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31.07.2017

Der Computer als Medium im informatischen Unterricht

Wenn man sich mit Computern im Unterricht beschäftigt, bzw. eigentlich mit dem, was man informationstechnische Grundbildung nennt, stößt man auf eine ganze Menge von Angeboten, wie diese Sichtweise verfeinert und kategorisiert werden kann. Wer nicht vom Fach ist, der sei daran erinnert, dass es im Deutsch-Unterricht ebenfalls mehrere Fächer gibt, so etwa die formell-materielle Seite der Wörter (die Rechtschreibung also) oder die Sprachreflexion (zu der die Grammatik gehört), usw.
Ein hartnäckiges Problem bleibt der Medienbegriff. Mal ist der Apparat das Medium, mal die Art und Weise der Darstellung, mal die Struktur der Darstellung, und auch hier lässt sich unbefangen ein Usw. anhängen.

Vier Aspekte der Nutzung von Computern

Ich habe mich zunächst auf die Benutzung von Computern beschränkt, um hier meinen eigenen Zugang zu finden. Damit bleiben alle Betrachtungen der Hardware außen vor. So wäre zum Beispiel wichtig, zum Verständnis von Computern diese zu öffnen und so den Kindern einen Einblick ins Innere zu gewähren. Dies könnte man zum Beispiel im Rahmen einer Reinigung des Computers machen. Doch soweit will ich hier nicht gehen.

Der Computer als virtueller Raum

Eine der häufigsten Forderungen zur Computernutzung betrifft Lernsoftware. Diese stellt zu unterschiedlichsten Themen Programme bereit, mit denen Schüler etwas lernen können. So gut die Lernsoftware auch sein mag, als Inhalt für den informationstechnischen Unterricht bleibt sie zwiespältig. Denn rein inhaltlich kann mit solcher Software sowohl Rechtschreibung, Beeinflussungen und Abhängigkeiten in einem Ökosystem, und allerlei andere Sachen gelernt werden. Gerade Lernsoftware lebt davon, das Medium unsichtbar zu machen.
Natürlich gelingt dies nicht vollständig. Immer noch müssen die Kinder wissen, was man mit einer Maus anfangen kann, was Buttons (oder Knöpfe) auf einem Bildschirm bedeuten, und wie man eine solche Software startet. Doch das Lernen in Bezug auf den Informatikunterricht ist begrenzt. Er stellt einen indirekten Lernaspekt gegenüber dem thematischen und direkten Lernaspekt dar.

Der Computer als Werkzeug

Einen direkteren Zugang bieten all jene Programme, mit denen man etwas produzieren kann. Dazu gehören Textverarbeitungsprogramme oder Programme zur Bildbearbeitung. Im Unterschied zur Lernsoftware wird hier die enge Führung aufgegeben. Es gibt am Ende kein feststehendes Produkt, sondern eine Vielzahl an Möglichkeiten. Insbesondere muss der Benutzer selbst planen. Und wenn ein solches Programm im Unterricht zum Einsatz kommt, muss der Lehrer das Produkt vorgeben und den Weg dorthin strukturieren (natürlich abhängig von der Selbstständigkeit der Schüler und dem Lernziel des Unterrichts).
Die offenere Nutzung stellt den Werkzeugcharakter eines Programms stärker in den Mittelpunkt und damit die Funktionsweise des Programms.
Wenn man nun fragt, was genau dies mit der informationstechnischen Bildung zu tun hat, dann sei daran erinnert, was ein Programmierer eigentlich macht. Programmierer sind zuallererst keine Programmierer, sondern Menschen, die Arbeitsabläufe mithilfe von Computern automatisieren. Als erster Schritt steht deshalb die Analyse von Arbeitsprozessen im Mittelpunkt. Erst daraus werden dann Modelle entwickelt, die zu einer Software führen. Das war eigentlich schon immer so; aber erst in den letzten 15 Jahren wird dieser Aspekt auch in der Theorie und der Darstellung der Praxis prominent behandelt. Bei größeren Teams kann es allerdings passieren, dass ein Programmierer tatsächlich nicht für die Analyse zuständig ist, sondern während seiner ganzen Arbeitszeit mit dem Schreiben von Code beschäftigt ist.
Wer anhand von Werkzeug-Programmen ein Produkt erstellt, erhält zwar in diese Analyse noch keine Einsicht, aber geht zumindest mit dem sichtbaren Ergebnis dieser Analyse um. Und damit gewinnt er (und sie) zumindest ein gewisses Gefühl dafür, wie sich Arbeitsabläufe vom Programmierer aus einteilen lassen.

Der Computer als Informationsmedium

Programmierer automatisieren nicht nur bestimmte Arbeitsabläufe, sie abstrahieren auch Datensätze. Ein Datensatz ist zunächst, auch wenn dies merkwürdig klingt, jegliches sinnliche Phänomen. Die Abstraktion besteht nun darin, solche Sinnlichkeiten nach wichtig/unwichtig einzuteilen. Diese Einteilung verläuft natürlich nach den Ergebnissen, die man erzielen möchte. Jedenfalls ist es jedem Medium eigen, von Daten zu abstrahieren; so wie ein Foto von der Dreidimensionalität abstrahiert, aber auch von allen sinnlichen Kanälen, ausgenommen dem visuellen.
Informationen werden ebenfalls abstrahiert. Sie sind sowohl Ergebnis als auch Ursache von Abstraktionen. Man kann sich über die Qualität der Information bei Wikipedia, oder, besser noch, auf Facebook und Twitter, trefflich streiten. Tatsache ist, dass kein Medium ohne Abstraktion funktioniert.
Zunächst helfen Informationsmedien bei der Auswahl und der Steuerung von Handlungen. Darin bleibt auch die abstrakteste Information merkwürdig konkret.
Die Abstraktion gerät immer dann deutlich in den Blick, wenn sie für das Ergebnis hinderlich wird, zum Beispiel bei der Verpixelung von Bildern oder fehlenden Schriftsätzen bei Textverarbeitungsprogrammen – oder beim präzisen Einfügen von Bildern in einen Fließtext, also dann, wenn der Benutzer weiß, dass dies prinzipiell möglich ist, aber die Schrittfolgen nicht kennt.
Sehr generell lässt sich also sagen, dass Computer so indirekt der Initiierung und Steuerung von Handlungen dienen, indem sie Informationen anbieten, die idealerweise genügend Entscheidungsspielraum, aber auch genügend Orientierung bieten.

Der Computer als Programmiermöglichkeit

Am direktesten wird die Arbeitsweise von Software beim Programmieren erfasst. Zwar gibt es Hilfsprogramme, die einem das Programmieren auf zahlreiche Weisen erleichtern. Trotzdem spielen hier alle Aspekte des Programmierens eine prominente Rolle, vom Planen der Automatisierung über die Auswahl der relevanten Daten und deren Veränderung, bis hin zu zentralen Themen des Programmierens, etwa der Bildung von Algorithmen und der Verteilung von Aufgaben in einer Systemarchitektur.

Einteilung des Computereinsatzes

Insgesamt ist es schwierig, aus diesen einzelnen Beispielen einen gemeinsamen Nenner zu finden. Eine wichtige Rolle spielt allerdings die Mittelbarkeit. Bei Lernprogrammen ist das Programm selbst nur ein Mittel für etwas ganz anderes, während beim (Erlernen vom) Programmieren das Programm zum Zweck wird.
Sehr ähnlich gelagert ist die Aufteilung in einen direkten und einen indirekten Lernaspekt. In der Lernsoftware muss der Computer nur soweit beherrscht werden, damit das Programm laufen kann. Das Thema ist ein anderes (zum Beispiel Englisch-Vokabeln). Beim Programmieren ist dieses selbst das Thema. Allerdings gibt es auch hier Unterschiede: jede höhere Programmiersprache entfernt sich von der ursprünglichen Maschinensprache. Sie ist, in Bezug auf die grundlegende Steuerung, eine Vereinfachung, Zusammenfassung und „Abstraktion“.

Abschließend: Wertneutralität

Diese Betrachtung entfernt sich von der pädagogischen Situation, vor allem aber von den Benutzern. Um einen Computer zu bedienen, müssen die Benutzer bestimmte kognitive Voraussetzungen mitbringen. Auch dies lässt sich bei einer Analyse der Medien herausarbeiten. Er wird allerdings häufig vergessen, manchmal mit dem Argument, dass die Kinder doch sowieso schon zahlreiche Erfahrungen mit Computern hätten. Das ist natürlich richtig, aber nicht der springende Punkt. Denn für den Pädagogen bleibt wichtig, welche Kompetenzen wann und wie genutzt werden.
Dies führt uns auf einen anderen Weg. Und dazu müsste ich wesentlich genauer betrachten, was zum Beispiel beim Programmieren passiert. Vor allem aber müssten wir uns noch einmal um den Kompetenzbegriff bemühen. Dies sei an einem anderen Gebiet erläutert:
Gerade wird im Internet wieder über den Feminismus gestritten, vor allem über die Frage, ob Frauen bei gleicher Kompetenz benachteiligt werden. Bleibt man innerhalb des Systems, dann kann man diese Frage eindeutig mit Ja beantworten: Ja, Frauen werden benachteiligt. Allerdings, und das ist mein Kritikpunkt, hängt ein solcher Kompetenzbegriff immer an Privilegien. Und ob man nun die Gesellschaft prinzipiell für so veränderbar hält, dass es auch eine Kompetenz ohne Privilegien gibt, oder ob man dies bestreitet: in der Wissenschaft muss man zwischen diesen beiden Aspekten streng scheiden, denn der eine Anteil ist ein neurologischer, der andere ein politischer. Damit ist der eine Begriff „wertfrei“, bzw. von Werten getragen, die den naturwissenschaftlichen Gepflogenheiten gehorchen, der andere dagegen kann gar nicht wertneutral gedacht werden.
Dass diese Einteilung immer noch höchst problematisch bleibt, sieht man schon daran, dass die Wissenschaft selbst ein historisches Phänomen ist. Auf dem Weg zu einer solchen Neutralität hat sie durchaus viel erreicht; dass sie ohne ideologische Kontaminierung existiert, wird man dagegen nicht behaupten können. Das gilt nicht nur für den Feminismus, sondern auch für die Pädagogik.

28.03.2014

Medienschelte

Und noch ein kleines, durchaus widersprüchliches Fundstück.

Endlich mal Medienschelte

So der Tenor eines Artikels auf Horizont.Net.

Endlich mal?

Gehört nicht mittlerweile die Selbstbetrachtung der Medien zum Geschäft der Medien dazu? Diesen Eindruck hatte ich bereits, als ich als junger Mensch die Hörzu fragen las, ob solche Bilder (aus dem Irakkrieg) der Öffentlichkeit gezeigt werden dürfen. Gemeint war die Misshandlung und Tötung von einheimischen Irakern. Unterlegt war der Text mit einem Bild, das genau eine solche Folterung zeigt.
Indem wir es anprangern, tun wir es.
Paradoxer geht es wohl nicht.

Und gehören die Klagen über die eigene Kultur nicht mittlerweile fast zum guten Ton?

Warum aber Frank Schirrmacher?

Warum aber wird aus der Medienschelte, die in den letzten Jahren reichlich betrieben wurde und ebenso reichlich, wie die Medien dazu Anlass boten, warum aber wird aus dieser dann ausgerechnet Frank Schirrmacher ausgewählt?
Hat Stefan Niggemeier nicht seit Jahren Kluges dazu zu sagen? Hat nicht Hans Hütt gezeigt, wie man eine solche Analyse durchführen kann? Oder Klaus Baum? Oder. Oder. Oder.
Nicht zu erwähnen (um es dann doch zu tun): ich selbst?

Warum also wird hier ein Mensch gefeiert, nur weil er diesmal etwas Kluges gesagt hat?
Denn für die Entschleunigung bin ich auch. Langsam machen, Tatsachen prüfen. Über deren Wichtigkeit nachdenken.

22.01.2014

Aus der Welt der Zensur: kaputte Festplatten und das Urheberrecht von staatlichen Dokumenten

Zwei skurrile Begebenheiten aus der Welt des zensierten Journalismus:
(1) Die Justitiarin des Londoner „Guardian“ berichtet von der seltsamen Ohnmacht, die der Geheimdienst frisch nach den Veröffentlichungen von Edward Snowden an den Tag legte. Das ganze liest sich wie eine befremdliche Skurrilität. (HIER)
(2) Die Open Knowledge Foundation Deutschland e.V. weist das Verbot der Veröffentlichung eines aus dem Bundesinnenministerium kommenden Vermerks zurück. Das Bundesinnenministerium hatte diesen Vermerk zur privaten Kenntnisnahme verfasst und sieht jetzt eine Verletzung der Urheberrechte. Spannende Frage: hat eine Regierung die Möglichkeit, das Urheberrecht auszunutzen, wenn die Angelegenheit von öffentlichem Interesse ist? (HIER)

Flexibilität und Nachhaltigkeit. Lanz, die Medien und die Tugenden.

Emran Feroz twittert gerade:
Während Qualitätsjournalismus immer seltener wird (und wenig bezahlt), verdient Lanz also 250.000 €/Jahr für seine Sendung? Ein Witz.
Und was mir noch auffällt: immer dann, wenn Politiker nicht flexibel sein wollen, sprechen sie von Nachhaltigkeit. Und immer dann, wenn Politiker nicht nachhaltig Politik machen können, sprechen sie von Flexibilität. Ich habe nun weder etwas gegen Nachhaltigkeit noch gegen Flexibilität. Aber wenn man diese beiden Wörter als Begründung benutzt, dann habe ich schon etwas gegen sie.
Frage ist also, was im politischen Bereich Nachhaltigkeit ist und was Flexibilität. Nachhaltigkeit ist die Fähigkeit, Werte und Ziele der Politik kritisch durchzuhalten. Und kritisch meint hier tatsächlich das Gegenteil von dogmatisch. Natürlich muss man immer wieder darauf achten, standfest zu sein, aber Starrsinn ist noch lange nicht Standfestigkeit. Ebenso ist die Flexibilität nicht auf Moden gegründet, sondern die Fähigkeit, seinen Standpunkt mit neuen Tatsachen begründet zu vermitteln.

Damals, als Guttenberg in den Massenmedien (zurecht) so skandalisiert wurde, habe ich mich gerade in einer Auseinandersetzung mit der Praxis der Argumentation gefunden. Und abgesehen davon, was dies rechtlich bedeutet, ist der Skandal bei Guttenberg natürlich der, dass er seinen propagierten Werten durch sein Tun widerspricht und dass er in dem Moment, in dem dies offensichtlich wurde, plötzlich ein unglaublich hohes Maß an „Flexibilität“ an den Tag gelegt hat. Plötzlich konnte er Tag für Tag eine andere Meinung und eine andere Position haben.
Wenn eine Tugend daraus besteht, dass Handeln und Denken weitestgehend parallel läuft, wie ich hier vorsichtig mit Aristoteles formulierte, dann hat Guttenberg in dieser Situation sehr untugendhaft gehandelt.

