11.03.2014

Zoë Beck und die Fähigkeit zu lesen

Nein, eigentlich soll es hier nicht um Zoë Beck gehen. Dann aber doch, zumindest zu Beginn. Und dann noch einmal zum Schluss. Denn vor einigen Tagen hat sie einen Artikel geschrieben, der den rätselhaften Titel ›Ilsebill salzte nach.‹ erhielt. Dem war ein anderer Artikel vorhergegangen, der das Thema verdeutlicht: ›Das nie endende Bücher-Knigge-Thema: Wie viel vom Buch man lesen muss.‹

Qualität ...

Oder anders gesagt: Kann man auf der ersten Seite erahnen, ob ein Buch gut ist? Ja, man kann es. Man kann es sogar sehr gut, wenn man bereit ist, sich intensiv mit der Literatur auseinanderzusetzen. Ich möchte nicht behaupten, dass man auch dann völlig sicher sein kann. Aber wenn nach einigen Seiten immer noch keine Leselust aufgekommen ist, dann kann man doch mit großer Bestimmtheit sagen, dass dieser Autor nicht für einen selbst schreibt.
Und damit habe ich die vorsichtige Grenzlinie eingezogen, die man trotzdem beachten muss: es wird immer wahrscheinlicher, aber nie vollkommen sicher.
Es ist ein Irrglaube unserer Zeit, dass Bücher dazu da seien, spannend zu sein. Schauen wir uns Jahrestage von Uwe Johnson an. Dieses Buch hat nicht ein bisschen an der Spannung, die ein Thriller-Leser erwartet. Und so gesehen ist es ein unglaublich langweiliges Buch. Gerade zu belanglos.
Nun ist Jahrestage aber auch ein ganz großartiges Werk. Mein Herz jedenfalls hat es im Sturm erobert und rangiert, seit ich es kennen gelernt habe, unter meinen Lieblingen (die weniger aus einer Rangfolge, denn aus einer Art Bücherwolke bestehen).

Mein Weg in die Jahrestage

Bildungsbürgerliche Ruinen

Aber warum ist es ein großartiges Werk? Warum fasziniert es mich?
Nun, diese Antwort lässt sich nicht so einfach geben. Vielleicht muss ich das autobiografisch beantworten. Als ich mein Studium begonnen habe, fand ich Autoren wie Goethe oder Kleist irgendwie nett. Zusammengehalten wurde diese Nettigkeit von einem diffusen, wenn auch mit Rebellion gewürzten Bildungsbürgertum. Irgendetwas von: Die sind schon gut, aber bitte nicht so, wie meine Eltern das behaupten, so blind ins Blaue hinein.
In meinem Studium habe ich einige Dinge wirklich hassen gelernt. Wenn man Literaturwissenschaft studiert, dann hat man es mit Menschen zu tun, die Bücher lieben. Manche (zum Glück nicht alle) stehen dann vor einem und hauchen mit zum Himmel erhobenen Augen von ihrem Kafka oder von der Kultur tragenden Bedeutung eines Schillers (ausgerechnet Schiller, dieser Stammtisch-Poet!). Ich habe mich am Anfang davon beeindrucken lassen. Dann nicht mehr. Und schließlich fand ich jene Art von Menschen, die diesen Ausdruck auch so gut beherrschen: es sind die beiden Frauen von den Zeugen Jehovas, die trotz langjähriger schlechter Erfahrung immer wieder an meiner Tür klingeln und mit derselben Körperhaltung fragen, ob ich an Gott glaube. Nicht für Sie, war einmal meine Antwort.
So glaube ich auch nicht an den guten Roman.

Grammatik

Was aber hat mich geprägt? Heute kann ich mit großer Sicherheit sagen, dass es nicht die Literaturwissenschaft war, sondern die Sprachwissenschaft, allen voran Grammatik. Man muss das gut verstehen. Und man muss vor allem verstehen, was ich hier mit Grammatik meine. Grammatik ist nicht, wie dies im landläufigen Sinne behauptet wird, im Gehorsam gegenüber den Regeln begründet. Das ist nur oberflächlich richtig. Dringt man tiefer in das Gebiet der Grammatik ein, dann hat man es mit den Ordnungen von Sprachen zu tun. Und man befasst sich auch nicht mit Vorschriften, sondern mit Beschreibungen. Wie ist eine Sprache geordnet? So fragt die Grammatik. Nicht, ob sie richtig geordnet ist. Ihr Ziel ist Erkenntnis, nicht Normierung.

