27.08.2016

Muselmänner

Die Ambivalenz dieses Ausdrucks ist wohl vielen nicht bekannt. Muselmann entstammt dem Persischen, von muslim und der Pluralendung -an, also eigentlich: Muslime. In Frankreich verwendet man das Wort musulman, im Türkischen müslüman.
Nun würde mir diese Ambivalenz, zu der ich gleich komme, eigentlich gefallen, auch die gewisse Ironie, die in dieser Verwendung steckt, wäre ihr das Grauen nicht dermaßen eingeschrieben.

Die Hungernden

Wenn man durch Berlin geht, ist es schwierig, die Augen vor der wachsenden Zahl von Obdachlosen zu verschließen. Während des letzten Dreivierteljahrs bin ich immer wieder einem von ihnen begegnet, der mit einer völlig zerrissenen Hose bekleidet, mehr nackt als angezogen, ungepflegt, stinkend, in der Bahn schlief, und der gelegentlich an der gleichen Station ausstieg.
Vorletztes Jahr hatte ich von dem Essen, das in meiner ehemaligen Schule ausgeteilt wurde, einmal einen ganzen Packen bereits aufgetauter und gebratener Hühnerflügel mitgenommen und diese unter den Obdachlosen, die unter der Brücke beim Hackeschen Markt "kampieren", verteilt.
Und natürlich trifft man sie auch sonst in der Bahn: wie sie ihr Straßenmagazin verkaufen oder einfach nur betteln. Viele von ihnen sind extrem unterernährt. Ihr Blick ist teilnahmslos, ihre Stimme kraftlos, ihr Gang schleppend.

Hungerkranke

Die folgende Beschreibung stammt aus dem Buch Was von Auschwitz übrig blieb von Giorgio Agamben:
»Hinsichtlich der Krankheitssymptome lässt sich der Prozess des Hungers in zwei Phasen einteilen. Die erste war durch Abmagerung, Muskelschwächung und zunehmende Verringerung der Bewegungsenergie gekennzeichnet. In dieser Phase war noch keine größere Schädigung des Organismus eingetreten. Außer langsameren Bewegungen und einer Schwächung zeigten die Kranken eigentlich keine Symptome. Sie wiesen auch keine größeren psychischen Veränderungen auf, abgesehen von einer gewissen Erregtheit und der charakteristischen Reizbarkeit.
Die Grenze des Übergangs von der ersten zur zweiten Phase ließ sich nur schwer feststellen. Bei den einen erfolgte er allmählich, bei anderen abrupt. Annährungsweise kann man sagen, dass die zweite Phase begann, wenn der Hungernde ein Drittel seines normalen Körpergewichts verloren hatte. Neben der fortschreitenden Abmagerung und Schwächung begann sich nun auch der Gesichtsausdruck zu ändern. Der Blick trübte sich, das Gesicht bekam einen teilnahmslosen, gedankenlosen und traurigen Ausdruck. Die Augen waren glanzlos, die Augäpfel tief eingefallen. Die Haut färbte sich graubläulich, sie wurde dünner, pergamentartig, sie wurde härter und blätterte ab. Sie war sehr anfällig für jede Art von Infektionen, besonders für die Krätze. Das Haar war rau, brüchig und glanzlos. Der Kopf bekam ein langgezogenes Aussehen, die Umrisse von Jochbein und Augenhöhlen begannen sich deutlich abzuzeichnen. Der Kranke atmete langsam, er sprach leise und unter großer Anstrengung.
Je nachdem wie lange die Aushungerung schon dauerte, traten kleinere oder größere Ödeme auf. Sie erschienen zuerst auf den Augenlidern und an den Füßen. In Abhängigkeit von der Tageszeit änderten sie ihren Sitz. Morgens, nach der Erholung in der Nacht, waren sie schon im Gesicht zu sehen, abends dagegen an den Füßen, Unter- und Oberschenkeln. Die Flüssigkeit verlagerte sich durch Stehen in die unteren Körperteile. Nach längerem Hunger entwickelten sich die Ödeme immer stärker und befielen bei Häftlingen, die länger stehen mussten, der Reihe nach Unterschenkel, Oberschenkel, Gesäß, Hodensack, ja sogar den Bauch. Zu den Ödemen kam der Durchfall, obwohl es oft geschah, dass der Durchfall dem Auftreten der Ödeme vorausging.
Die Kranken stumpften in dieser Zeit ab, sie wurden gleichgültig gegenüber allem, was um sie herum geschah. Sie zogen sich aus allen Verbindungen mit ihrer Umgebung zurück. Wenn sie sich bewegen konnten, so taten sie das sehr langsam, ohne die Knie dabei einzubiegen. Aufgrund der niederen Körpertemperatur, die in der Regel unter 36 °C absank, zitterten sie vor Kälte.
Beobachtete man eine Gruppe solcher Kranker von weitem, hatte man den Eindruck von betenden Arabern. Daher kommt die populäre Lagerbezeichnung für die Hungerkranken – ›Muselmänner‹.«