Flexibilität und Nachhaltigkeit erweisen sich in Bezug auf politische Tugenden nicht selbst als Tugenden, sondern als Regulative für den Weg zu einem (politisch) tugendhaften Leben. Und man kann sie deshalb auch nicht wie Tugenden beurteilen, sondern muss den je einzelnen Weg zu bestimmten Tugenden betrachten, bei jedem Menschen neu.
Damit sind es aber Bedingungen der Selbstreflexion. Und wenn man diese ganze Diskussion auf eine griffige Formel bringen möchte, in der sowohl der Weg zu den Tugenden als auch diese Selbstreflexion aufgehoben ist, dann in dem Spruch: Practice what you preach! - Tue selbst, was du anderen predigst.

Ich glaube ja, dass diese ganze Diskussion um Markus Lanz auch ein Stück weit der Selbstversicherung dient. Die Menschen weisen darauf hin, dass Lanz eben auch nur ein Mensch ist, sich aber nicht so verhält. Und natürlich tun sie das gerade an den Stellen, wo überdeutlich wird, dass er seine Kompetenz völlig überschreitet. In der Diskussion mit Sahra Wagenknecht hat er ja nur gezeigt, was schon lange bekannt ist: dass er eben keine Ahnung von der Volkswirtschaft hat und deshalb auch kein Recht hat, so mit Sahra Wagenknecht umzugehen. Und viele Menschen, die ebenfalls weit von sich weisen würden, dass sie die Volkswirtschaft begriffen hätten, sehen eben trotzdem ganz grundlegende Fehler oder erahnen sie zumindest. Und auch da muss man einfach den vielen Stimmen, die sich jetzt gegen Lanz empören, Respekt zollen. Denn später, wenn diese Debatte abgeflaut ist, wird es nicht um Markus Lanz gehen, sondern um die Aufklärung über ökonomische Bedingungen und natürlich auch die Gestaltung von ökonomischen Bedingungen.
Insofern begrüße ich diese Debatte.

Vorhin habe ich irgendwo gelesen (es tut mir leid, dass ich jetzt die Quelle nicht nennen kann), dass Lanz doch etwas Gutes getan hätte: er hätte doch eine wichtige Debatte angestoßen, nämlich den um den Zustand unserer Massenmedien. Nun: diese Aussage ist nun wirklich lächerlich. Denn diese Debatte um die Massenmedien, die ist schon im 19. Jahrhundert geführt worden, wahrscheinlich noch früher. Aber einige der ganz ganz großen philosophischen Werke des letzten Jahrhunderts, von Adorno, von Arendt, von Marcuse, von Negt/Kluge, von Sloterdijk, von Luhmann, sind Werke, die sich auf sehr unterschiedlich kritische Art und Weise mit den Massenmedien auseinandersetzen. Lanz hat ja gar nichts dazugetan.

Im übrigen ist diese Formel ›hat eine wichtige Debatte angestoßen‹ auch ein Feigenblatt. Ob man eine wichtige Debatte anstoßen kann oder nicht, das ist auch ein wenig Zufall. Wichtiger ist doch, ob man diese begleiten kann. Und anscheinend hat Lanz sich entschlossen, samt dem ganzen ZDF, diese Debatte nicht zu begleiten und sie stattdessen totzuschweigen. Das ist nach den ganzen politischen Skandalen in der Bundesrepublik auch schon deshalb sehr tragisch, weil jetzt offensichtlich die Feigheit und Dummheit endgültig im Journalismus angekommen ist.
Wahllose Aussagen und verstocktes Schweigen, so stelle ich mir Flexibilität und Nachhaltigkeit in einer funktionierenden Demokratie nun nicht vor.

29.05.2013

Inkompetenz als Wahlmotiv

Schauen Sie sich zum Beispiel Angela Merkel an. Sie kann eigentlich gar nicht richtig reden oder gar so etwas wie Gefühle vermitteln. Sie ist auch nicht in der Lage, ihre Stimme einzusetzen. Rhetorisch mangelhaft, würde man sagen. Aber so merkwürdig es klingen mag: Diese Anti-Rhetorik gibt ihr die Möglichkeit, die Menschen zu erreichen.
Wie das? Weil man sich in dieser Unfähigkeit zu kommunizieren spiegelt. Nach dem Motto: Die kann’s nicht, ich auch nicht. Und deshalb wähle ich sie.
Aus: Die Angst der Politiker vor dem Shitstorm.
Über die Sprache in der Öffentlichkeit aufklären, sagt Hans Hütt. Die analytische Rhetorik wichtig machen, sage ich. Das ist nicht ganz dasselbe, aber wohl eher von den konkreten Methoden als vom fernliegenden Ziel unterschiedlich.

07.05.2013

Die Rhetorik von "asozial"; Gauck und seine Entstellung

"Verlangt man gar, dass die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d. i. [das ist, im Sinne von gleichzusetzen mit] der Ideen, und zwar zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben dargetan werden, so begehrt man etwas Unmögliches, weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann."
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main 1974, Seite 294f.
Je länger ich über Kant nachdenke, umso unsicherer werde ich. Neben allen anderen Sachen, die ich mache, beschäftige ich mich (immer) noch unsystematisch, assoziativ mit seinem Werk. Trotzdem: wir müssen auf diese Unterschiede, die Kant einführt, kritisch aufbauen.

Verstandesbegriffe und Vernunftbegriffe

Kant grenzt die Verstandesbegriffe von den Vernunftbegriffen (Ideen) ab. Verstandesbegriffe sind Bündel von sinnlich-konkreten Merkmalen. Haben wir einen Begriff vor uns, dann müssen wir uns als erstes fragen, ob dieser sich durch konkrete Merkmale definieren lässt.
Das können Sie selbst ausprobieren: der Begriff "Apfel" lässt sich relativ rasch definieren: er ist zumindest halbwegs rund, grün, gelb oder rot, hat einen vertrockneten Blütenansatz und auf der anderen Seite einen kurzen, hölzernen Stiel. Zudem ist das Fruchtfleisch meist weiß oder leicht gelblich und im Inneren sitzt ein Gehäuse mit keinem bis mehreren Kernen.
Andere Begriffe dagegen lassen sich nicht sinnlich erfassen. Dazu gehören Begriffe wie Staat, Politik, Gerechtigkeit, Glaube, und so weiter. Um diese doch zu versinnlichen, müsse man, so Kant, auf die symbolische Darstellung zurückgreifen. Symbole sind indirekte Darstellungen eines Begriffs. Warum sind solche Symbole nun nützlich? Kant macht dies an einem recht witzigen Beispiel deutlich (das ich schon einmal dargestellt habe): er hat den despotischen Staat mit einer Kaffeemühle verglichen (Seite 296), weil einer mahlt (der König oder Tyrann) und viele gemahlen werden (die Untertanen). Kant beschreibt dann, dass ein Symbol nicht der Anschauung nach, sondern der Reflexion auf die Analogie (Kurbel : Kaffeebohne = Tyrann : Untertanen) nach mit dem Vernunftbegriff übereinkommt.
In diesem Bereich kann man dann viele psychologische Begriffe einordnen, eigentlich sämtliche Emotionen, auch den Prozess der Motivation, ja, selbst neurophysiologische Begriffe, sobald sie aus ihrem Kontext zu sehr herausgerissen werden.

Der unklare Begriff in seiner rhetorischen Umgebung

Das Wort "asozial" gehört ebenfalls dazu. Hoeneß, um den es in dieser Debatte geht, wurde von Gauck als asozial bezeichnet, so die Medien im Allgemeinen. Tatsächlich hat der Bundespräsident aber "lediglich" "unverantwortlich oder gar asozial" gesagt, bzw. hier noch einmal das ganze Zitat von ihm:
"Wer Steuern hinterzieht, verhält sich verantwortungslos oder gar asozial" (im Stern)
Schon die Überschrift eines Artikels von Focus verschiebt die Bedeutung deutlich: Gauck bezeichnet Steuerhinterzieher als asozial. Hier geht es plötzlich um den ganzen Menschen und um ein psychologisches Merkmal. Schließlich wird in dem Artikel der ganze Mensch spezifiziert: es ist nicht mehr der Steuerhinterzieher, sondern Uli Hoeneß (den Gauck im Blick habe), die Attribute "verantwortungslos" und "asozial" werden in ihrer Reihenfolge umgedreht und die Konjunktion "oder gar" durch ein "und" ersetzt. Hier noch ein weiteres Zitat aus dem eben erwähnten Artikel:
"Mit Blick auf Uli Hoeneß äußerte er sich klar: Wer Steuern hinterzieht verhält sich „asozial“ und „verantwortungslos“."
Asozial bedeutet (für mich), dass man sich der Gesellschaft oder Gemeinschaft gegenüber gleichgültig verhält oder passiv oder aktiv sogar gegen sie arbeitet. Ich weiß nun nicht, wie dieses "gegen" genau aussehen könnte. Ich überlege mir seit einiger Zeit, ob es nicht die Aufgabe der Kultur ist, uns Konflikte zu liefern, und ob man nicht die Kultur verfehlt, wenn man sie konfliktlos halten möchte (im Zuge der Multi-Kulti-Debatte). Insofern wäre asoziales Verhalten sogar sehr eng an kulturelle Vorgänge gebunden.
Nun hat die Äußerung von Gauck etwas sehr Unglückliches: Sie ist, zumindest was das Wort "asozial" betrifft, komplett unklar. Manche Menschen meinen, dass es nicht nur auf Hoeneß zutrifft, sondern auch noch gerechtfertigt sei. Sie legitimieren es als zugleich psychologisch und juristisch richtig. Andere dagegen suchen die Verbindung zu den damals so genannten Asozialen im Dritten Reich und wittern einen indirekten Hitlervergleich.
An dieses unklare Wort hängen sich nun die Massenmedien und mehr und mehr auch die kommentierende und bloggende Öffentlichkeit. Bevor wir hier über das Amt des Bundespräsidenten sprechen und was er darf und nicht darf, müssen wir erst den Missstand beleuchten: und der ist relativ simpel, das Benutzen eines Wortes, welches zu anspielungsreich ist, um richtig verstanden zu werden.
Und so ist es auch klar, warum der Streit ausgebrochen ist und das Wort "asozial", das von Gauck noch als Steigerung benutzt wurde, jetzt plötzlich gleichbedeutend ist mit verantwortungslos. Schlimmer aber ist, dass die öffentliche Verurteilung von Hoeneß personifiziert. So schreibt ein Mensch in den Leserbriefen der Welt: "Steuerbetrüger sind asozial" und korrigiert sich dann gerade nochmal im Modus "zumindest die meisten". Genauso der Focus: es gehe um Hoeneß und das entscheidende Attribut ist "asozial".
Unklare Begriffe werden zum Spielball der Rhetorik. Verstandesbegriffe müssen definiert werden. Im sozialen, pädagogischen, politischen und massenmedialen Bereich haben wir es meist mit Vernunftbegriffen zu tun: hier hat der Redner die Verantwortung, über die Veranschaulichung und Versinnlichung eines solchen nachzudenken, bevor er ihn benutzt. Insbesondere gilt dies für Vernunftbegriffe mit einem starken moralischen Unterton. Es ist doch klar, dass Hoeneß hier herhalten muss. Gauck hätte sich lieber über diese doppelte Verurteilung von Menschen in den Medien äußern sollen und dem juristischen Aspekt etwas dezenter gegenübertreten dürfen.

Meine Meinung zu der Äußerung von Gauck

Sie ist rhetorisch schon für sich sehr gefährlich. Dies wird in folgendem Zitat sogar noch plastischer: "In unserem Land darf es in rechtlichen und moralischen Fragen nicht zweierlei Standards geben, …"; heiliges Schwein!
Moral mit einem funktionalen Rechtssystem zu vergleichen, was Gauck im ersten Zitat nur unterschwellig macht, ist schon ein deutlicher Missgriff. Das Recht dient nicht der Verwirklichung der Moral (welcher denn?), sondern der Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. Recht dient nicht der Gerechtigkeit, schon gar nicht der Wahrheit und erst recht nicht dem moralischen Überschwang. Das alles sind eigentlich nur Nebeneffekte, wenn es sie überhaupt gibt. Recht reguliert insbesondere die Konflikte innerhalb einer Gesellschaft und legt fest, ob ein Konflikt öffentlich rechtswürdig ist oder nicht. Recht legt Bedingungen fest, unter denen Menschen oder andere juristische Personen etwas dürfen oder nicht. Recht legt vor allem Handlungen dar, die ein Mensch zu tun oder zu lassen hat, von der Staatsseite aus; Moral kann dort nur auf indirektem Wege Einfluss nehmen. Man sollte das juristische System und die Volksmeinung jedenfalls nicht durcheinanderbringen.
Vor allem aber sollte man sich überlegen, welche Vernunftbegriffe man in welchem Kontext gebraucht. Auch, wenn man Bundespräsident ist.

13.01.2013

Elbphilharmonie und Leseförderung, Kultur und Unkultur

Die Elbphilharmonie ist ein Prestige-Objekt. Man fragt sich, für wen. Und nein, ich meine gerade nicht die Politiker, die sich mit ihrer wüsten Fehlkalkulation lächerlich machen. Ich frage, für wen das hinterher ein Prestigeobjekt sein wird und zwar eins, das nützlich ist. Für die Touristen? Jedenfalls nicht für die Unterschicht. Nicht für die "bildungsfernen" Schichten. 560 Millionen Euro kostet dieses Gebäude. Mittlerweile. Davon hätte man die öffentlichen Bibliotheken mal ordentlich mit aktueller Literatur aufstocken können. Lesegruppen einrichten können (1-Euro-Jobs, damit's von Herzen kommt). Prestigekultur ist zwar teuer und wahnsinnig wichtig, aber nicht für den kleinen Mann oder das Kind des kleinen Mannes (respektive der kleinen Frau), die sich eine Eintrittskarte sowieso nicht leisten können und sich für diese Kultur auch nicht interessieren. (Ist eigentlich schon mal eine Jazzkneipe als Prestigeobjekt vom Staat finanziert worden? Ich glaube nicht. Das ist wohl zu billig.)
Da sind dann 20.000 Euro für neue Kinderbücher schon mal eine großzügige Spende vom Senat. Und schauen wir uns das einfach mal rein optisch an:
20.000
560.000.000
Da ist die zweite Zahl irgendwie etwas länger. Und, so möchte man sagen, auch penisförmiger.

Neulich war ich in der Oper, Barbier von Sevilla, und mitten in der Musik fangen die Leute an zu klatschen. Das ist nämlich Prestigekultur: wenn man das Opernhaus mit dem Bierzelt verwechselt.
Nee, nee. Bevor ich mir diese scheinheilige Hochkultur antue, dann doch lieber eine ehrliche, schlechte und ein bisschen dreckige "Un"-Kultur. Und lieber ein paar mehr Patterson & Findus-Bücher für die lokale Bibliothek oder, wer Zeit hat, eine Lesegruppe für Kinder. Lieber sollen die Kinder wieder alle den Hotzenplotz oder den Jim Knopf kennen, statt dass die Besserverdienenden voreinander herumstolzieren.

Mein kleines Projekt zur folkloristischen Literatur, eigentlich ein Herumdenken an Bachtins Rabelais, liegt auf Eis. Daran müsste ich eigentlich weiterarbeiten. Um die Kritik an den Kindle-Autoren etwas handfester, etwas realistischer werden zu lassen und ihren sozialen Nutzen auszuloten.

