31.05.2007

Sind Familien Systeme?

Vorausgesetzt werden soll natürlich, dass es Familien gibt. Es gibt sie massenweise und man hat täglich mit ihnen zu tun. Das soll hier aber nicht das Problem sein.
Die Frage, die sich hier stellt, ist zunächst keine empirische: Gibt es Familien?, sondern eine spekulative: Gibt es eine Einheit der Familie? Mithin: Lässt sich Familie A auf einer hinreichend abstrakten Ebene wie Familie B beschreiben?
Erst in der Folge können die Antworten zu einer empirischen Relevanz führen, nämlich, ob es einem Menschen an Familie fehlt oder nicht, ob eine Familie anormal und damit therapiebedürftig ist, oder nicht.

Luhmann hat dem ganzen Problem dadurch Vorschub geleistet, dass er selbst die Familie als System bezeichnet hat [in: Soziologische Aufklärung 5]. Zu Recht?
Zwei Argumente sprechen mindestens dagegen:
1. Laut Luhmann werden Familien dadurch gebildet, dass sie hochempfindlich Personen einschließt, und diese mit Kompletterwartungen belegt. Alles, was eine Person betrifft, muss auch familienintern kommunizierbar sein, sei es der Abscheu vor Broccoli, der Kegelabend der Mutter oder die nächtlichen Pollutionen des pubertierenden Sohns. -
Diese Argumentation wird aber nicht nur empirisch widerlegt: man spricht nicht über das sexuelle Verhältnis des Vaters mit seiner Sekretärin, man zeigt sich blind gegenüber der offensichtlichen Homosexualität der Tochter, man interessiert sich für die Kinder nicht, solange diese still sind. Rein von der empirischen Ebene wird damit die Kompletterwartung an das Thematisieren-können ausgehebelt.
Luhmann selbst eiert hier in seiner Argumentation dementsprechend herum: eine Person ist nur das, was individuell in Rechnung gestellt wird, und schon hier ist dann eine Kompletterwartung nicht nachweisbar. Die sexuellen Verhältnisse des Vaters mögen irgendwie einen Einfluss auf die Familienkommunikation nehmen, thematisierbar sind sie deshalb noch lange nicht; seiner dreijährigen Tochter wird man kaum eine Diskussion über die strukturelle Gewalt im Kindergarten zumuten, obwohl diese davon unmittelbar betroffen ist.
Mithin: es gibt Themen, die einen Familienangehörigen betreffen, mit diesem aber nicht thematisierbar sind, sei es durch die noch fehlenden kognitiven Leistungen des Angehörigen, sei es durch Scham oder aus einem Zwang heraus.
2. Zahlreiche Sonderleistungen, die historisch für die Familie diskutiert wurden, gehen mehr und mehr auf andere soziale Systeme über. Selbst die Intimität ist der Familie nicht mehr vorbehalten. Es gibt nicht-geleitete Therapiegruppen, in denen alles mögliche besprochen wird, und die sich nach strengen Zugehörigkeitsregeln bilden (die radikale Therapie zum Beispiel). Es gibt Tratsch- und Klatschgemeinschaften, in Dörfern ebenso wie in städtischen Subkulturen. Auch in diesen ist man, sei es durch Nachbarschaft, sei es durch subkulturelle Merkmale wie Musikvorlieben oder sexuelle Präferenzen, fest eingebunden.
Andererseits werden Familien auch deshalb auseinandergerissen, weil diese Familien sind. Das Schlagwort heißt dann Pathologie, ob offiziell oder als Derivate, wie Verwahrlosung, Missbrauch, Kriminalisierung, etc. Gerade weil es Familien sind, können es dann keine Familien mehr sein.

Heute wird zwar immer noch auf der Familie als Kernbestand unserer Gesellschaft hingewiesen. Und das mag auch so stimmen. Deshalb lässt sich aber noch lange nicht nachweisen, ob die Familie ein System ist.
In zahlreichen Funktionen bekommt die Familie ihre Einheit eher von außen aufdoktriniert, als dass sie sich von innen erzeugt. Nicht nur die Erziehungspflicht ist ein rechtliches Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, auch dass Kinder, die nicht mit ihren Eltern einverstanden sind, nicht so ohne weiteres ausziehen können. Andererseits kann eine Familie, selbst wenn es von den Beteiligten gewünscht wird, nicht einfach so zusammenbleiben. Soziale Verwahrlosung wird nicht selten von außen in die Familie hineinkommuniziert und führt dann zu verordneten - nicht immer geordneten - Trennungen. Schließlich wird die intime Kommunikation mehr und mehr von den Massenmedien übernommen. Was früher Bildungsromanen vorbehalten geblieben ist, nämlich die Psychologisierung der Familie mit und durch die Beschreibung ihrer (fiktiven) Intimität, ist heute - nicht immer so glänzend wie bei Flaubert - Thema der Nachmittagsshows.
Schließlich können Kinder ganz ohne Bezug zu ihren leiblichen Eltern rein rechtlich immer noch als zu ihnen gehörig gesehen werden. Etwa, wenn der Mutter das Kind weggenommen und Pflegeeltern übergeben wurde.

