Diskurs (ich spreche nicht von den Optionen eines Individuums) es akzeptiert, an diesem Eckpfeiler eines Signifikats anzuhalten, wird er dogmatisch. Der terroristische Diskurs trägt aggressive Züge, die man ertragen kann oder nicht, jedoch bleibt er im Signifikanten: er handhabt die Sprache wie eine mehr oder minder spielerische Ausbreitung von Signifikanten. (LSL, 178)
Der despotische Diskurs also meint letzten Endes "Gott", wenn er theologisch ist, oder "befreites Subjekt", wenn er marxistisch oder pseudomarxistisch ist (auch Scientology, auch Osho reden von der Befreiung des Subjekts und dem befreiten Subjekt als Ideal). - Der terroristische Diskurs dagegen schwimmt an der Oberfläche der Ausdrücke. Sein Ziel ist nicht ein Signifikat, ein Bezeichnetes, sondern den anderen dazu zu zwingen, bestimmte Phrasen zu wiederholen.
Hitler/Stauffenberg - Der Nationalsozialismus war zum Beispiel tief in sich selbst gespalten, da er auf einer bestimmten Ebene den reinrassigen Deutschen idealisierte und insofern despotisch war; auf einer anderen Ebene verlangte er aber die blanke Wiederholung von Phrasen, angefangen mit dem "Heil Hitler!" und war insofern terroristisch. Man könnte mit reichlich Unschärfe also den beiden Strömungen zwei Protagonisten geben: Hitler für den terroristischen, und Stauffenberg für den despotischen Diskurs.
Auch die Linksradikalen halten einen terroristischen Diskurs: sie erkennen sich daran, dass sie sich bestimmte Phrasen von Marx/Engels/Lenin vorplappern müssen. Marx selber war kaum so zu nehmen: Wissenschaftler, scharfzüngiger Ironiker; und missbraucht, in den Dogmatismus gedreht von denen, die ihn nicht lesen. Danach wäre sein Ideal gewesen: der freie Mensch, der Kommunismus.
Schließlich all jene, die sagen: Das da ist keine Demokratie. Doch die Demokratie kann nie das Ideal sein, immer nur eine bestimmte Form, den Diskurs abseits von Despotismus und Terrorismus zu halten. Abseits? Nun: dies heißt, die eigenen Ideale vertreten und die fremden Ideale respektieren - vertreten und respektieren insofern, als sie sich immer wieder ändern müssen, als keine Sprache und kein Sprechen in diesen Idealen gipfelt. Immer wieder die Sprache zu ändern, nie nur die Phrasen erneut in den Raum zu werfen: immer wieder neu und anders sprechen, immer wieder die Begriffe verschieben, nicht stehen bleiben in seiner Neugier, nie satt und zufrieden sein.
Demokratisch sein, das heißt - vielleicht -: neugierig sein auf das, was ich (noch nicht) denken kann.

ÜSM = Über "Die Sprache der Mode" und die strukturale Analyse der Erzählungen, in: Barthes, Roland: Die Körnung der Stimme, Frankfurt am Main 2002, S. 50-63
RP = Roland Barthes antwortet Raymond Picard im Namen der "Nouvelle Critique", in: Barthes, Roland: Die Körnung der Stimme, Frankfurt am Main 2002, S. 45-49
LSL = Lust/Schrift/Lektüre, in: Barthes, Roland: Die Körnung der Stimme, Frankfurt am Main 2002, S. 173-192
Barthes, Roland: Die Sprache der Mode, Frankfurt am Main 1985
Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964
Foucault, Michel: Gespräch zwischen Studenten und Michel Foucault, in: Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a. M. 1996

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