12.11.2009

Sprachlosigkeit

Nach Enkes Tod also raisonnieren die Medien, mal wieder, über Sprachlosigkeit. Wie nach Winnenden, nur dass diesmal kein Amoklauf, sondern ein Selbstmord Anlass gibt. Da mittlerweile auch zahlreiche 'kritische' Beobachter über die Unkultur der wortstarken Sprachlosigkeitsbeschwörung plappern, erspare ich mir hier die Medienschelte. Wie immer beobachten wir hier die Eigendynamik der Massenmedien.
Statt dessen Adorno.
Sprache wird als physei, nicht als thesei erfahren, >taken for granted<; am Anfang ist der Fetischismus, und dem bleibt die Jagd nach dem Anfang stets untertan. Freilich ist jener Fetischismus kaum zu durchschauen, weil schlechterdings alles Gedachte auch sprachlich ist, der besinnungslose Nominalismus so falsch wie der Realismus, der der fehlbaren Sprache die Attribute der geoffenbarten erteilt. Heidegger hat für sich, dass es kein sprachloses An sich gibt; dass also Sprache in der Wahrheit ist, nicht diese in der Sprache als ein von ihr bloß Bezeichnetes. Aber der konstitutive Anteil der Sprache an der Wahrheit stiftet keine Identität beider. Die Kraft der Sprache bewährt sich darin, dass in der Reflexion Ausdruck und Sache auseinander treten. Sprache wird zur Instanz von Wahrheit nur am Bewusstsein der Unidentität des Ausdrucks mit dem Gemeinten.
Adorno, Theodor: Negative Dialektik

21.10.2009

Blogger

Hier nochmal ein Blog-Eintrag zum Internet-Aufreger des Jahres 2007. Wir erinnern uns: Bernd Graff schrieb, das Internet verkomme zu einem Debattierclub von Anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten. In Wahrheit sehe ich eher einen gewissen Qualitätsdruck, einen Qualitätswettbewerb zwischen den Bloggern, der zu regelmäßig guten Artikeln führt oder gute Artikel verbreitet.
Nein, ich mag mich nicht den sogenannten profilierten Journalisten anschließen. Gut, es gibt auch viel Unsinn im Internet. Aber erstens werden Blogs die üblichen Nachrichtensendungen und die üblichen Zeitungen nicht ersetzen, zweitens tragen gerade die Blogs, wie mir scheint, zu einem steigenden politischen Bewusstsein bei, der sich nicht auf vorgefertigte und erlaubte Fragen bei Pressekonferenzen erstreckt. Vor allem gibt es doch zahlreiche Blogger, die selbst auch Journalisten sind und hier die offiziellen Richtlinien ihrer Stammblätter nicht befolgen müssen.
Blogger müssen natürlich kritisiert werden. Auf der anderen Seite üben Blogger eben auch viel gerechtfertigte Medienkritik.


27.04.2009

Wachsender Rassismus

Etwas verschüttet gegangen ist bei der ganzen Volksabstimmung mein Augenmerk auf die neue Gewaltstudie.
Diese wurde am 17.03 von Christian Pfeiffer vorgestellt. Insgesamt ist die Jugendkriminalität rückläufig. Nur der Rechtsextremismus gewinnt mehr und mehr Boden. 14,4% aller Jugendlichen seien als extrem ausländerfeindlich einzustufen. Eindeutig rechtsextrem gelten 4,9%.
Zweierlei muss man dazu anmerken.

Erstens schreibt der Spiegel:
Bemerkenswert: Die Ausländerfeindlichkeit ist in jenen Regionen am höchsten, wo eher wenige Ausländer leben. "Wo die direkte Erfahrung mit dem Fremden fehlt, sind die Vorurteile am größten", erklärte Pfeiffer.
Im Zuge der Pro Reli-Debatte wurde, man denke daran, genau das umgedrehte Argument verwendet: erst die eigene Identität, dann die fremde (aber, wie ich schon sagte, selbst Goethe hat hier ein eher dialektisches Verhältnis, das von einem sich ausdifferenzieren verschiedener Identitäten ausgeht).
Tatsächlich ist es die Erfahrung mit Fremden und Fremdem, die zu einer differenzierteren Sicht kommen lässt und die Erfahrung mit einer eigenen Kultur, die sich in so Fremdartigem wurzelt wie Nathan, der Weise oder Faust, die einen nuancierteren Blick auf die eigene Kultur nahebringen.
Auch dafür ist Bildung geeignet.

Pfeiffer sagte auch:
Damit seien diese Gruppierungen wesentlich erfolgreicher bei der Anwerbung von Jugendlichen als etwa alle demokratischen politischen Nachwuchsorganisationen zusammen, betonte Pfeiffer. "Es ist erschreckend, dass die Rechten beim Einsammeln der Jugendlichen mehr Erfolg haben als die etablierten Parteien."
Wenn aber die politischen Gruppierungen sich einer Sprache bedienen, die den Begriffen ihren Ethos nimmt, die eine politische Debatte auf unsachliche und unklare Weise herunterbrechen, dann kann man hier kaum von einer strukturellen Distanzierung zur Nazi-Propaganda sprechen. Und dann spielen andere Faktoren plötzlich eine große Rolle, die die etablierten Parteien nicht bieten, die Neonazis aber schon: zum Beispiel ein bestimmtes Aussehen, Kameradschaft, gemeinschaftliche Unternehmungen.

Was aber am besten gegen Rassismus und Faschismus hilft ist Spaß am Lernen und Spaß an Bildung, und zwar der Bildung, die einen Jugendlichen zu kreativem und konstruktivem Arbeiten befähigt. Spaß am Lernen, Spaß an der Bildung muss manchmal seine eigenen Wege gehen und der Lehrer und die Eltern müssen kompetent sein, diese Wege zu sehen (zu diagnostizieren) und zu unterstützen (in Methoden zu packen).
Wer das Lernen lernt, der kann dieses gelassener führen (beim Lernen gibt es nur bedingt Steuerungsmöglichkeiten, aber diese kann man natürlich ausnutzen); wer Spaß am Lernen hat, überschreitet Grenzen: das muss nicht mit dem Überschreiten von Rassengrenzen oder politischen Grenzen einhergehen - solche Erwartungen fände ich zu hochgestochen -, aber es kann mit anderen Grenzen, disziplinären Grenzen oder Grenzen der Lebenswelt anfangen.
Die Steuerung solcher Prozesse kann sich übrigens nicht an Scheinidentitäten entfalten, sondern nur an ethischen Begriffen. Ethische Begriffe sind Begriffe, die sich nicht verwirklichen lassen, und denen auch niemand realerweise entspricht. Es sind eher Leitgedanken, Idealitäten, die genau dann dem Realen am nächsten kommen, wenn sie sich in einer kritischen Struktur wiederfinden. Die streitbare Demokratie ist ein solches Beispiel: die endgültige, die absolute Demokratie wird fortlaufend vertagt, aber nicht mehr für sie zu streiten, weil es keinen Zweck habe, weil sie sowieso nie existieren wird, wird die politischen Prozesse ins Gegenteil kippen lassen.
Ein anderes Beispiel ist der humorvolle Lehrer; humorvoll in dem Sinne, wie Freud dies für Eltern beschrieb: Ansprüche zu stellen aber das Scheitern als Erkenntnismöglichkeit und nicht als Versagen zu nehmen.

24.04.2009

Es geht um die Freiheit

So bewirbt Pro Reli derzeit die Ja-Stimme beim Volksentscheid. Ein schlechter Scherz übrigens, denn wie ich weiter oben ausgeführt habe, ist dieser Volksentscheid keineswegs ein Volksentscheid um Wahlzwang und Wahlfreiheit. Um was es sich handeln wird, lässt sich wahrscheinlich erst dann sagen, wenn man sich die Praxis ansieht.
Neulich meinte eine Frau zu mir, sie fände es schade, dass aus diesem Volksentscheid eine politische Vorwahl für die Bundestagswahl gemacht wird. Und so sieht es allerdings aus. Bei Pro Reli geht es kaum noch um die Sache, eigentlich garnicht mehr, wenn man sich die Konstellation der Begriffe ansieht. Das ist eine dermaßen ungeheuerliche Verflachung der Argumentation, dass man sich nur schütteln kann.
Es geht um die Freiheit - so wirbt man hier mit den Gesichtern von Günther Jauch und etlichen anderen B- und C-Promis. Aber um was für eine Freiheit denn? Mir ist der Gebrauch dieses Begriffes in diesem Zusammenhang garnicht klar.
Dass sich Günther Jauch für so etwas hergibt. Andererseits, was soll man von einem Menschen erwarten, der das Abfragen obskurer Wissensbestände mit dem Reich-Werden verknüpft? (Neulich träumte mir, dass ich ein Gespräch mit ihm hätte, über die Bedeutung von Bildung. Am Ende weinte er vor Scham und schlechtem Gewissen.)


21.04.2009

Semantisches Gedächtnis

Der Artikel zum semantischen Gedächtnis ist mittlerweile so häufig nachgefragt worden, dass ich ihn in eine *.pdf-Datei verpackt habe und versende.
Dieser neue Artikel enthält nicht nur meinen Blogeintrag, sondern zudem einige Abschnitte zum Gedächtnistraining und zur Narrativen Didaktik/Training. Außerdem habe ich mehr Literaturangaben und Fußnoten eingefügt, so dass Interessierte hier weiterarbeiten und ihr Wissen vertiefen können.


26.03.2009

Systemische Kriminologie?

Bei der Arbeit an der massenmedialen Darstellung von Gewalt und Kriminalität bin ich über eine ganze Reihe von Beobachtungen gestolpert. Zudem hat mich natürlich die Diskussion in der Mailing-Liste zur Systemtheorie angeregt.
Ich habe die letzten drei Tage an einer Kurzdarstellung zu Täter-/Opferkonstruktionen in Massenmedien gesessen. Dabei wollte ich nur einen kurzen Appetizer geben, was man ungefähr aus systemischer Sicht dazu sagen kann.
Nun ist aus der Kurzdarstellung nicht nur eine Langdarstellung geworden, sondern diese Langdarstellung wuchert auch an ihren Rändern, schreibt Erläuterndes ein und zerreißt so den einheitlichen Faden, den ich mir am Anfang aufgestellt habe. Als ich mir den Fahrplan zusammengestellt habe, ahnte ich schon, dass ich hier auf ein großes Gebiet stoße, das ich noch kaum durchmessen habe.
Groß ist das Gebiet auch deshalb, weil ich hier die Rhetorik systemtheoretisch abhandeln musste, oder: hätte müssen. Doch genau da stehen bei mir so viele Fragezeichen, dass ich wieder zu Artikeln über die Rhetorik gesprungen bin.
Kurz: keine Anmerkungen zur Kriminologie, schon garnicht aus systemischer Sicht. Nur wieder massenweise Zettel in meinem Zettelkasten mit tausend Ideen.
Trotzdem, hier einige der Ideen:

Wuchern

Ihnen ist sicherlich aufgefallen, wie paradox umgedreht die Kommunikation in den Massenmedien wuchert, sobald die Tat passiert ist.
Selbstverständlich, werden Sie sagen. Über die Tat kann ja erst berichtet werden, wenn sie geschehen ist.
Doch wir sollten das nicht für allzu selbstverständlich halten. Amstetten, Winnenden, das sind ja Kürzel für einen Suchprozess, der sich nicht nur um den Schrecken (engl.: terror) der Tat dreht, sondern um Verdachtsmomente, dass diese Tat keine Einzeltat ist, ja, dass es noch mehr solcher Menschen geben könnte.
Dieses Wuchern jedenfalls zeichnet sich durch mehrere Aspekte aus.

Latenz/Delegation

Ist weiß nicht mehr, welcher Soziologe den Satz geäußert hat "Jede Gesellschaft bekommt die Verbrecher, die sie braucht."; ich glaube Durkheim.
Jedenfalls markiert dieser Satz die beunruhigende Vermutung, dass nicht Tim K. den Amoklauf begangen hat, sondern dass dieser Amoklauf gesellschaftlich delegiert worden ist, ja, dass eine soziale Latenz  nicht nur einen Menschen, sondern potentiell viele Menschen in diese Richtung treiben könnte.
Wäre also dieser Amoklauf, die Disposition zum Amoklauf ansozialisiert, und deren Ausführung erlernt?
Zwischenbemerkt: Luhmann unterscheidet zwischen Lernen und Sozialisation, wobei Lernen in bewusster, verhandelbarer Wissenszuwachs ist, während Sozialisation ein unbewusster (latenter) Wissenszuwachs ist, bzw., um es genauer zu sagen, eine Art Einimpfen latenter Strukturen in die Köpfe, die nicht als Faktenwissen, sondern als Dispositionen zur Wissensverarbeitung zu beobachten sind.
Was also sind amok(o)phile soziale Strukturen?

Ursachenseelen

Täter werden häufig auf Ursachen ihrer Tat hin angeklopft (in Massenmedien). Meist kommt man zu einer irrationalen Tendenz in der Seele, einem eigentlich guten Umfeld (sowohl beim Amoklauf in Winnenden als auch beim Inzestfall Amstetten), und damit zu einem so dezidiert psychischen Moment, dass eine genaue Aufklärung nicht möglich sei.
Zumindest findet man das in etwa in den Massenmedien.
Täter sind (Konstruktionen von) Ursachenseelen.
Die Ursachen seien nun gerade der Begründung entzogen. Das ist aber keine wissenschaftliche Feststellung, sondern zunächst nur ein massenmedialer Beitrag. Erstens blockiert ein solches Argument weitere Beschäftigungen mit dem Thema. Wenn Josef F. eine Persönlichkeitsstörung hat, wird dies nicht weiter erläutert. Tatsächlich ist der Begriff der Persönlichkeitsstörung durchaus ein streitbarer Begriff.
Zweitens aber etabliert sich durch diese Blockade und diesem Begriff eine mythische Letztbegründung. Es gibt, laut ICD-10, eine ganze Menge Persönlichkeitsstörungen. Wie man dies aber sozial verortet, wie man hier neben Psychischem auch Soziales sieht, wird oft auf ein Minimum zusammengeschrumpft: gewaltverherrlichende Spiele, Pornos (bei Tim K.); also eher so etwas wie mimetische Serien: gewaltverherrlichende Spiele --> Amoklauf. Strukturelle Momente dagegen werden kaum, allenfalls mal durch einen Spezialisten, hervorgehoben.

