06.08.2017

Ästhetische Erfahrung in fiktionalen Texten

Man kommt gelegentlich auf sehr seltsamen Umwegen zu Themen zurück, mit denen man sich schon lange beschäftigt hat. Und kann daran merken, dass man ein Thema immer noch nicht gründlich genug durchdacht hat. Eigentlich wollte ich noch einmal genauer die Aufgaben betrachten, die Schüler bewältigen müssen, wenn sie Texten Zwischenüberschriften geben oder diese nach ihren wichtigsten Aspekten zusammenfassen. Da bei beiden eine Vorstellung von dem Beschriebenen eine wichtige Rolle spielt, bin ich dann zur ästhetischen Erfahrung gekommen; und habe alte Artikel wieder hervorgekramt, mit denen ich mich bereits intensiv beschäftigt hatte.
Die Überschrift mag pompös daherkommen. Gemeint ist nichts anderes, als dass beim Lesen der Text zu Gunsten der Vorstellung verschwindet: statt einen Text zu lesen, durchlebe ich zusammen mit dem Protagonisten (oder der Protagonistin) ein Abenteuer. Ein anderer Begriff dafür ist Bildlichkeit; allerdings ist dieser Begriff so vielfältig und im Alltag deshalb auch so missverständlich, dass ich ihn gerne vermeiden wollte.

Ästhetische Erfahrung

Sieht man einmal von dem bedeutungslastigen Wort ›Ästhetik‹ ab, so meint dies ursprünglich nichts anderes als Wahrnehmung. Ästhetik ist demnach die Lehre von der Wahrnehmung, nicht zuerst die von der Schönheit. Klassischerweise gehört die Lehre von der Schönheit zur Urteilskraft, während die Wahrnehmung in den Bereich der Vernunft fällt, bzw. diesem "vorgelagert" ist.
So gesehen ist die ästhetische Erfahrung, die man beim Lesen eines Textes macht, diejenige, dass er etwas zu sehen, zu hören, zu fühlen gibt, uns also eine Welt erschafft, die für eine Zeit lang die Realität „ersetzt“. Ganz so einfach ist das übrigens nicht, denn auch die Realität gehört zur ästhetischen Erfahrung dazu, insofern ich sie nämlich wahrnehme.
Was die ästhetische Erfahrung eines Textes nun so besonders macht, ist die Tatsache, dass die Wahrnehmung des Textes und die Vorstellung beim Lesen offensichtlich komplett unterschiedlich sind. Denn ein Text ist zunächst nur eine geregelte Komposition aus Mustern, sprich also Buchstaben. Man sollte meinen, dass er uns weder in den fernen Orient, noch ins Auenland, noch an die Normandie oder in die ferne Zukunft entführen kann. Und doch schaffen Texte all dies.

Semiotik des ästhetischen Gegenstandes

Zur Bildlichkeit gibt es zwei Zugänge, die aber beide gleichberechtigt sind. Wenn ein Leser sich beim Lesen eines Textes etwas vorstellt, und auch auf diese Vorstellung abzielt, so ist ein wichtiges Anliegen, dass er diese Vorstellung intensiviert und den Vorgang des Lesens genauso außer acht lässt wie das Medium, durch das er liest, also die Schrift. Die Vorstellung wird „objektiv“; und dafür wird im Hintergrund seine Subjektivität genauso verdrängt wie das Medium.
Entsprechend diesen beiden verdrängten Aspekten wird in der Philosophie der Literatur auf der einen Seite die Semiotik des ästhetischen Gegenstandes, also das Medium, untersucht; und auf der anderen Seite die Phänomene der ästhetischen Erfahrung, also die Vorstellungsbildung. Dabei sollte klar sein, dass das Medium den ästhetischen Gegenstand fundiert: ohne den Roman Harry Potter und der Stein der Weisen könnte ich mir weder den Protagonisten, noch all die anderen Figuren oder Schauplätze vorstellen. Im Medium selbst muss auf irgendeiner Art und Weise die Vorstellung vorhanden sein; und zumindest muss sie den Rohstoff für diese Vorstellung liefern, wenn schon nicht das fertige Endprodukt.
Bei der Erläuterung, was ein literarischer Text zu leisten hat, spielen Strukturen eine wichtige Rolle; dies gilt insbesondere für die Grammatik, deren Regeln die Sprache ordnen und so einen geordneten Ausdruck ermöglichen. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die Rhetorik, da mit dieser Ausnahmen von der Regelhaftigkeit beschrieben werden, die selbst aber wieder in gewisser Weise regelhaft sind. Dies ist nun relativ komplex, wenn man es erläutern möchte, und gerade in Büchern zum Schreibhandwerk findet man darum eher erläuternde Beispiele als wissenschaftlich haltbare Definitionen.

Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung

Betrifft die Semiotik den „objektiven Pol“ der Bildlichkeit, behandelt die Phänomenologie den „subjektiven Pol“. Dabei steht im Mittelpunkt der Betrachtungen die Reorganisation des Bewusstseinsfeldes. Darunter hat man sich vorzustellen, dass ein lesender Mensch zu Hause sitzt und eigentlich nur dieses Zuhause wahrnehmen dürfte, aber durch bestimmte Fähigkeiten die Vorstellung vollkommen anderer, sogar komplett erfundener Räume erzeugen kann. Die Phänomenologie untersucht also, welche Fähigkeiten ein Mensch besitzen muss, damit er zu solch einer Leistung in der Lage ist (kurz und wurschtig gesagt).
Nun kann man leicht einsehen, dass zur ästhetischen Erfahrung sowohl der subjektive wie der objektive Pol gehören, sowohl das organisierte Material der Zeichen, als auch die angeborenen oder kultivierten Fähigkeiten, sich Vorstellungen zu erzeugen. Die Trennung ist auf der einen Seite eine analytische, auf der anderen Seite eine empirische. Empirisch ist diese Trennung, weil sich Text und Mensch deutlich unterscheiden; analytisch ist sie, weil in der Vorstellung beides zusammen wirkt und beides erfordert, sowohl den Text, als auch den Menschen.

Mimesis und Semiosis

Jeder Text erzeugt in gewisser Weise „Realitätseffekte“, also Vorstellungen, die wir zunächst für etwas Reales halten. Dies bezeichnet der französische Literaturwissenschaftler Michel Riffaterre als Mimesis. Das ist nun nicht der glücklichste Begriff, da Mimesis Nachahmung bedeutet. Dagegen ist bei der Lektüre fiktionaler Texte ein konstruktiver und kreativer Anteil immer mit enthalten. Und vermutlich ist auch die reine Wahrnehmung keine Abbildung etwas Äußerlichen, sondern ebenfalls konstruktiv und kreativ. Wie auch immer: als Realitätseffekt kann man das Phänomen bezeichnen, dass wir während des Lesens eine Vorstellung erzeugen, die wir für real halten, und wenn auch nur für den Moment, in dem wir sie erzeugen.
Doch die Fähigkeiten des Lesers müssen weiter gehen. Zugleich muss er den Text entziffern, den er liest. Er muss verstehen, dass Harry Potter auf den ersten Seiten des Romans denselben Menschen bezeichnet wie auf den letzten Seiten; die Gleichheit der Zeichen muss verstanden werden, damit die Vorstellungen einen Zusammenhang erlangen. Jeder Satz muss in seiner Konstellation verstanden werden, und um die Konstellation eines Satzes zu verstehen, ist grammatisches Wissen notwendig. Schließlich müssen Metaphern entschlüsselt werden, Ironien in ihrer doppelten Bedeutung erfasst, Katachresen mit ihren verschiedenen Verweisungen verstanden werden; mithin muss die ganze Rhetorik eines Textes berücksichtigt und in den Fluss der Vorstellungen integriert werden. So ist beim Lesen das Zeichenmaterial nicht nur auszublenden, sondern regelmäßig zu beachten. Dies nennt Riffaterre die Semiosis.
Beide Aspekte wirken nun zusammen, einmal als Weltwissen, das in Bezug auf die gelesene Geschichte umgestaltet wird, einmal als Zeichenwissen, welches zumindest als Ausdruck in die Geschichte einfließt.

Bildlichkeit

Die Bildlichkeit eines Textes beruht also auf zwei Quellen.
Wenn man mit Kindern verschiedene Formen der Zusammenfassung von Texten erarbeitet, seien es Notizen zu einem Sachtext, seien es Zwischenüberschriften in einem fiktionalen Text, wirken diese beiden Quellen sehr unterschiedlich auf das Ergebnis ein und führen zu nicht immer nach diesen Quellen zu unterscheidenden Fehlern. Als Lehrer muss man hier gut beachten, ob ein Text in seiner materiellen Struktur nicht genügend verstanden wurde, also das Problem auf Seiten der Semiosis zu suchen ist; oder ob das vorhandene Vorwissen beim Kind zu ganz anderen Prozessen des Verbildlichens geführt hat, der Fehler also auf Seiten der Mimesis liegt.
In der Vergangenheit habe ich sehr unterschiedliche Erfahrungen mit diesen Techniken gemacht. Hier hilft zum Beispiel die Aufforderung „Schreib das Wichtigste heraus!“ nicht. Oftmals führt dies zu Ratereien, und wenn der Aufforderung auf glückliche Art und Weise nachgekommen wird, so ist doch keineswegs klar, warum. Präzisere Aufgabenstellungen dagegen führen gelegentlich dazu, dass in der Frage bereits die Antwort vorgegeben ist; und damit wird das Verstehen eines Textes beinahe schon umgangen. Denn pfiffige Schüler verstehen sehr wohl, wie man aus der Frage eine passende Antwort formuliert, die nur noch so tut, als wäre der Text vorher gelesen worden.
Nun kann ich keineswegs eine Empfehlung geben. Seit gestern kommentiere ich zwei Aufsätze durch, die mir zu einem besseren Verständnis helfen sollen. Hier fällt mir dann wieder auf, dass ich früher bestimmte Aspekte bei der Arbeit meiner Schüler vielleicht zu wenig beachtet habe, weshalb jetzt eine Rückkehr in die Praxis und die praktische Arbeit notwendig wäre.
Insgesamt halte ich aber die Diskussion um die ästhetische Erfahrung auch für Schriftsteller und ganz allgemein für eine wichtige Sache, weshalb ich hier die pädagogischen Anteile noch sehr zurückgenommen habe. Die Grundlagen dessen, was wir Lesen nennen, werden derzeit so stark ausgeblendet, dass bei vielen Menschen dieses mehr einer Demiurgie als einem reflektierten, kritisch überwachten Prozess gleicht.

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