26.03.2014

Der sich in sich selbst faltende Mensch - Haut, Socke, Gehirn

Mit dem Mittelfinger berühre ich meine Lippe. In dieser Berührung liegt das Bewusstsein. Ich beginne mit seiner Untersuchung. Oft verbirgt es sich in einer Falte: Lippe an Lippe gelegt, die Zunge an den Daumen gedrückt, Zähne auf Zähne gepresst, geschlossene Augenlider, zusammengezogener Schließmuskel, zur Faust geballte Hand, ineinander verschränkte Finger, Unterseite des einen Oberschenkels auf die Oberseite des anderen oder ein Fuß über den anderen gelegt. Ich wette, der kleine monströse Homunkulus, dessen jeweilige Teile im Verhältnis zur Größe der Empfindungen stehen, wächst und schwillt an, wo es zu solchen Automatismen kommt, wo das Hautgewebe sich auf sich selbst zurückfaltet. In der Berührung mit sich selbst erlangt die Haut Bewusstsein, und ebenso in der Berührung mit Schleimhäuten; desgleichen wenn Schleimhaut auf Schleimhaut liegt. Ohne solche Einfältelungen, ohne die Berührung mit sich selbst, gäbe es keinen inneren Sinn, keinen wirklichen Körper, weniger Körpergefühl und kein eigentliches Körperschema; wir würden ohne Bewusstsein leben, glatt und stets in Gefahr, uns zu verlieren.
Serres, Michel: Die fünf Sinne. Frankfurt am Main 1998, S. 18 f.
Und so ähnlich schrieb wohl Walter Benjamin:
Der erste Schrank, der aufging, wann ich wollte, war die Kommode. … Ich musste mir Bahn bis in den hinteren Winkel machen; dann stieß ich auf meine Strümpfe, welche da gehäuft und in althergebrachte Art gerollt und eingeschlagen, ruhten, so dass jedes Paar das Aussehen einer kleinen Tasche hatte. Nichts ging mir über das Vergnügen, meine Hand so tief wie möglich in ihr Inneres zu versenken. Und nicht nur ihrer wolligen Wärme wegen. Es war »Das Mitgebrachte«, das sich immer im eingeräumten Innern in der Hand hielt und dass mich derart in die Tiefe zog. … Denn nun ging ich daran, »Das Mitgebrachte« aus seiner wollenen Tasche auszuwickeln. Ich zog es immer näher an mich heran, bis das Bestürzende vollzogen war: »Das Mitgebrachte« seiner Tasche ganz entwunden, jedoch sich selbst nicht mehr vorhanden war. Nicht oft genug konnte ich so die Probe auf jene rätselhafte Wahrheit machen: das Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes, »Das Mitgebrachte« und die Tasche eines waren. Eines — und zwar ein Drittes: jener Strumpf, in den sie beide sich verwandelt hatten. Bedenke ich, wie unersättlich ich gewesen bin, dies Wunder zu beschwören, so bin ich sehr versucht, in meinem Kunstgriff ein kleines, schwesterliches Gegenstück der Märchen zu vermuten, welche gleichfalls mich in die Geister- oder Zaubererwelt einluden, um am Schluss mich gleich unfehlbar der schlichten Wirklichkeit zurückzugeben, die mich so tröstlich aufnahm wie ein Strumpf.
Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um 1900, S. 283 f. in derselbe: Gesammelte Schriften Bd. 4.1
Aber es gibt auch eine Verallgemeinerung. Der Mensch entfaltet sich und faltet sich in sich selbst durch seine Haut, durch den Körper, den er bewohnt und der ihm diese Faltungen anbietet. Er faltet sich in seiner Phantasie durch die Märchen, die gleichsam Gliedmaßen in ein unbekanntes Reich sind und er kehrt zurück in die Höhlen seiner Socke, indem er in die Wirklichkeit zurückkehrt. Schließlich aber faltet er auch die Information in sich selbst, indem die vergangene Information zum Kontext der aktuellen Informationen wird, so dass das, was wir Informationsverarbeitung nennen, ein stets sich in sich selbst neu entfaltender Prozess ist:
Sehr allgemein gesprochen, scheint das Prinzip dabei darin zu bestehen, dass die fast kontinuierlich ablaufenden Feedback-Schleifen von höheren zu niedrigeren Bereichen im Gehirn einen anhaltenden Zyklus erschaffen, einen kreisförmigen, in sich selbst eingebettetem Informationsfluss, bei dem das, was gerade vor ein paar Millisekunden passiert ist, ständig dynamisch auf das zurück abgebildet wird, was gerade jetzt herein kommt. Ein innerer Kreislauf entsteht. Auf diese Weise erzeugt die unmittelbar zurückliegende Vergangenheit kontinuierlich einen Kontext für die Gegenwart — sie filtert das, was wir jetzt gerade bewusst erleben können. Man sieht, wie eine alte philosophische Idee verfeinert, angereichert und durch die moderne Hirnforschung dann auf der Ebene des neuronalen Mechanismus detailliert ausbuchstabiert wird.
Metzinger, Thomas: Der Ego-Tunnel. München 2014, S. 56.
Kleiner Nachtrag:
Eigentlich hatte ich etwas über die Nacktheit schreiben wollen, doch zu diesem Stichwort hat mich mein Zettelkasten geradezu erschlagen. Ich bin dann bei dem Zitat von Michel Serres hängen geblieben. Die beiden anderen Zitate waren in dem Moment sofort da. Aber wenn man sich mit dem Thema der Nacktheit beschäftigt, dann ist das kein allzu fernliegendes Sujet.

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