Wirkungsseelen

Faszinierend ist auch, dass Opfer (die Missbrauchten, die Überlebenden) ebenso wenig strukturell betrachtet werden.
Die Tat bricht in das Leben eines Menschen ein und ist ganz Wirkung, der Mensch ganz Spielball. Natürlich ist eine solche enorme Erschütterung schlimm. Trotzdem ist erstens die Art und Weise der Verarbeitung sehr spezifisch, je nach Mensch, und das eine oder andere Mal hatte ich das Gefühl, dass es sogar den Umstehenden ganz recht kommt. Der Amoklauf als Ventil und als Karneval (ich möchte hier nicht die Tat verharmlosen, nur auf eine gewisse traumatische Komplizenschaft hinweisen).
Wie oben zielt hier der Gedanke, der sehr unausgereifte Gedanke, auf soziale Latenzen, die "Amokläufe" nahelegen, und zwar anders nahelegen, als dies mimetische Serien machen würden (zur Unterscheidung von Serie und Struktur siehe z.B. Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1997, S. 258ff.).
Opfer sind (Konstruktionen von) Wirkungsseelen.
Aufgefallen ist mir dieses Differenz zwischen Ursachen-/Wirkungsseelen übrigens auch dadurch, dass Täter beschrieben werden, als hätten sie einen geheimen Ursprung, wären Findelkinder in dieser Welt von normalen Persönlichkeiten. Auch wenn hier der Sprung weit scheint: man kann ähnliche narrative Muster zwischen Geschichten von Findelkindern und massenmedialen Täter-Rekonstruktionen entdecken.
Am berühmtesten ist wohl Kleists Novelle Der Findling. In dieser findet man gegen Ende folgenden gewaltigen und gewalttätigen Satz: "Durch diesen doppelten Schmerz gereizt, ging er [Piachi], das Dekret in der Tasche, in das Haus, und stark, wie die Wut ihn machte, warf er den von Natur schwächeren Nicolo nieder und drückte ihm das Gehirn an der Wand ein." Um diese Stelle herum weben sich sowohl familiäre wie auch juristische Deformationen. Diese gewisse Nähe zur Darstellung von Tätern dürfte sich wohl von alleine und ohne nähere Belege erschließen.
Wirkungsseelen, mithin Opfer, dagegen haben eine zu dem, was ich Ereignis-Eltern genannt habe: Ereignisse, die stark persönlichkeitsprägend sind und in fast jeder Spannungsgeschichte vorkommen. Beim Opfer ist es natürlich die Tat, die so prägend ist, und die durch die "mildere" Gewalt des öffentlichen Voyeurismus konterkariert wird. Ähnlich ist es ja bei Romanen. Ein Junge findet seinen jüngeren Bruder auf schreckliche Weise ermordet. Wir leiden mit ihm, aber es ist ein sehr voyeuristisches Mitleid. (Siehe dazu mein Skript Eine Abenteuergeschichte schreiben.)

Raumsoziologie

Was für den Krimischreiber selbstverständlich ist, den Tatort zu konstruieren, das wird von den Massenmedien ebenso durchexerziert. Hier werden Orte fotografiert, werden Polizeisperren, die Umgebung, die Innenräume (soweit der Presse zugänglich), usw. gefilmt, beschrieben. Wege werden aufgezeichnet. Das aktuelle Wetter spielt eine Rolle, als ob der Journalist bei Sonnenschein anderes zu berichten hätte als bei Regen.
Hier also werden Räume vermessen. Taträume, Tatumfelder, Gerichtsräume. Der Richter entscheidet über Gefängnis oder Psychiatrie. Trauerräume, Räume der psychotherapeutischen Betreuung, ja sogar unbekannte, anonyme Räume, wie bei der Familie aus Amstetten, die sich an unbekanntem Ort aufhält.
Hier also noch einmal die Frage: was ist ein Raum? wie wird er medial rekonstruiert?

Das also einige der Gedanken, die ich mir zu Winnenden/Amstetten gemacht habe.
Übrigens bin ich dabei wieder auf Jelinek gestoßen. Deren Roman Neid behandelt Amstetten, vorher auch mal Natascha Kampusch. (Auch dieser Roman, wie ihre österreichische Kollegin Friederike Mayröcker übrigens, traktieren den Raum durch Sprache und deformieren das Koordinatensystem. Kleist, zum Beispiel in Das Erdbeben in Chili, verzerrt ebenfalls den Raum. Doch das ist wieder ein anderes, noch weiteres Feld.)

24.03.2009

Gedächtnistraining

Gestern habe ich zwei Bücher zum Gedächtnistraining zur Rezension erhalten.
Sehr fasziniert habe ich festgestellt, dass Gedächtnistraining zwar solche Sachen wie Konzentration, Kreativität oder Problemlösen trainiert, sich aber auf Formen des semantischen Gedächtnisses stützt.

Ein einfaches Beispiel: Sie kennen doch sicher die Suchaufgaben, wo man zwei scheinbar identische Bilder präsentiert bekommt, die sich dann aber doch in zehn oder zwölf Details unterscheiden. Such den Fehler!-Bilder eben. Diese Aufgaben sind zur Konzentration gut und steigern die Merkfähigkeit, weil hier ein Bild genau durchgearbeitet wird.
Es ist das Bild, das hier mit dem Image/Komplex gleichgesetzt wird. Ein Image ist eine Form des semantischen Gedächtnisses. Das Image hat den Vorteil, dass man es nur als undeutliches Schema aufrufen kann, aber, wenn man es genauer oder detaillierter braucht, in dieses hineinzoomen kann, bzw. scharfstellen kann. Das Image kann dadurch situationsspezifisch viele oder wenige Informationen liefern.
Genau das üben Suchbilder. Man überblickt das Bild, nähert sich an Details, geht wieder zurück und trainiert damit vielleicht dieses Hinein-/Herauszoomen

Ein anderes einfaches Beispiel sind Wörter, deren Anfangs- und Endbuchstaben hingeschrieben sind. Hier soll man, kreativ und konstruktiv, den Rest des Wortes einsetzen. Steht zum Beispiel "P ..... T" da, kann ich es mit "Pott" oder mit "Pizzalieferant" ausfüllen.
Solche Wortspiele basieren auf zwei Strategien: entweder auf Images, denn viele Wörter hat man, zumindest als geübter Leser, als Ganzwörter im Kopf. Man erkennt sie auf einen Blick. Oder auf Skripten. Diese geben hier eine richtige Reihenfolge von Handlungen an, bei Wörtern also die richtige Reihenfolge, in der man Buchstaben schreibt. Je nachdem übt man also die eine oder die andere Form des semantischen Gedächtnisses, Images oder Skripts.


18.03.2009

Deutsche Argumentation

Charlton Heston ist einer der konservativsten und unbeugsamsten Befürworter von Waffenbesitz von Bürgern.

In Deutschland läuft diese Diskussion zum Glück anders. Noch!
Sieht man sich die Diskussion um den Religionsunterricht an, wünscht man sich, dass die Menschen zum Beispiel etwas mehr Kant lesen. Argumentationslehre ist kein schamanistisches Mysterium. Und hüben wie drüben wäre das eine oder andere an Differenziertheit und genauerer Argumentation doch sinnvoll.

Überhaupt: ich habe mir heute ein kleines Experiment geleistet und mal ein paar Leute auf der Straße angesprochen (mit äußerst seltsamen Erlebnissen: einige Menschen haben mich angesehen, als ob ich irre geworden sei; zum Glück dachte ich mir solch eine Reaktion schon und war darauf vorbereitet, aber das ist ein anderes Thema).
Jedenfalls habe ich die Menschen gefragt, ob sie es für wichtiger halten, dass ein Manager ethisch oder religiös handelt. 100%ige Antwort: Manager sollen ethisch handeln (die Stichprobe betrug allerdings nur sieben Menschen).
Als ich gefragt habe, ob sie für Religion als Zusatzfach oder Alternativfach für Ethik stimmen würden, fiel die Antwort auf 5 für Zusatzfach, 2 für Alternativfach.
Auf die Frage, warum sie so wählen würden, kam von denen, die Religion als Zusatzfach belassen würden, etwa folgende Antwort: "Die meisten glauben doch eh' nicht mehr an einen Gott." (2 Stimmen), "Ethik ist umfassender." (1 Stimme), "Das sind keine ausgebildeten Lehrer, die das unterrichten." (1 Stimme), "Die Kinder sollen nicht getrennt in Werten unterrichtet werden." (1 Stimme).
Die Menschen, die Religion als Alternativfach wählen würden, meinten: "Damit die jungen Leute wissen, was ihnen heilig sein muss." (1 Stimme), "Jeder hat doch das Recht auf seinen eigenen Glauben." (1 Stimme)

Dröseln wir das auf:
  • "Die meisten glauben doch eh' nicht mehr an einen Gott." --> Das ist eindeutig ein resignatives Argument. Nur weil viele Menschen nicht mehr an Gott glauben, heißt das noch lange nicht, dass Ungläubigkeit zur Pflichtübung werden muss.
  • "Ethik ist umfassender." --> Was zu beweisen wäre. Ethik stellt (und beantwortet die Frage, mit welcher Qualität auch immer), wie wir zusammen leben sollen. Religion befasst sich, je spezifisch, mit den Bräuchen und Lehren einer spezifischen Religion. Dass der Religionsunterricht und die Theologie eng mit ethischen Fragen verknüpft ist, ist das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung (sage ich hier mal kühn). Jedenfalls kann man nicht behaupten, dass Ethik so eine Art Meta-Religion wäre. Auch das ist also kein Argument, jedenfalls nicht direkt. Dass Ethik etwas anderes ist, und deshalb Ethik und Religion nicht als Alternativen gleichgesetzt werden können, ist wohl das eigentliche, worauf man beim Argumentieren abzielen sollte. Und die ganze Frage ist dann nur noch: behandelt der Ethikunterricht die Religionen mit, oder behandelt der Religionsunterricht die Ethik mit?
  • "Das sind keine ausgebildeten Lehrer, die das unterrichten." --> Soweit ich weiß, sind die meisten Religionslehrer ausgebildete Lehrer, die hier - in Religion - eine Zusatzqualifikation erlangt haben.
  • "Die Kinder sollen nicht getrennt in Werten unterrichtet werden." --> Das ist für mich das überzeugendste Argument. Werte sind, folgt man Luhmann, ein semantisches Äquivalent zu Normen. Äquivalent heißt nicht, dass Werte das ausdrücken, was Normen einschleifen. Es heißt nur, dass diese sich in der Codierung darauf beziehen, wo Normen das erwartbare Handeln begrenzen. Gemeinsame Werte, also - salopp formuliert - semantische Konfigurationen, die sich auf das Wie des Zusammenlebens beziehen, müssen nicht Entsprechungen auf der normativen Ebene besitzen, siehe Multikulturalismus, der normativ eher von Mischungen, Abgrenzungen und erduldeten und nicht-geduldeten Missverständnissen gezeichnet ist. Aber zumindest liefern hier Werte eine Art Ritualisierung in der Sprache, was man noch einmal probieren sollte, weil es einen Wert hat: zum Beispiel, mit Menschen sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds zusammenzuleben.
  • "Damit die jungen Leute wissen, was ihnen heilig sein muss." --> Hier ist heilig eine recht seltsame Metapher für Respekt, Achtsamkeit. Der Mann meinte wohl ethisches Handeln, metaphorisierte das aber in den religiösen Bereich.
  • "Jeder hat doch das Recht auf seinen eigenen Glauben." --> Unbestritten? Nicht wirklich. Glauben, der antidemokratisch ist, wird von den Gesetzgebern zurecht beschnitten. Siehe Fundamentalismus. Und was hat das Recht auf einen eigenen Glauben damit zu tun, dass Religion als Alternativfach eingeführt werden soll? Die Antwort war ausdrücklich: "Ja, man kann die Menschen doch nicht zwingen."

Bodo Ramelow, Mitglied des Parteivorstandes der Linken, fordert in Schulen nun Kurse für Konfliktbewältigung und Mediationsverfahren, außerdem mehr Medienkompetenz im Unterricht (unsinnig, wenn man die vorhandenen Rahmenpläne ansieht, da bereits vorgeschrieben). Des weiteren fordert er mehr Kontakt mit Schulpsychologen und Traumatherapeuten. Das ist ein schwieriges Feld. Die Kinder werden ja gerade überpsychologisiert, weil allzuviele Lehrer sich das Recht herausnehmen, in einer Art und Weise in die Köpfe der Kinder hineinzublicken, die so garnicht möglich ist.
Auf der anderen Seite werden fundamentale Sachverhalte der Wissenschaftstheorie nicht nur nicht in der Schule behandelt, sie scheinen auch den meisten Lehrern unbekannt zu sein. Dazu gehören Begriffs- und Modellbildung, Argumentationslehre oder, was den Deutschunterricht angeht, was ein Zeichen ist (und das ist wirklich erschreckend, denn das hat man wirklich in einer halben Minute erklärt, zumindest in den Grundzügen).
Nicht nur die Wertevermittlung, sondern der strategische Umgang mit der Pluralität des Sinns, mit der unendlichen Semiose (U. Eco) gehört stärker gewürdigt. Statt also mehr sozialpädagogisches "Gedöns" (entschuldigt bitte, liebe Sozialpädagogen), sollte eine klarere Ausrichtung auf methodisches Wissen, also auf Methodenkompetenz, auf die Sozialität des Wissens, also auf Sozialkompetenz, und auf das persönliche Spiel mit dem Wissen, also auf Personalkompetenz (scheußliches Wort übrigens) gelegt werden. All dies gibt der Berliner Rahmenplan übrigens vor, ich wiederhole es. In der Zeit, als dieser eingeführt wurde, hieß es an meiner damaligen Schule, man habe ja ein Jahr Zeit, um diesen umzusetzen, dabei müsste man - meiner Ansicht nach - nicht allzuviel pädagogischen Sachverstand haben, um mit fliegenden Fahnen zu der Neufassung überzuwechseln.
Denn was die Wissenschaftlichkeit der Pädagogik angeht, kann ich hier nur auf mein Lieblingshassbuch hinweisen, ein Geschmier an Doktorarbeit, das ich mir von keinem Zwölfjährigen so hätte geben lassen.

Winnenden / Amok

Ich mäandere hier ein wenig zu dem Thema Gewalt. Seit Peter Fuchs dies in der Luhmann-Liste im Zusammenhang mit Narrationen erwähnte, und seit ich vom Carl-Auer-Verlag das Buch Autorität und Gewaltprävention rezensiert habe, ist das Thema wieder in den Vordergrund meiner Aufmerksamkeit gerückt. - Hier ein kleines Stück Analyse mit systemtheoretischen Operationen.

Un-/Auffälligkeiten
Bedenkt man die Berichte der Zeitungen, dann war der Täter von Winnenden, ein Tim K., vorher unauffällig, nachher auffällig. Was ist Auffälligkeit?

Adressierbarkeit
Grob gesagt ist Auffälligkeit Adressierbarkeit (P. Fuchs), das heißt, wie ein Mensch (oder ein System) in der Gesellschaft angesprochen oder erreicht werden kann. Menschen werden entweder direkt angesprochen oder es wird über sie gesprochen. Wenn ich mit meiner Nachbarin rede, lasse ich ihr eine gewisse Möglichkeit, sich zu meiner Kommunikation einzustellen. Wenn ich mit jemand anderem über meine Nachbarin rede, überlasse ich einem anderen diese Wahl, nicht aber meiner Nachbarin selbst.
Wir haben es hier mit zwei verschiedenen Formen der Selektion zu tun. Diese Selektion setzt sich auf die grundlegende Selektion in der Kommunikation - folgt man Luhmann -, der von Mitteilung und Information.