Respektvoller Eigensinn

Am Befremdlichsten aber war in meinem Germanistik-Studium, dass ich gelernt habe, dass eine Sprache sehr verschiedene Arten der Grammatik nutzt. Es gibt zum Beispiel eine recht typische Ordnung von Vokalen und Konsonanten zu Silben im Deutschen. Von den Buchstaben her gesehen würden uns sehr viel mehr mögliche Silben zur Verfügung stehen, als wir tatsächlich benutzen. Frappierend dabei ist, dass diese Buchstaben sich dann zu den immer gleichen Silben zusammenziehen, sofern man alle Wörter weglässt, die aus einer anderen Sprache stammen und noch nicht eingedeutscht sind.
Ebenso finden wir solche Ordnungen im Übergang vom Wort zum Satz. Und so kennen wir die Grammatik auch. Es gäbe so viele Möglichkeiten, Wörter hintereinander zu stellen. Aber die wenigsten sind richtig.
Schließlich sind auch Geschichten so geordnet. Es gibt eine narrative Grammatik. Diese ist nun nicht in so starren Regeln formuliert, wie dies in den Sätzen zu finden ist. Aber es gibt sie, diese narrative Grammatik. Was ist ein spannender Roman? Es ist genau diese gekonnte Mischung zwischen Bekanntem und Neuem. Es ist der Schöpferwille des Autors, der schließlich doch auf seine Leser Rücksicht nimmt und unterhalten will. Der gute Roman ist zurückgenommener, respektvoller Eigensinn.

Kohärenz und Kohäsion

Dies habe ich nicht in meinem Studium gelernt.
Und trotzdem konnte ich durch mein Studium den Weg dorthin gehen. Denn plötzlich ging es nicht mehr um die Qualität eines Romans (für den sich ein guter Literaturwissenschaftler herzlich wenig interessiert), sondern um Effekte der Kohärenz und Kohäsion. Kohärenz, das sind die äußeren Merkmale eines Textes, die aufeinander verweisen, die zusammen jenes Geflecht an äußeren Merkmalen bietet, um sich daraus eine Vorstellung aufzubauen. Und die Kohäsion ist jenes Geflecht aus Vorstellungen, die in jenem Moment entsteht, wenn ein Leser einen Text liest. Die Kohärenz zeigt sich an solchen Phänomenen wie der einheitlichen Personenkonstellation (und sind wir nicht alle ärgerlich, wenn am Ende eines Romans der Mörder dann der Neffe des Apothekers ist, dessen Hund mal eine Frau gebissen hat, die bei dem Ermordeten gearbeitet hat? und der bisher noch nie in dem Roman aufgetaucht ist?). Und die Kohäsion findet ihr deutlichstes Zeichen dort, wo mich ein Text berührt, wo ich vergesse, dass ein Text nur ein Text ist, eine leicht befremdliche Zusammenstellung aus immer wieder gleichen Punkten und Strichen. Wo eine Vorstellung die Führung übernimmt und wo ich lese, ohne mir wirklich darüber bewusst zu sein, dass ich lese.

Buchstabe für Buchstabe

Was also habe ich in meinem Studium gelernt? Ich habe gelernt, diese beiden Seiten zu trennen. Ich habe gelernt, Texte Satz für Satz, Wort für Wort und Buchstabe für Buchstabe zu lesen. Ich habe gelernt, wie der spannendste Text auf dem Weg zu einer genauen Beschreibung seinen Zauber verliert, aber an Klarheit gewinnt. Ich habe gelernt, dass diese Regeln der Kohärenz schlichte, aber mächtige Verbündete des Autoren sind, genau so wie die Liebe zum Leser ein mächtiger Verbündeter ist. Und dass manchmal ein sehr schlichter, geradezu schablonenhafte Roman durchaus an seinen Rändern einen Reiz erhält, den ein kunstvoller, vielfach in sich geflochtener Roman nicht birgt. Dieser ist der Ort eines ganz anderen Zaubers. Es lässt sich schlecht vergleichen.

Weltflucht und Welttrotz

Jahrestage nun hat seine ganz eigene Spannung. Hans Hütt hat dies so treffend als zurückgehaltenen Pathos formuliert. Es ist jene trotzige Sorge um die Realität, die diesen Roman so wundervoll klingen lässt. Es ist eine ganz andere Art der Spannung, nicht jene der Weltflucht, die wir beim Krimileser finden, sondern jene des Welttrotzes. Johnson bestätigt faktisch die Welt, so wie sie ist, und verleugnet sie zugleich durch die Poesie, die er ihr gibt.