Erinnern, was geschah

Ich erinnere daran, weil nicht nur der Islam in einem zum Teil kaum noch zu ertragenden Maße angefeindet wird, sondern dasselbe ohne die geringste Scheu und Nuance wieder an die Juden herangetragen wird. Und natürlich habe ich zuvor sehr bewusst auf einen aktuellen Zustand hingewiesen, der seit Jahren besteht. Diese Anfeindungen werden dann noch mit einer Frechheit vorgetragen, man habe das doch argumentativ begründet, wo man bei Adorno schon den Widerspruch lesen kann:
Wir alle kennen auch die Bereitschaft, heute das Geschehene zu leugnen oder zu verkleinern – so schwer es fällt zu begreifen, dass Menschen sich nicht des Arguments schämen, es seien doch höchstens nur fünf Millionen Juden und nicht sechs vergast worden. Irrational ist weiter die verbreitete Aufrechnung der Schuld, als ob Dresden Auschwitz abgegolten hätte.
Adorno, Theodor W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. in ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II, S. 556 f.
Ich verspreche an dieser Stelle, dass ich noch einmal den Gebrauch des Wortes Schuld nachzeichnen werde. Nur so viel noch von Adorno selbst:
Bei alldem jedoch hat die Rede vom Schuldkomplex etwas Unwahrhaftiges. In der Psychiatrie, der sie entlehnt ist und deren Assoziationen sie mit schleift, besagt sie, dass das Gefühl der Schuld krankhaft sei, der Realität unangemessen, psychogen, wie die Analytiker es nennen.
ebd., S. 557
Machen wir es uns also nicht so einfach, nicht zu einem Automatismus, sofort die Schuld herbeizurufen, oder sie zwanghaft abzuwehren, wenn vom Holocaust die Rede ist.

Der Tod, die Nicht-Empathie

Zwei weitere Zitate aus dem bedrückenden und bedrückend klugen Buch von Agamben:
»Der Muselmann weckte bei niemandem Mitleid und erfuhr von niemandem Herzlichkeit. Die Kameraden, deren Existenz ja selbst bedroht war, beachteten die Muselmännern nicht. Den Funktionshäftlingen brachten die Muselmänner zu viel Ärger ein, für die SS-Männer waren sie nur unnützer Abfall. Die einen wie die anderen brachten sie um, jeder auf seine Weise.«
So fielen die Hungerkranken komplett aus der Gesellschaft heraus.
»Der SS-Mann ging langsam vorbei und sah zu dem Muselmann hin, der geradewegs auf ihn zukam. Wir alle schielten nach links, um zu sehen, was passieren würde. Und dieses willenlose, gedankenlose Wesen latschte in seinen klappernden Holzschuhen dem SS-Mann direkt in die Arme. Der SS-Mann schrie und zog ihm eins mit der Reitpeitsche über den Kopf. Der Muselmann blieb stehen, er wusste nicht so recht, was geschehen war, und als er einen zweiten und dritten Hieb dafür bekam, dass er die Mütze nicht abgenommen hatte, machte er (da er Durchfall hatte) in die Hosen. Als der SS-Mann den schwarzen Fleck sah, der sich um die Holzschuhe des Muselmanns ausbreitete, geriet er außer sich. Er stürzte auf ihn zu, trat ihm in die Bauchhöhle und, nachdem er schon im eigenen Kot auf dem Boden lag, gegen Kopf und Brustkorb. Der Muselmann wehrte sich nicht. Beim ersten Tritt hatte er sich zusammengekrümmt, noch ein paar Tritte und er starb.«

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