Zwei-/Drei-Differenzen-Schema der Kommunikation
Kommunikation ist ein Zwei-/Drei-Differenzen-Schema. Ein Zwei-Differenzen-Schema ist Kommunikation, weil man die Wahl zwischen Information oder Mitteilung hat und weil man wählen muss. Dabei ist die Information eine Unterscheidung in der Welt (zum Beispiel, dass ich über Amok/Auffälligkeit spreche und nicht über Tischdekorationen/Auffälligkeit), während Mitteilung ein Ausdruck der Eigendynamik eines komplexen Systems ist (in diesem Fall bin ich, der Autor, das komplexe System).
Das Zwei-Differenzen-Schema aus Information/Mitteilung (oder Weltunterscheidung/Eigenselektion) geht aber zugleich in ein Drei-Differenzen-Schema über, dem zwischen Information/Mitteilung/Selektion von Information oder Mitteilung. Da man wählen muss, da man gezwungen ist zu wählen, ist die dritte Differenz zugleich die Einheit des ganzen Schemas. Die Selektion ist die Einheit einer Unterscheidung in der Entscheidung für die eine oder andere Seite. Luhmann nennt diese Einheit auch Verstehen.

Zumutungen/Krisen
Wenn ich mit jemandem kommuniziere, mute ich ihm und er mir dieses Unterscheiden massenhaft zu, aber auf einem Niveau, dass ich es kaum noch merke. Die Kommunikation kommuniziert sich praktisch von alleine.
Erst krisenhafte Zuspitzungen steigen dann zu dem Problem hinab, ob der Andere mir etwas mitteilen oder mich informieren wollte.

Interaktion
Adressabilität stützt sich zum Beispiel auf Personen. Indem ich mit und über Personen spreche, adressiere ich sie in der einen oder anderen Weise. Personen sind Kompaktzumutungen an Attributen, bzw. Eigenschaften. Harald Schmitt ist hintersinnig und Oliver Pocher doof. So rasch geht das.
Der Amokläufer von Winnenden nun kippt anhand einer zeitlichen Differenz - vor/nach dem Amoklauf - von einer Wenig-Adressabilität in eine Viel-Adressabilität. Vorher war er ruhig und unauffällig, hinterher wird dieses und jenes gesagt und das massenweise. Er ist, sozusagen, in aller Munde.
Man kann von einer interpenetrativen Kommunikation sprechen, wenn ich jemanden direkt anspreche. Diese Form, die Interaktion, stützt sich auf die Unterscheidung anwesend/abwesend. Interpenetrative Kommunikation läuft massenweise in der Gesellschaft ab, nicht ganz so massenweise bei einzelnen Personen. Tim K. scheint, so wird in den Medien berichtet, wenig in solche Interaktionen eingebunden gewesen zu sein.

Kollaps und Wuchern der Adressierbarkeit
Der Amoklauf (insofern man von einem Amoklauf reden kann) hat in der Kommunikation folgendes bewirkt: zunächst wird die Interaktion von Tim K. mit anderen Personen durch eine gewalttätige Lösung radikal gestoppt. Mit Toten, salopp gesagt, kann man nicht sprechen. Dafür aber wuchert eine ganz andere Kommunikation, die massenmediale, die hier zugleich Informationen gibt ("Tim K.: Gewaltspiele auf dem Computer"), als auch über Mitteilungen informiert ("Tim K.: ein isolierter Junge?").
Massenmediale Aufmerksamkeit setzt sich hier gleichsam auf die personale Aufmerksamkeit drauf, und zwar in einer Art und Weise, dass die Aufmerksamkeit für die Massenmedien als Mitteilungsmittel entmutigt wird, die Aufmerksamkeit für die Massenmedien als Informationsmittel dagegen gefördert wird. Die Selektion in den Massenmedien - also die Seite ihrer Mitteilung, ihrer Eigenselektivität - muss mühsam (d.h. intellektuell) erzwungen werden; sie ist zunächst latent.

Eigen-/Fremdkomplexität und das Nadelöhr der Mitteilung
Während man bei Tim K. also von einem Kollaps der Adressierbarkeit ausgehen kann, und zwar sowohl in eigener Hinsicht, als auch in Hinblick auf andere: er wollte, aber das ist natürlich auch nur eine Aussage aus den Massenmedien, möglichst viele Menschen töten. Nimmt man diese Aussage als wahr, dann ist die Fremdtötung schon vorher ein Zusammenbrechen der Form Person auf ein Minimum an Attributen, also ein radikales Ausdünnen des Blicks auf den anderen. Das Was? der Adressierbarkeit verknappt sich auf die Unterscheidung lebendig/tot und das Wie? der Adressierbarkeit auf töten/nicht-töten.
Gewalt - so hat es den Anschein - ist ein Zusammenbruch von Eigenkomplexität und Fremdkomplexität. Eigenkomplexität, noch einmal, ist bezogen auf ein Mitteilen-Können. Mitteilen-Können setzt Wahlmöglichkeiten voraus, was man mitteilen möchte. Und in der Kommunikation setzt dies voraus, dass man einer Person zumutet, in ihren Mitteilungen selektiv vorzugehen, weil sie mehr mitteilen könnte, sich aber in diesem Moment für etwas entscheiden muss, bzw. zeitliche, sachliche und soziale Vorgaben die Komplexität der Mitteilung beschränken. Jede Eigenkomplexität geht durch das Nadelöhr der Mitteilung.
Fremdkomplexität, die Komplexität eines Anderen, geht ebenso durch ein solches Nadelöhr. Sich ein Bild von einem anderen Menschen aufzubauen, seine Kommunikation also als interne Vorlieben, als Seele und Geist zu interpretieren, führt natürlich nicht zur Wirklichkeit. Wirklichkeit, reales Bild ist kein Begriff, mit dem man heute noch diskutieren kann. Das einzige, was hier tauglich ist, ist das mehr oder weniger an Differenzierung. Damit sind wir wieder bei dem Aufbau/Abbau, und dem Zusammenbruch von Eigenkomplexität, diesmal in Form der Eigenkomplexität des Anderen.

Strategien
Dass Fremd- und Eigenkomplexität das Nadelöhr der Mitteilung bedürfen, führt zu Strukturerfordernissen, die hinreichend komplexe Entscheidungen ermöglichen. Üblicherweise spricht man hier von Metakommunikation (was ist passiert, als wir so und dass wir so miteinander geredet haben?) und Soft-Skills (wie kann ich entscheiden, wo Entscheidungen aufgrund der Eigen-/Fremdkomplexität riskant sind?).
Die Metakommunikation inszeniert eine Art re-entry des Verstehens ins Verstehen. Die Unterscheidung Information/Mitteilung wird normalerweise nicht kommuniziert, sondern nur prozessiert: ich fasse etwas als Information oder Mitteilung auf, aber ich rede über dieses Auffassen nicht, sondern tue es und setze es beim Anderen als Horizont meiner Wahl voraus.
In Bezug auf das Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun habe ich von einer Rück-Qualifizierung gesprochen. Was ich beim anderen zu hören meine, setze ich für meine eigene Kommunikation voraus. Wenn Peter sagt: "Du siehst heute aber blendend aus!" und ich sage: "Veralbern kann ich mich selbst.", dann fasse ich Peters Aussage nicht als Information, sondern als Mitteilung auf. Ich rück-qualifiziere seine Aussage als Mitteilung. Wenn Peter jetzt empört sagt: "Du hast ja eine Laune heute! Ich sage nur, was ich denke.", dann ist klar, dass er seine Aussage als Information gesehen hat, während er nun seinerseits meine Aussage als Mitteilung, als inneres Selektionsverhalten auffasst, nämlich als schlechte Laune.
Metakommunikation qualifiziert nun nicht nur in direktem Anschluss, sondern auch die Episoden davor. Statt einfach weiter zu prozessieren, und die Kommunikation ihrem gewohnheitsmäßigen Lauf zu überlassen, werden jetzt Krisen herauspointiert, werden Konflikte zusammengefasst und zugespitzt, wird Verstehen als Nicht-Verstehen verstanden.
Soft-Skills dagegen behandeln so etwas wie strategisches Wissen um kommunikative Prozesse. Dazu gehört Metakommunikation. In dem strategischen Wissen ist aber zugleich mit angelegt, wie man gut in die Zukunft kommt, und es scheint zum selbstgefälligen Ton mancher Soft-skill-Trainer zu gehören, mit ihrem Training zunächst auch glänzende Karrieren zu versprechen.
Jedenfalls nutzen Soft-Skills operative Strukturen, also Methoden, um mit eigener und fremder Komplexität umzugehen. Die Strategien hängen sich wie Parasiten an dem unreflektierten Prozess des miteinander Plapperns und ordnen ihn, ohne dies mitteilen zu müssen. Soft-skills sind also Mitteilungen, die sich nicht mitteilen wollen. Ich entscheide etwas, weil ich als entscheidungsfähig gelten möchte, aber ich teile nur meine Entscheidungen mit, darüber indirekt meine Entscheidungsfähigkeit, aber nicht mehr meinen Geltungsbedarf als entscheidungsfreudiger Mensch.
Führen wir dies zurück auf das Thema Komplexität, dann sind sowohl Metakommunikation als auch Soft-skills Methoden, um kommunikative Prozesse komplex zu halten. Dabei scheinen aber beide nicht direkt auf eigene oder fremde Komplexität zu zielen, sondern auf das Risiko, Adressierbarkeiten zu eindeutig zu halten. Salopper formuliert: ich bin aus mehreren Persönlichkeitsakkumulationen zusammengesetzt - Deleuze könnte hier sagen: Wolf, Frau, Goethe -, und damit du nicht nur eine dieser Akkumulationen ansprichst, spreche ich mit dir strategisch.
Gewalt könnte nun - so stellt es sich für mich zur Zeit da - durch einen Verlust an strategischem Sprechen einhergehen. Eine Person hat keinen Variationsbereich mehr, sie ist nur noch genau dieses, ein Macho, eine Schlampe, eine faule Person. Die Form der Person variiert nicht, sie evoluiert nicht. Die Stagnation der Form Person, dies ist meine nächste These, trennt in der Kommunikation selbst, im Verstehen selbst zu starr zwischen Sicherheiten/Unsicherheiten.

Soziale Entdifferenzierung und mediale Redifferenzierung
Man kann ja nur vermuten, was bei Tim K. passiert ist.
Gewalt auf dieser Ebene hat immer das Problem, dass sie in der Beobachtung von einem Unterangebot an Differenzen (bis hin zur völligen Unwahrnehmbarkeit) zu einem plötzlichen Überangebot umschlägt. Die soziale Entdifferenzierung schlägt in eine temporal schwierig zu handhabende Redifferenzierung um.
Beobachtbar ist auch, dass die Redifferenzierung sowohl eine Medienflut auslöst (Fernsehen, Zeitung, Blogs, Artikel, Interviews, Gesprächsrunden, etc.), als auch eine Flut an Artefakten: Indizien, mit Deleuze gesagt, die das seelische Territorium des Amokläufers abstecken sollen.

Massenmedien
Dabei sollte man auch die Form der Massenmedien beachten. Massenmedien produzieren Sensationen/Skandale. Der Sensation des Amoklaufs folgt der Skandal der sozialen Isolation trotz eines gutbürgerlichen Elternhauses.
Das Hin- und Herswitchen von Tim K. zwischen Sensationsperson (=Täter) und Skandalperson (=Opfer) schafft gerade nicht die Kommunikation als eine strategisch unterfütterte, sondern prozessiert selbst Kompaktzumutungen recht simpler Bauart.
Dass Tim K. sich die Möglichkeiten an einer Teilnahme genommen hat, ändert nichts oder nur wenig an dieser Vorgehensweise der Massenmedien. Auch noch lebenden Personen - siehe Josef F., besser bekannt als "Inzestfall von Amstetten" - zeigen, dass Massenmedien (ob zurecht oder zu unrecht ist eine ganz andere Frage) so funktionieren.

Fabelwesen
Beim Inzestfall von Amstetten passiert nun folgendes: erstens wird Josef F. stark von der Öffentlichkeit abgeschirmt, zweitens lebt seine Tochter mit den Kindern an einem unbekannten Ort. Nicht-Adressierbarkeit. Die Tochter hat unter anderem Spiegel online auf Verletzung der Persönlichkeitsrechte verklagt. Und Spiegel online konstatiert:

Die Frau und die aus dem Inzest stammenden Kinder haben eine neue Identität erhalten und wohnen an unbekanntem Ort, Fotos von ihnen gibt es nicht. Sie sind gleichsam Fabelwesen. Trotzdem fühlen sie sich verletzt, wenn die Presse über die Taten des Angeklagten berichtet.
Diese Anonymität schafft einen ähnlichen Fall wie der Tod von Tim K. Die Tochter kann nicht mitreden, wird aber ständig thematisiert (und dass Spiegel sie nicht kennt, bedingt ja nicht umgekehrt, dass die Tochter den Spiegel auch nicht kennt). Dass sie von Spiegel online als Fabelwesen bezeichnet wird, drückt dies deutlich aus: man weiß eigentlich nicht, über wen man spricht, aber man spricht über ihn.
Definition des Fabelwesens: das, was nicht direkt adressiert werden kann, was nicht zurückadressiert (das Fabelwesen spricht über Anwälte mit Spiegel online).
Dirk Baecker schreibt:
Letztlich waren es die in England initiierten, dann in den USA aufgenommenen cultural studies der 70er und 80er Jahre, die den Schlussstrich unter diese vornehme Verweigerung des Zusammenhangs von Kapitalismus und Kultur zogen. Längst waren die Ethnologen und Anthropologen nicht mehr nur in fernen Ländern und auf anderen Kontinenten unterwegs, sondern wurden auf der Suche nach eigentümlichen Formen des Stammesverhaltens in amerikanischen Vorstädten, in der Londoner City, bei Kirchenkonzilen, in Vorstandsetagen, in Gerichtssälen, in Produktionsbetrieben und in Behörden fündig. Und längst war deutlich geworden, dass die Suche nach den authentischen Kulturen der menschlichen Frühgeschichte, nach den edlen Wilden der rousseauschen Imagination, nichts anderes bebilderte als die eigenen Fantasien und nichts anderes dokumentierte als das eigene kulturelle Unbehagen.
Baecker, Dirk: Im Theater II, in: ders.: Nie wieder Vernunft, Heidelberg 2008
Auffälligkeit
Auffälligkeit, so definiere ich zum Schluss, ist die massenmediale Form der Person, also die Inszenierbarkeit als Sensation oder Skandal.
Vielleicht greife ich zu weit, wenn ich hier Dirk Baecker's Zitat oben umschreibe und sage, dass Massenmedien Bilder entstehen lassen (durch Emergenz), die dazu taugen, Adressierbarkeiten umzuwandeln. Statt mit Brad Pitt selbst zu sprechen, verschafft ihm die mediale Aufmerksamkeit eine indirekte Adressierbarkeit, indem man sich an Klatschspalten wendet (die sich an den Leser wenden), und hier als parasitärer Mechanismus die parasitären Strategien der Interaktion ersetzen.
Vielleicht ist es ja anstrengend, mit Brad Pitt zusammenzuleben, aber es ist jedenfalls angenehm, über ihn zu lesen.


12.02.2009

Semantisches Gedächtnis

Ich hatte schon längere Zeit vor, über das semantische Gedächtnis zu schreiben. Seit langer Zeit bin ich überzeugt, dass das semantische Gedächtnis nicht nur für Lern-/Lehrstrategien wichtig ist, sondern eine hervorragende Hilfe für Schriftsteller sein kann.