Leseerfahrung

Kann man also auf den ersten Seiten entscheiden, ob ein Buch gut oder schlecht ist? Mit großer Wahrscheinlichkeit ja. Wenn man sich vorher im Lesen gründlich geübt hat. Man braucht Leseerfahrung. Man braucht vielfältige Leseerfahrung. Denn wenn man für die Kohärenz eines Textes sensibel ist, kann man erahnen, ob die Kohäsion, also das, was mich als Leser bindet, treffen wird. Und es gibt einige ganz grundsätzliche Merkmale, die einen Text fragwürdig werden lassen.
Dazu gehören übrigens nicht die Rechtschreibung und auch nicht die Zeichensetzung. Zumindest nicht dann, wenn sie weitestgehend stimmig sind. Deutlicher wird dies, wenn man sich nach der Logik der aufgebauten Welt richtet. Einen schlechten Roman kann man dann erwarten, wenn der Autor krampfhaft versucht, sofort ein großes Szenario aufzubauen, wenn er seine Figuren in umständliche Beschreibungen fasst oder langwierige historische Abhandlungen zum Besten gibt. Wenn lächerliche, bedeutungslose Details als Sinnlichkeit verkauft werden oder die Geschichte unvermutet von einem Ort zum nächsten stolpert, als gäbe es keine Wege zwischen ihnen. Oder der Protagonist Handlungen nebeneinander setzt, als habe er kein Innenleben.
Findet man dies auf den ersten Seiten, so wird nichts Gutes folgen. Meistens nicht. Es gibt Ausnahmen. Aber die sind fast noch seltener als jene außergewöhnlichen Romane, die uns vom ersten Satz an treffen und uns nicht mehr loslassen, bis wir notgedrungen am Ende des Buches nichts mehr zu lesen haben.

Zoë Beck

Die Kraft, von Texten zu sprechen

Einmal habe ich Zoë Beck auf einer Lesung etwas sehr Bemerkenswertes machen sehen. Sie hat auf eine Frage aus dem Zuschauerraum begonnen, die Wirkung einer Textpassage zu erklären. Sie hat dies in sehr einfachen, verständlichen Worten getan. Und trotzdem war dahinter die langjährig geübte Kraft einer studierten Frau zu spüren, jener Wille, einen Text nicht nur zum Vergnügen, sondern auch systematisch zu lesen (ich vermeide an dieser Stelle das Wort wissenschaftlich, obwohl genau dies wissenschaftlich im vollsten Sinne des Wortes ist, weil viele Menschen sich über den Inhalt eines literaturwissenschaftlichen Studiums täuschen: es geht eben nicht darum, Romane noch mehr zu lieben).

Privatneurose

An dieser Stelle darf ich ein persönliches Bekenntnis machen. Ich besitze jetzt drei Bücher von Zoë Beck. Neben meinem Dashiell Hammett, George Simenon und einem lediglich aus nostalgischen Gründen vorhandenen Conan Doyle, zwei Krimis von Andrea Camilleri und drei weiteren wirklich guten Krimis ist dies in meinem Bücherregal schon alles, was an Krimis zu finden ist. Meine Krimis existieren entweder in der öffentlichen Bibliothek (und da könnte ich zahlreiche sehr gute beisteuern) oder durchkommentiert in meinem Zettelkasten.
Die Bücher von Zoë habe ich noch nicht gelesen.
Aus einem schlichten, wenn auch deutlich neurotischen Grund. Ich habe Zoë kennen gelernt, bevor ich ein Buch von ihr gelesen hatte. Sie ist ein Mensch, vor dem ich unbedingten Respekt habe. Und das diesmal nicht wegen ihrer Fähigkeiten, sondern als der Mensch, der sie ist. Ich traue mich an ihre Bücher nicht heran, aus dem simplem Grund, weil ich Angst habe, dass meine Wertschätzung für sie enttäuscht werden könnte. Das ist mein neurotisches Potenzial. Ich weiß! Aber es ist auch jene Kraft, mit der sie über Literatur sprechen kann, mit einer Art Unbefangenheit, die nicht kindlich ist, sondern (obwohl ich dieses Wort ungerne benutzen, weil es sich so nach fortgeschrittenem Alter anhört) weise.

Der zukünftige Leser

Es ist vielleicht jene Kraft, lesen zu können, jene, die nicht nur für sich liest, sondern auch für den zukünftigen Leser mit; die Kraft also, die beim eigenen Lesen das andere Lesen mit bedenkt und reflektiert.
Nein, man muss nicht das ganze Buch lesen, um es beurteilen zu können. Von Seite zu Seite und von Satz zu Satz offenbart sich dem geübten Leser immer mehr, ob ein Autor gut gelesen hat, ob er gut lesen kann. Ich glaube, dass sich dies in Romanen zeigt, auch wenn der Roman nie davon spricht. Und vielleicht macht das einen großen Schriftsteller aus: dass er ein großer Leser ist.

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