Funktional gesehen scheint also die Familie in etwa folgendes zu sein: 1. eine fortwährende Problemorientierung in den (Sozial-)Wissenschaften; 2. eine Moralisierungsmöglichkeit im Politiksystem; 3. eine - recht paradoxe - Entscheidungshilfe im Rechtssystem; 4. eine Entlastung im Wirtschaftssystem, indem es statt Einzelpersonen Haushalte gibt.
Bündelungen von Funktionen, deren Koppelung und Prozessualisierung werden meist von Institutionen übernommen. Die Familie könnte, wenn schon, denn schon, als eine äußerst sonderliche Institution bezeichnet werden, deren Halt nicht durch Gesetze und Rechtsverordnungen geregelt wird, sondern durch Gesetze und Familienregeln (Moral).
Daraus erklärt sich auch der zerbrechliche Status von Familien: Elternteile können auf Nimmerwiedersehen verschwinden und spielen dann allerhöchstens noch durch eine gesetzlich gebundene Zahlungspflicht eine Rolle. Elternteile sterben. Junge Erwachsene verlassen verärgert das Elternhaus und brechen den Kontakt ab.
Der Vergleich mit Institutionen bringt hier vielleicht noch am meisten: statt Personalakten legt man Fotoalben an. Statt einem Büro hat man ein Kinderzimmer; statt vertraglich geregelten Aufgaben hat man ausgehandelte Pflichten. Statt informeller Kommunikation gibt es massenweise Alltag. Statt dienstlichen Auszeichnungen darf man in den Ferien mit Freunden auf den Zeltplatz in der Oberlausitz.

Ein System weist Grenzen auf, an denen die Außenrealität gebrochen wird und nicht mehr kausal im System weiterwirkt. Schon dies ist bei Familien bezweifelbar. Familien gehen auseinander, wenn ein Richter dies entscheidet. Dies kann bei anderer Systemen kaum passieren. Nur weil eine Zahlung nicht rechtmäßig ist, wird nicht das ganze Wirtschaftssystem ausgehebelt werden. Fehlurteile führen nicht zur Abschaffung bürgerlicher Gesetzbücher und korrupte Politiker können nicht den Staat auflösen.
Gerade dies scheint auch gegen den Systemcharakter der Familie zu sprechen: "boundary maintenance is system maintenance" zitiert Luhmann in seinem Hauptwerk "Soziale Systeme". Solche Grenzen sind auf Seiten der Eltern vielleicht über viele Jahre hinweg gegenüber den Kindern durch Macht oder Vertrauen aufrecht erhaltbar, aber nicht auf Dauer. Die allzu fragilen Grenzen der Familie, gerade in der heutigen Gesellschaft, haben den Systemcharakter der Familien bezweifelbar gemacht.

2 Kommentare :

Anonym hat gesagt…

Meine Lieblingsstelle:

"statt Personalakten legt man Fotoalben an".

Ansonsten wie immer eine Herausforderung, der ich gerne nachgegangen bin.

Zappadong alias Alice

jaellekatz hat gesagt…

Als Gott am sechsten Schöpfungstage alles ansah, was er gemacht hatte, war zwar alles gut, aber dafür war auch die Familie noch nicht da.

Der verfrühte Optimismus rächte sich und die Sehnsucht des Menschengeschlechtes nach dem Paradiese ist hauptsächlich als der glühende Wunsch aufzufassen, nur ein einziges Mal ohne Familie dahinleben zu können.

(Kurt Tucholsky, Bd. 3, S. 307)

Oder, wie es ein schwuler Krankenpfleger mal formulierte: Familie ist Zwangsbekanntschaft.

liebe Grüße
Jaelle Katz

P.S. Und bis morgen mittag ist meine Familie ausgeflogen :-)))