Zuerst hatte ich mich mit diesem Gedächtnistypus ein, zwei Jahre vor meinem ersten Staatsexamen beschäftigt. Während meines Staatsexamens und hinterher ist dieses Modell mir immer wichtiger geworden und hat eine Zeit lang die Themen, die ich bearbeitet habe, sehr befruchtet. Bei meiner Beschäftigung mit dem erzählenden Schreiben mäandere ich ebenfalls ständig um dieses Modell herum. Da ich immer noch offene Stellen und Problemfelder gefunden habe, die ich zuerst bearbeiten wollte, habe ich mich vor einer Darstellung gedrückt.

Jetzt finde ich in Woolfolks Pädagogische Psychologie (im Folgenden mit PP abgekürzt) eine glänzende Zusammenfassung. Statt hier also gleich alle Aspekte, die mich interessieren, mit aufzuschreiben, hier erstmal eine Übersicht über das semantische Gedächtnis.


Grundlegendes zum Gedächtnis

Behaviorismus und Konstruktivismus

Vielleicht muss man eine Tatsache heute nicht mehr betonen, aber um Klarheit zu schaffen, sei sie hier noch einmal erwähnt: Informationsverarbeitung im Gedächtnis ist ein konstruktiver Prozess.

Die Behavioristen bestanden ja darauf, nicht in den Kopf von Lebewesen hineinblicken zu wollen. Sie sammelten ausschließlich Daten, die positiv waren, in dem Sinne, dass sie nicht spekulativ oder introspektiv sein sollten. Zunächst muss man hier hervorheben, dass diese Art der Psychologie zumindest einen guten Effekt hatte: vieles an der alten Psychologie war ideologisch geprägt. Was nicht in die guten Ideen von einem bestimmten Menschenbild hineinpasste, wurde rasch als abweichend gebrandmarkt. Der Behaviorismus hat hier frischen Wind in verstaubte Gebäude gebracht.

Dabei hat der Behaviorismus aber selbst eine Ideologie eingeführt und diese weitestgehend unberührt gelassen. Ich meine hier nicht, dass Verhalten durch Verstärkung gelernt wird, sondern dass ein Reiz eine Reaktion verursacht. Das Reiz-Reaktion-Schema geht davon aus, dass zum Beispiel eine Ratte lernt, einen bestimmten Futternapf zu meiden, wenn beim Fressen aus diesem Napf gleichzeitig ein Stromschlag gegeben wird.
Erstens sind diese Laboratoriumsbedingungen aber Sonderfälle der Reizverarbeitung. Unsere Umwelt bietet meist keine wiederholten Reiz-Verstärkung-Abfolgen an und trotzdem ist es ganz sinnvoll, dass wir auf sie achten, weil wir dadurch gewisse Erfolge haben.
Zweitens wird der Form des Reizes vom Beobachter auf ein anderes Lebewesen, sei es Ratte, sei es Kind, übertragen. Es ist aber nicht gesichert, ob der andere denselben Reiz wie der Behaviorist wahrnimmt.
Drittens gehen viele Behavioristen wie selbstverständlich davon aus, dass ein Reiz zu einer Reaktion führt. Ob es sich aber nur um eine Reaktion handelt und nicht um mehrere, ist rein spekulativ. Der Behaviorist macht sich letztendlich doch einer Ideologie und einer ideologischen Spekulation schuldig, und wenn er auch nicht in die Köpfe anderer Menschen hineinschaut, so projiziert er doch eigene Reizwahrnehmungen in den anderen hinein.

Behavioristen behaupten nun, dass Verhalten durch Verstärkung gelernt wird. Wenn ich immer wieder Kekse auf dem Küchenschrank finde, dann werde ich auch immer wieder einen Stuhl dorthin schieben und mit der Hand nach den Keksen angeln. Wissen scheint dabei keine Rolle zu spielen.

Diese Ansicht ist natürlich seltsam. Die konstruktive Sicht dieser kleinen Szene ist, dass ich über mein Wissen von der Umwelt mein Verhalten steuere und ändere. Weil ich etwas Neues weiß, entwickle ich neue Verhaltensweisen. Hat diese Verhaltensweise Erfolg, nehme ich das als Rückmeldung (feedback), die zu meinem bisherigen Wissen dazu kommt und mein Verhalten in Folge verstärkt. Weil ich also weiß, dass jedesmal Kekse auf dem Schrank liegen, und weil ich weiß, dass immer ein Stuhl daneben steht, auf den ich hinaufklettern kann, deshalb hole ich mir immer wieder die Kekse.
Der Lerner wird nicht passiv durch Umgebungsereignisse beeinflusst, er wählt aus, übt, passt auf, ignoriert, reflektiert und trifft viele Entscheidungen bei der Verfolgung seiner Ziele. Ältere kognitive Ansätze betonen den Wissenserwerb, aber neue Ansätze betonen die Wissenskonstruktion.
PP, S. 308

Allgemeines und spezifisches Wissen

Gregory Bateson kritisierte die Behavioristen dahingehend, dass ein Stromschlag zwar eine Ratte daran hindert, ihre Nase ein zweites Mal in den falschen Tunnel zu stecken, aber damit nichts an dem Suchverhalten und der "Neugier" der Ratte ändert. Was Bateson hier unterscheidet, ist der Unterschied zwischen der Erfahrung und einer Disposition (der "Neugier"), die zu Erfahrungen führt.

Bateson kann auf dieser Grundlage dann folgendermaßen argumentieren. Die Behavioristen behaupten, dass die Ratte ihre Nase nicht zweimal in einen Tunnel steckt, weil sie einen Stromschlag bekommen hat. Bateson dagegen behauptet, dass die Ratte ihre Nase in den Tunnel steckt, um zu erfahren, ob sich eine Wiederholung lohnt. Die Behavioristen argumentierten also ursachenfixiert und kausal. Bateson dagegen erklärt das Verhalten aus einem offenen Ziel und dessen anschließender Bewertung. Er setzt den onto- und phylogenetischen Bedingtheiten der Ratte den situativen Handlungsentwurf entgegen (vgl. beim Menschen dazu Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 241-252).

Die Kognitivisten unterscheiden heute das allgemeine und das spezifische Wissen (PP, S. 309). Allgemeines Wissen ist ähnlich den Dispositionen bei Bateson an "Denkbarkeiten" gebunden. Allgemeines Wissen lässt sich in zahlreichen Situationen anwenden. Dazu gehören Prozesse des Problemlösens wie die Analogiebildung, die Zusammenfassung, die Suchraumerweiterung, und so fort. Durch die Disposition werden mögliche Ergebnisse vorweg genommen und dadurch können Ziele gesetzt werden. Dispositionen und allgemeines Wissen führen also zu um-zu-Argumentationen.

Dagegen ist spezifisches Wissen immer nur auf wenige oder einzelne Situationen anwendbar. Hier gehören Päckchen-Rechnen, Fussballregeln, chemische Formeln, historische Daten hin. Aus solchem faktenhaften Wissen schließen wir auf weiteres Wissen, bzw. leiten wir unser Verhalten ab.

Ganz so eindeutig ist es dann allerdings nicht. Faktisches Wissen ist auch bei allgemeinen Situationen immer notwendig. Man kann nicht im luftleeren Raum Probleme lösen oder Analogien bilden. Und wer Fußball spielt, wird ständig mit kleineren oder größeren Problemen konfrontiert, die er lösen sollte, obwohl er dabei auch noch die Regeln des Spiels beachten muss. Wir haben es also mit beständigen Mischverhältnissen zu tun.

Semantisches Gedächtnis

Aufbau des Langzeitgedächtnisses

Das semantische Gedächtnis findet man zwar überall, als Teil des Arbeitsgedächtnisses, oder mit dem Arbeitsgedächtnis gleichgesetzt, aber Woolfolk spricht es dem Langzeitgedächtnis zu. Daran halte ich mich hier.

Das Langzeitgedächtnis enthält, wie der Name schon sagt, alle Erinnerungen, die über längere Zeit, zum Teil über viele Jahre hinweg, behalten werden. Es teilt sich in ein explizites und ein implizites Gedächtnis auf. Das explizite Gedächtnis enthält alle bewussten Inhalte, während das implizite Gedächtnis vor- oder unbewusste Inhalte speichert. Da das semantische Gedächtnis bei Woolfolk zum expliziten Gedächtnis gehört, konzentriere ich mich auf dieses.

Das explizite Gedächtnis ist wiederum aufgeteilt in zwei verschiedene Gedächtnisformen. Das eine Gedächtnis wird durch das episodische Gedächtnis gebildet, in dem sich biographische Erfahrungen finden, zum Beispiel der Weg zur Arbeit oder Szenen aus dem Griechenlandurlaub. Das andere Gedächtnis, das semantische Gedächtnis enthält Fakten und Allgemeinwissen. Ich mag diese Tatsache hier (noch nicht) groß kritisch betrachten. Über diese Aufteilung kann man vortrefflich streiten und soweit ich Einsicht in die aktuellen Diskussionen habe, wird auch kräftig gestritten. Zweifellos jedoch in einem gepflegten, wissenschaftlichen Ton.

Warum ich hier diesen Streit nicht nachzeichnen möchte, liegt nicht nur an meiner unsicheren Fachkenntnis. Gedächtnisforschung ist ein weites Feld und, wenn man die neuesten Differenzierungen dieses Feldes kennen möchte, ein Vollzeitberuf. Das kann ich von mir nicht behaupten. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum die aktuelle Diskussion hier nicht so wichtig ist. Aus der Beschäftigung mit dem semantischen Gedächtnis treten etwa vier typische Muster hervor, wie semantisches Wissen abgespeichert wird. Diese unterscheiden sich wieder bei allen sonstigen Unterschieden in der Forschung nicht oder nur sehr wenig. Und auf diese Typen kommt es mir an. Man kann nämlich alle diese Muster sowohl für das erzählende Schreiben, als auch für den Unterricht, für das Problemlösen, für das analysierende Lesen und einiges mehr fruchtbar machen.

Salopp gesagt geht es mir dann auch nicht um das semantische Gedächtnis als Forschungsgegenstand der Neurophysiologen, sondern nur um einige, wenige Modelle oder Muster des Abspeicherns und deren Transfer in andere Sachgebiete.

Typen des semantischen Gedächtnisses

In meiner ersten Staatsexamensarbeit habe ich vor allem mit dem Buch Kognitive Psychologie von John Anderson gearbeitet. Aus diesem habe ich die vier Typen des semantischen Gedächtnisses herausgearbeitet und sie leicht umgewandelt, entsprechend meines Forschungsinteresses. Diese vier Typen sind die propositionale Relation, die komplexive Vernetzung, die Vernetzung von Wörtern (oder Semen) und Skripte. Woolfolk hat eine ähnliche Einteilung: Propositionen (propositionale Relationen), Images (komplexive Vernetzungen) und Schemata, wobei es eher strukturale Schemata (Vernetzung von Wörtern) und eher episodische Schemata (Skripte) gibt.

Wir haben jetzt einige hübsche Bezeichnungen. Welche Begriffe stecken hinter diesen Bezeichnungen?

Propositionen

Propositionen oder propositionale Relationen dürften den Lesern meines Blogs schon bekannt sein. Ich habe sie in meinem Artikel zum sinnentnehmenden Lesen bereits erläutert. Ich werde hier aber noch einmal ausführlich auf sie eingehen.
Woolfolk schreibt:
Eine Proposition ist die kleinste Wissenseinheit, die als wahr oder falsch beurteilt werden kann.
(PP, S. 321)
Gleich vorneweg gesagt: ob eine Proposition wahr oder falsch ist, muss uns hier nicht interessieren. Dieser Begriff der Proposition gehört ins Feld der analytischen Philosophie, aus der er übernommen wurde. Tatsächlich aber ist es hier nur die psychische Form, bzw. das semantische Muster, das uns etwas angeht. Bevor ich dazu aber mehr sage, schauen wir uns erstmal dieses Muster an.

Propositionen sind satzähnliche Konstellationen. Satzähnlich bedeutet, dass man rasch erkennen kann, welcher Satz zu welcher Proposition gehört.

Sagt jemand:
Peter sitzt in der Wanne.
dann ist die zugehörige Proposition folgende:
sitzen (Peter, in der Wanne).
Das Prädikat des Satzes wandert nach vorne und wird in die Infinitivform konjugiert. Alle anderen Satzbestandteile wandern hinter das Infinitiv in eine Klammer und werden durch Kommata getrennt. Ein Satz wie
Das Kind weint.
kann also nur einen Bestandteil in der Klammer aufweisen:
weinen (das Kind).
Andere Sätze müssen in mehrere Propositionen aufgeteilt werden, weil sie mehrere Prädikate enthalten:
Als Brian auf der School Street den Castle Hill hinabfuhr, erschien die Sonne zum ersten Mal an diesem Tag zwischen den zerfetzten Wolken.
King, Stephen: Needful things
(1) hinabfahren (Brian, auf der School Street, den Castle Hill)
(2) erscheinen (Sonne, zum ersten Mal an diesem Tag, zwischen den zerfetzten Wolken)
Es gibt noch sehr viel komplexere Sätze, auch in Unterhaltungsromanen. Besonders ergiebig sind natürlich Romane von Autoren, die sowieso für ihre Satzlänge bekannt sind, etwa die Romane von Thomas Mann. Diese müssen dann, je nach ihren Prädikaten, auch in zahlreiche Propositionen aufgeteilt werden.

Zunächst aber können wir festhalten, dass der Kern einer Proposition ein Infinitiv ist, und dass dieses Infinitiv andere Satzteile zueinander in eine Konstellation setzt. Genau das macht der Satz auch, nur dass hier noch die zeitliche Markierung durch die Konjugation des Verbs dazukommt. Der erste Bestandteil in der Klammer bezeichnet das Subjekt des Satzes. Dieses ist das einzige immer notwendige weitere Bestandteil einer Proposition.

Die Wahrheit der Proposition

Ob Propositionen wahr oder falsch sind, so hatte ich oben geschrieben, braucht uns hier nicht zu interessieren. Dafür gibt es vielerlei Gründe. Einer der Gründe ist, dass manche Sätze nicht nach wahr oder falsch beurteilt werden können.

Wenn ich zu meiner Nachbarin sage "Ich wünsche dir einen schönen Tag!", dann kann man mir allerhöchstens vorwerfen, ich sei unaufrichtig (in Wirklichkeit wünsche ich ihr einen schlechten Tag), aber man kann nicht entscheiden, dass der Satz wahr oder falsch ist. Oder wenn der Priester sagt "Ich erkläre euch zu Mann und Frau!", dann kann man nur sagen, dass der Priester die Befugnis dazu hat oder nicht (es ist in Wirklichkeit ein als Priester verkleideter Ganove). Sätze, die sich nicht auf faktisches Wissen stützen, können weder als falsch noch als richtig beurteilt werden. Trotzdem sind es Sätze und als solche können sie auch in propositionaler Form ausgeschrieben werden.

Ein anderer Grund liegt natürlich darin, dass wir zahlreiche Sätze äußern, die sich auf Wahrscheinlichkeiten, Ungenauigkeiten oder Alltagssprachlichkeiten stützen. "Alle Politiker betrügen ihre Gemeinschaft!" ist ein Satz, der eindeutig falsch ist, wenn man mit "alle" wirklich "alle" meint, sogar den Bürgermeister eines kleinen, indischen Dorfes, der einem vollkommen unbekannt ist (und damit auch dessen Wesensart). Alltagssprachlich gesehen aber macht der Satz Sinn, auch wenn er logisch gesehen nicht nur nicht wahr ist, sondern aufgrund einer unsicheren Beweislage nicht entschieden werden kann.

Ein dritter Grund ist, dass sich Psychologen nicht für die Wahrheiten in der Welt, sondern für die Sicht eines Individuums auf die Welt interessieren. Ob diese Sicht wahr oder falsch ist, ist unerheblich. Auch Irrtümer machen einen Menschen aus, und man darf annehmen, dass solche Irrtümer recht häufig sind (in Ehen zum Beispiel) und trotzdem nur selten Schaden anrichten. Sie fallen nicht ins Gewicht und werden deshalb kaum wahrgenommen. Irrtümer sind deshalb wahr, weil sie für wahr gehalten werden.

Sinn der Proposition I - Gedichte

Propositionen seien, so hatte ich oben erklärt, ein Muster, wie das semantische Gedächtnis Informationen speichert. Tatsächlich aber ist das nicht erwiesen. Man muss eher davon ausgehen, dass bestimmte Informationen in propositionaler Form oder in einer dieser nahekommenden Weise gespeichert werden. Die Proposition ist ein Modell, mit der sich Hirnforscher Gedächtnisleistungen erklären.
Was aber ist dann der Sinn von Propositionen?
Sie stellen kleine Informationsbündel in einer formellen, aber hinreichend flexiblen Form dar. Außerdem eignen sie sich zum Analysieren, und in dem Maße, wie man mit den Propositionen analysieren lernt, üben sie das Lesen und die intelligible Betrachtung ein. Auf diesen Aspekt werden wir noch mehrmals zurückkommen.

Um das zu verdeutlichen, sei ein Beispiel genannt.
August
metallisch klingt der Morgen auf
ein Sehnen faszt die Welt
da stürzen Lüfte sich zuhauf
von Silberseen umwellt
ein Frühkusz stürzt nachsommersüsz
wie eine Sonn' herab
ein reifer Blütenleib den blies
der Wind ins Grab
Mayröcker, Friederike: Gesammelte Gedichte, S. 7
Lösen wir das in Propositionen auf. Um die Form deutlicher zu machen, füge ich die Frage nach dem Satzteil mit ein.
(1) aufklingen (wer/was? Morgen, wie? metallisch)
(2) fassen (wer/was? Sehnen, wen/was? Welt)
(3) stürzen (wer/was? Lüfte, wie? zuhauf, wen/was? sich)
(4) umwellen (wer/was? Silberseen, wen/was? Lüfte)
(5) stürzen (wer/was? Frühkusz, wie? nachsommersüsz wie eine Sonn', wohin? herab)
(6) blasen (wer/was? Wind, wen/was? reifen Blütenleib, wohin? ins Grab)
Wir haben hier sechs Propositionen. Das Prädikat wird mehrmals durch ein Adverb (wie?) ergänzt (metallisch, zuhauf, nachsommersüsz). Nur das erste Prädikat bezeichnet ein auditives Phänomen, muss aber - in Verbindung mit Morgen - als verbale Metapher gelesen werden. Die anderen Prädikate sind aus dem haptisch-kinetischen Bereich. Zweimal ist das Prädikat stürzen. Diese umschließen umwellen, das eine wesentlich geschmeidigere Bewegung ausdrückt, und wird von fassen und blasen umschlossen, die eine momentan einwirkende Kraft ausdrücken, die aber weniger stark als stürzen erscheint.

Die erste Proposition bezeichnet sehr direkt durch Morgen und aufklingen die Tageszeit und eine ansteigende Bewegung; ansonsten gibt es absteigende, bzw. stürzende und horizontale Bewegungen. Fassen verhält sich hier neutral. Besonders stark wird ein Gegengewicht zum Morgen durch den Vergleich wie eine Sonn' herab gesetzt. Metaphorisch stehen sich Morgen (=Geburt) und Grab gegenüber. Eine etwas schwächere Opposition bilden Frühkusz (mit der Konnotation des Beginnens) und nachsommersüsz (in dem das Schwächer-werden des Sommers mitschwingt), die sich mit den Entgegensetzungen von Morgen/wie eine Sonn' herab, Morgen/Grab in eine vage Reihe stellen lassen.

Von den rhythmischen Mitteln sind die ersten vier Verse, der fünfte und der siebte tänzerischer, während der sechste und achte schlicht, der letzte sogar schroff klingen. Zudem wird der letzte Satz durch eine Abwesenheit poetischer Mittel (unklar bleibt Grab, ob es als Metapher oder als Denotation zu lesen ist) markiert, während der fünfte Satz eine so kühne Metapher (Frühkusz) enthält, dass man sie nicht recht aufzulösen vermag.

Zu was dienen uns hier die Propositionen?
Zuallererst verdeutlichen sie eine bestimmte Bewegung des Gedichtes. Diese Bewegungen habe ich hier kontrastiert durch andere Bewegungen im Gedicht, die Häufung und Kühnheit der poetischen Mittel, die Vermischung von zweigliedrigen und dreigliedrigen Silbenfolgen (hier nur als tänzerisch bezeichnet) und den zweigliedrigen Rhythmus zum Schluss. Auf mehreren Ebenen gibt es also eine "aufsteigende", dann "herabfallende" Bewegung, eine Bewegung auf Erde und Grab zu. Die Proposition liefert hier eine Strukturierungshilfe, an der man sich bei der Interpretation entlanghangeln kann.

Interessanter allerdings sind hier die längeren und teilweise hermetisch verschlossenen Gedichte von Mayröcker. Da diese zu interpretieren selbst bei einem einzelnen Gedicht eine zu umfangreiche Aufgabe ist, habe ich dieses übersichtliche und noch gut zugängliche Gedicht gewählt.

Sinn der Proposition II - Begriffe

Deutlicher wird der Zweck der Proposition bei Begriffen. Begriffe bestehen aus einem Bündel von Sätzen, in denen das zu begreifende Wort auftaucht. Nehmen wir hier willkürlich einen einzigen Begriff, das Suspense, wie es im wikipedia-Artikel zu Hitchcock definiert wird. Dort steht:
Die klassische, auf das Überraschungsmoment aufbauende Form des Kriminalfilms ist der Whodunit. Bis auf nur wenige Ausnahmen bediente sich Hitchcock jedoch einer anderen Form des Spannungsaufbaus, dem sogenannten Suspense: Dem Zuschauer sind ab einem gewissen Zeitpunkt Informationen oder Umstände bekannt, von denen die handelnden Personen nichts wissen. Er fiebert in besonderer Weise mit den Helden, er sieht Ereignisse kommen, möchte den Figuren helfen, kann es aber nicht. In einigen Filmen wird das klassische Suspense dahingehend variiert, dass handelnde Personen die Rolle des Zuschauers übernehmen.
Die Propositionen sind folgende:
(1) kennen (wer/was? Zuschauer, wen/was? Informationen & Umstände, wann? ab einem gewissen Zeitpunkt)
(2) wissen (wer/was? handelnde Personen, wen/was? Informationen & Umstände, in welcher Weise? nichts)
(3) fiebern (wer/was? Zuschauer, mit wem? dem Helden [handelnde Person], wie? in besonderer Weise)
(4) kommen sehen (wer/was? Zuschauer, wen/was? Ereignisse)
(5) helfen möchten (wer/was? Zuschauer, wen/was? handelnde Personen)
(6) helfen können (wer/was? Zuschauer, wen/was? handelnde Personen, in welcher Weise? nicht)
Zunächst einige Anmerkungen. Ich habe die beiden Negationen durch einen Trick in die Klammer geschoben. Syntaktisch ist das nicht richtig. Bevor wir aber die Proposition noch weiter verwirren - sie ist für Negationen nicht geschaffen -, erlaube ich mir diesen Kunstgriff.
Fünfmal ist die handelnde Person, das Subjekt der Proposition, nicht der Filmheld, sondern der Zuschauer. Zwar handelt auch der Filmheld, und die mehrmalige Nennung als handelnde Person unterstreicht dies, doch durch den Suspense wird er in eine passive Rolle hineingedrängt. Der eigentliche Trick des Suspense wird in den Propositionen (1) und (2) dargestellt: der Film liefert durch einen Einschub (so die Szene im FBI-Büro im Film Der unsichtbare Dritte) oder durch eine besondere Kameraeinstellung (so der Blick von unten auf die Badende in Der weiße Hai) einen Wissensvorsprung für den Zuschauer, der diesen in eine Erwartungshaltung (Proposition (4)) und eine Handlungsaufforderung (Proposition (5)) bringt. Allerdings kann der Zuschauer nicht eingreifen (Proposition (6)).
Beachtenswert ist, dass die Propositionen (1) und (2) die Diskrepanz eines Wissens darstellen, die Propositionen (3) und (4) die Diskrepanz zwischen (aktueller) Identität des Helden und (zukünftigem) Ereignis und die Propositionen (5) und (6) die Diskrepanz zwischen Wunsch und Möglichkeit auf Seiten des Zuschauers. Sehr deutlich führt die erste Diskrepanz zu einer Spaltung des Zuschauers in den beiden anderen Diskrepanzen: die zweite Diskrepanz ((3) und (4)) ist apokalyptisch, in der Art einer Erregung, während die dritte altruistisch ist. Über das Medium des Films mit seiner unüberschreitbaren Grenze kann die Geschichte also den Suspense nutzen, um in den Zuschauer eine doppelte Gespaltenheit zu induzieren.
Kurz gefasst also ist Suspense folgendes:
(1) unüberschreitbare Grenze des Films (Quelle der Diskrepanz)
(2) Wissensvorsprung des Zuschauers gegenüber dem Helden (informationelle Diskrepanz)
(3) Spaltung von Identifikation und kommendem Ereignis (apokalyptische Diskrepanz)
(4) Spaltung von Willen und Gelegenheit zur Hilfe (altruistische Diskrepanz)
Besonders deutlich wird das Konzept, wenn man den zweiten Satz umdreht. Nun hat der Held gegenüber dem Zuschauer oder Leser einen Wissensvorsprung. Hier wandelt sich der Suspense in einen Überraschungseffekt. Dies ist ein Mittel, das Eoin Colfer in seinen Artemis Fowl-Büchern einsetzt. Der Plan, den sich Artemis ausdenkt, um die Welt zu retten, wird dem Leser verschwiegen. Der Leser weiß nur, dass es einen Plan gibt. Und er beobachtet dann, wie Artemis diesen Plan ausführt, ohne genau zu wissen, wie dieser funktionieren soll. Hier liegt das Problem eindeutig auf der kognitiven Ebene (wie komme ich, bzw. wie kommt Artemis von Situation A nach Situation B, vom unerwünschten zum erwünschten Zustand): die Spannung entsteht durch ein Ziel und wie dieses Ziel erreicht wird, während beim Suspense die Spannung sich durch die Frage gestaltet, wie der Held der Katastrophe ausweichen kann.

Sinn der Proposition III - Propositionale Netze

Je mehr Propositionen man zu einem Sachverhalt sammelt, umso verzweigter und vielfältiger werden die Verbindungen zwischen den Propositionen. Schon beim Begriff des Suspense konnten wir sehen, dass dieser sich an seinen Rändern zerfasert und zu anderen Begriffen übergeht, wie dem der Identifikation oder dem der Grenze des Films (allgemeiner: der medialen Grenze). Solche propositionalen Netze erfassen statt einem Begriff mehrere Begriffe und setzen diese in einen enger oder weiter geregelten Bezug. Beispiele dafür sind Ökosysteme (bestehend aus mehreren Tierarten, die in Wechselwirkung zueinander stehen), politische oder historische Abfolgen von Ereignissen, Ereignisauslösern und Ereignisfolgen, institutionelle Regelungen wie die Zollabfertigung, Produktionsvorgänge wie die Stahlgewinnung, und so weiter und so fort.

Manche propositionale Netze sind sehr eng gefasst und festgelegt, etwa wenn es sich um Stahlgewinnung oder Halbleiterbau dreht, andere dagegen sind weitläufig und durch viele alternative Wege gekennzeichnet, etwa das Schreiben von Romanen oder das Coaching von Mitarbeitern.
Propositionale Netze sind, folgt man den Psychologen (PP, S. 321), Abbilder des Langzeitgedächtnisses. Verfertigt man sie selbst und auf einem Blatt Papier, merkt man schnell, dass sie einen recht mühsamen Zeitvertreib darstellen. Neuerdings kann man allerdings auf Software zurückgreifen, die solche Netzwerke in Form von Zettelkästen oder auch sogenannten Cloud Tags nachahmen.

Sehen wir von diesen elektronischen Hilfen ab, dann kann man Skizzen solcher Netze nutzen, um sich die Beziehungen eines Sachverhaltes zu verdeutlichen, um sich bestimmte Aspekte oder Schwerpunkte eines Textes zu visualisieren oder um komplexe Ideen rasch zu skizzieren, ohne Sätze ausformulieren zu müssen. Es gibt im übrigen eine Methode, die all dies schon hervorragend zusammenfasst: das Cluster (s. Nico, Gabriele: Garantiert schreiben lernen).

Da wir noch öfter auf diese propositionalen Netze stoßen werden, gehe ich zum zweiten Typ im semantischen Gedächtnis über.

Images

Images, Vorstellungsbilder, Komplexe: verschiedene Wörter für ein- und denselben Sachverhalt. Ich hatte diesen komplexive Vernetzung genannt.

Als Komplex versteht Piaget ein ausgewähltes Abbild der Wirklichkeit. Dieses abstrahiert von zahlreichen Tatsachen und ergänzt unter Umständen andere Tatsachen, die eigentlich nicht da sind, aber nach Meinung des Beobachters hätten da sein sollen.
Ein typisches Beispiel zeigt ein Kind, das das Haus der Eltern malt und den Baum daneben, die Blumen im Garten und einige Vögel im Himmel. Der Wagen des Vaters, der üblicherweise vor dem Haus steht, fehlt; dafür aber gibt es noch einen Igel am Fuß des Baumes, weil das Kind gerne einen Igel im Garten haben möchte.

Manche dieser Images sind sehr einfach und sehr starr. Buchstaben und alle möglichen anderen grafischen Zeichen sind Beispiele dafür. Andere Images wieder sind lose, wolkig und ändern sich von Mal zu Mal. So haben wir keine feststehenden Bilder von einem Hund, sondern oft eine ganze Auswahl verschiedener Hundebilder zur Verfügung. Oder wir versuchen uns an Schloss Neuschwanstein zu erinnern und merken, wie dieses Bild in unseren Gedanken "herumfließt".

Jedenfalls kann man als Konstruktivist nicht annehmen, dass es sich bei Vorstellungsbildern um mehr oder weniger gelungene Kopien der Realität handelt. Eher sind es Konstruktionsskizzen oder Karten (vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, S. 11-42). Die surrealistischen Maler haben teilweise Bilder geschaffen, die auf der einen Seite sehr abstrahieren, dann wieder seltsame Details deutlich sichtbar machen und die Größenverhältnisse zwischen den Dingen nicht getreu, sondern psychologisch behandeln. Ähnlich kann man sich Images vorstellen. Sie bilden sich eher nach Relevanz, wobei Realismus oder "Naturtreue" eine mögliche Relevanz unter vielen sein kann.

Die Psychologen gehen zwar allgemein von der Existenz von Images aus, aber sie sind sich nicht sicher, in welchem Gedächtnis sie diese zu suchen haben:
Einige Psychologen vertreten die Meinung, dass Vorstellungsbilder fotografieartig abgelegt sind; andere wiederum erklären, dass alle Inhalte des Langzeitgedächtnisses in Propositionsform gespeichert sind und gegebenenfalls im Arbeitsgedächtnis in Vorstellungsbilder umgewandelt werden.
PP, S. 321
Interessant ist vor allem, dass Images mit den Propositionen in Bezug gesetzt werden. Tatsächlich kennen wir die Übersetzung eines Bildes (nicht eines Images) in Sätze von der Bildbeschreibung im Kunstunterricht. Ähnlich, vielleicht sogar in einem Hin und Her, könnten sich Images und Propositionen im Gedächtnis austauschen. Als ich oben das Beispiel eines Komplexes geschildert habe, habe ich nichts anderes gemacht, als Sätze auf dem Monitor und Propositionen in Gedanken zu nutzen.

Aus Romanen kennen wir Beschreibungen, lange wie kurze. Diese Beschreibungen schlagen dem Leser vor, sich ein Bild zu machen. In einem der Nachtstücke von Hoffmann geschieht dies ganz explizit, als der Erzähler zu seinen Freunden sagt: "Denkt euch ein ... Haus, dessen ...". Hier die ganze Stelle (Hervorhebung von mir):
Schon oft war ich die Allee durchwandelt, als mir eines Tages plötzlich ein Haus ins Auge fiel, das auf ganz wunderliche seltsame Weise von allen übrigen abstach. Denkt euch ein niedriges, vier Fenster breites, von zwei hohen schönen Gebäuden eingeklemmtes Haus, dessen Stock über dem Erdgeschoss nur wenig über die Fenster im Erdgeschoss des nachbarlichen Hauses hervorragt, dessen schlecht verwahrtes Dach, dessen zum Teil mit Papier verklebte Fenster, dessen farblose Mauern von gänzlicher Verwahrlosung des Eigentümers zeugen. Denkt euch, wie solch ein Haus zwischen mit geschmackvollem Luxus ausstaffierten Prachtgebäuden sich ausnehmen muss. Ich blieb stehen und bemerkte bei näherer Betrachtung, dass alle Fenster dicht verzogen waren, ja dass vor die Fenster des Erdgeschosses eine Mauer aufgeführt schien, dass die gewöhnliche Glocke an dem Torwege, der, an der Seite angebracht, zugleich zur Haustüre diente, fehlte, und dass an dem Torwege selbst nirgends ein Schloss, ein Drücker zu entdecken war. Ich wurde überzeugt, dass dieses Haus ganz unbewohnt sein müsse, da ich niemals, niemals, so oft und zu welcher Tageszeit ich auch vorübergehen mochte, auch nur die Spur eines menschlichen Wesens darin wahrnahm.
Hoffmann, E.T.A.: Das öde Haus
Zweifellos könnte man dieses Haus noch wesentlich umständlicher beschreiben. Hoffmann geht sehr ausgewählt, nach einer bestimmten stilistischen Vorgabe, vor, indem er mit seinen Details die Ödnis unterstreicht. Das ist kein altertümliches Verfahren. Lesen Sie das erste Kapitel aus Harry Potter und der Feuerkelch und Sie werden ein nämliches Muster für ein anderes ödes Haus finden. Schließlich ist das ganze erste Kapitel von Steinbecks Früchte des Zorns ein riesiges Landschaftsgemälde.

Images scheinen vor allem den Vorteil zu haben, dass sie rascher Informationen transportieren, auf die der sich Erinnernde aber nur dann zurückgreift, wenn dies die Situation erfordert. Wenn uns jemand von einem Rotkehlchen erzählt, kann ein diffuses Aufblitzen eines Bildes genügen, um sich das Rotkehlchen vorzustellen. Werden wir allerdings genauestens abgefragt, wie ein Rotkehlchen aussieht, können wir dieses diffuse Bild klären und Einzelheiten der Gestalt liefern. Wir zoomen sozusagen in Gedanken in ein solches Vorstellungsbild hinein

Zum anderen scheinen Images in hierarchischen Bündeln angelegt zu werden. Das heißt, eine Form, eine Gestalt oder ein Bild wird in mehrere Teile zergliedert, diese jeweiligen Teile wieder in mehrere Teile und so fort, bis wir die Grenze unseres Interesses erreicht haben (Anderson, John: Kognitive Psychologie, S. 119f.). Der eine mag sich für die unterschiedlichen Pinselstriche und Farbgebungen auf einem Van Gogh interessieren, der andere hat genug gesehen, wenn er die sprühenden Sterne und den wabernden Wacholder benennen kann.

Schließlich kann man, von dem Benzolring Kekulés angefangen (der angeblich träumte, eine Schlange beiße sich in den Schwanz, woraufhin er ein chemisches Problem lösen konnte, indem er die Ringstruktur in die Chemie einführte), die Transferleistungen zwischen Images und anderen Wissensstrukturen anführen. Bilder scheinen in besonderer Art unsere Wissensstrukturen aufzustören und uns zu kreativen oder zumindest ungewöhnlichen Lösungen zu verleiten.

Schemata

Bei den Schemata handelt es sich um propositionale Netze, die sich so weit stabilisiert haben, dass wir sie als Ganzes aufrufen und vollständig reproduzieren können. Da es sich um mehrere Begriffe handelt, die in einer Beziehung zueinander stehen, kann man solche feststehenden Netze auch Modelle nennen.
Eine besondere Form von Schemata sind die Linnéschen Klassifikationen. Wir kennen diese zum Beispiel aus der Zoologie. Hier gibt es immer einen Oberbegriff und in Bezug auf diesen Oberbegriff Unterbegriffe. So gehören zu den Raubtieren als Oberbegriff die Katzenartigen und die Hundeartigen. Die Hundeartigen wieder bilden den Oberbegriff für Hunde, Bären, Robben, Marder, etc., zu den Hunden gehören wiederum die Echten Hunde und die Echten Füchse, und die Echten Hunde enthalten unter anderem die Gruppe der Canis, zu denen der Wolf und der Schakal gehören.
Eine Linnésche Klassifikation ist also streng hierarchisch nach Ober- und Unterbegriffen geordnet.

Viele Schemata dagegen sind nicht so starr gegliedert.
Ökologische Nischen zum Beispiel haben typische Bewohner, bestimmte Grenzgänger, Durchzügler und saisonbedingt auftauchende Tiere. Solche Nischen bestehen aus Wechselwirkungen und Regelkreisen, die diesen immanent sind (wie bestimmte Räuber-Beute-Regelkreise) oder deren Grenzen überschreiten (zum Beispiel Tierwanderungen, Wetter und Jahreszeiten). Derlei Zusammenhänge können nicht hierarchisch geordnet werden. Trotzdem kann man Regelkreise oder bestimmte Eigenschaften, Bewohner oder Ereignisse bündeln und diesen eine Bezeichnung geben (Zitronensäurezyklus, Laichzyklus, Teufelskreis Eifersucht, Festungsfamilie, Kapitalakkumulation). Das Bündeln von Elementen zu größeren Einheiten nennt man in der Gedächtnisforschung chunking, die Bündel dementsprechend chunks.

Skripte

Woolfolk zählt die Skripte zu den Schemata. Tatsächlich ähneln sich diese in bestimmten Merkmalen ausgesprochen. Skripte bilden tatsächliche oder übliche oder idealtypische Abfolgen ab.

Skripte ordnen zum Beispiel unser alltägliches Handeln, zum Teil sehr unbewusst:
(1) Brötchen aufschneiden
(2) mit Butter bestreichen
(3) Marmelade mit einem Löffel daraufgeben
(4) Marmelade verstreichen
(5) Brötchen essen
Kochrezepte sind typische Skripte. Aber auch für viele andere mehr oder weniger tägliche Abfolgen wie dem Restaurantbesuch oder dem Treffen von Freunden in der Kneipe. Während der Restaurantbesuch in seiner groben Abfolge allerdings von vielen Menschen geteilt wird, können Freundeskreise ganz eigensinnige Skripts entwickeln, die von außen schwer nachzuvollziehen sind.
Besonders eindrucksvoll sind Beispiele von Begegnungen zweier Kulturen. Manche Kulturen schütteln gerne die Hände, wie zum Beispiel die Amerikaner (habe ich mir sagen lassen). Deutsche fühlen sich durch das Händeschütteln häufig überrumpelt und in eine intimere Position gedrängt, als sie es vom ersten Kontakt wünschen. Die Amerikaner werden wohl deshalb als distanzlos bezeichnet. In Wirklichkeit basiert all dies auf einer unterschiedlichen Reihenfolge der zwischenmenschlichen Gesten. Mit einer anderen Kultur Kontakt aufzunehmen, kann einem so vorkommen, als sollte man die Zubereitung eines Braten damit beginnen, dass man das Garsein der Kartoffeln prüft.

Auch bei Skripten bilden wir chunks (Bündel). Meist sind diese chunks aber hierarchisch geordnet. So gliedert sich der Restaurantbesuch in vier große chunks: betreten, bestellen, essen, verlassen. Das Betreten eines Restaurants wird wieder aufgeteilt in: den Frauen die Tür aufhalten, einen Platz suchen, die Mäntel an der Garderobe aufhängen, den Kellner an den Tisch bitten. Und selbst hier können die einzelnen Abschnitte noch in kleinere Anstandsregeln und Höflichkeiten aufgeteilt werden. Äußerst selten aber überlappen diese chunks oder bilden an ihren Rändern unsichere Elemente aus.

Eine besondere Form von Skripts bilden solche mit kausalen Chunks.
Weil die Ilse ständig so gräßlich lacht, muss der Peter sich andauernd besaufen. Das behauptet jedenfalls Gerd, der Freund von Peter. Anna, die Freundin von Ilse, sieht das ganz anders: Weil Peter sich ständig besäuft, muss Ilse immer (aus Scham) so hysterisch lachen.
Typische Beispiele missverständlicher, kausaler Einteilungen sind die kommunikativen Teufelskreise.

Eine andere besondere Form von Skripts sind die Geschichtengrammatiken oder auch Textschemata. Diese bilden idealtypische Geschichtenverläufe ab.
So gibt es ein typisches Märchenschema, in dem eine Prinzessin verzaubert wird, ein Prinz davon erfährt, dieser drei Aufgaben bestehen muss und damit die Prinzessin erlösen kann und heiraten darf.
Andere typische Geschichtenverläufe bestehen nur aus Episoden, also Abschnitten einer Geschichte. Einige Beispiele habe ich früher anhand von Abenteuergeschichten weiter oben im Blog untersucht.

Krimis haben als eine Möglichkeit folgenden groben Verlauf: Finden der Leiche, Untersuchen des Tatorts, Eingrenzen und Verfolgen der Spuren, Verhören der Bekanntschaft, Unschuldige ausschließen, den Täter zur Rede stellen, ein Geständnis bekommen.

Bei komplexeren Geschichten können einzelne Bestandteile mehrfach auftreten, wie etwa beim Krimi das Befragen von Bekannten des Opfers. Außerdem können einzelne Bestandteile ihre Reihenfolge tauschen, und, insofern Teile mehrfach auftreten, diese in loser Abfolge kombiniert werden. Zudem gibt es in vielen Skripten notwendige Bestandteile und weitere mögliche Bestandteile. "Wenn Sie einen noch raffinierteren Geschmack erreichen wollen, können Sie leicht angeröstete, geriebene Haselnüsse darunter mischen.", kann man in einem Rezept für eine süße Mehlspeise lesen.

Schemata und Propositionen

Auch Schemata lassen sich durch Propositionen ausdrücken. Die einzelnen Elemente eines Skripts bestehen meist aus solchen Propositionen wie
helfen (wer/was? Mann, wem/was? Frau, [wobei?] aus dem Mantel) [wobei ist eine schlechte Frage, linguistisch gesehen heißt das Prädikat aus dem Mantel helfen]
Ökosysteme oder Kapitalkreisläufe lassen sich ebenfalls durch Sätze oder satzförmig ausdrücken.
Im Prinzip haben wir es also mit einer Allgegenwart der Propositionen zu tun. Dies liegt aber nicht unbedingt daran, dass die Proposition an allen diesen Gedächtnismomenten beteiligt ist, sondern dass Bilder, Vorstellungen, Skizzen, etc. in Propositionen übersetzbar sind.
Sowohl Schemata als auch Skripte sind dann besondere Formen von propositionalen Netzen.

Zusammenfassung

Propositionen, Images, Schemata und Skripte sind bestimmte Muster, von denen die kognitive Psychologie glaubt, dass sie besonders häufig im semantischen Gedächtnis benutzt werden. Alle diese Muster strukturieren unser Wissen und ordnen unsere Sicht auf die Welt. Damit ordnen sie auch unser Handeln.
Bei komplexen Sachverhalten sollte man weiter strukturieren und sich dieses Wissen in kleine Bündel (chunks) einteilen.

Ich habe allerdings offen gelassen, wie gesichert diese Erkenntnis vom Gedächtnis ist. Stattdessen habe ich die psychischen Muster immer wieder mit konkreten Medien vermischt, mit Bildern, Gedichten, Ablaufplänen. Wir müssen hier nicht entscheiden, ob zuerst die Medien entstanden sind und sich die Gedächtnisleistungen des Menschen angepasst haben, oder ob die Medien diese Form angenommen haben, weil die Gedächtnisleistungen dies nahe gelegt haben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur, dass die Muster allgegenwärtig scheinen und deshalb zur Analyse und Konstruktion nützlich sind.
Wir werden dies in dem auf Praxis bezogenen Teil sehen.

Anwendungsgebiete

Fachübergreifender Unterricht

Wissen speichert sich in kognitiven Netzen ab und kognitive Netze helfen, Wissen zu erwerben. Je enger Bilder und Texte miteinander verwoben sind, umso sicherer werden die Informationen behalten (PP, S. 332).

Dabei spielt dann aber nicht nur die Verflechtung von Texten und Bildern eine Rolle, sondern der Zusammenhang von Skripts, Schemata, Bildern und Sätzen. Nach den Untersuchungen von Clark & Paivio (ebd.) kann man sagen, dass das Verständnis umso besser ist, je mehr verschiedene semantische Muster in dem Lernprozess genutzt werden.

Es gibt außerdem einen direkten Zusammenhang zwischen Fachkenntnis und Leseverständnis. Schwache Leser lesen trotzdem Texte gut, wenn sie genügend Fachkenntnisse haben. Und schwachen oder zögerlichen Schreibern fällt das Schreiben leichter, wenn das Fachwissen vertraut ist.

Für den Unterricht heißt das, möglichst ökonomisch die Fächer aufeinander zu beziehen. Statt von einzelnen Disziplinen auszugehen, werden diese ineinander verwoben.

Dabei muss man allerdings ein besonderes Augenmerk auf die Kulturtechniken legen, also Lesen, Schreiben und Rechnen. Hier handelt es sich um formale Sprachen, deren Leistung gerade ihre große Unabhängigkeit ist. Jüngeren Schülern fällt diese Trennung zwischen Kulturtechnik und Fachwissen schwer. Wenn sie über Eichhörnchen schreiben, steht die sachliche Orientierung im Vordergrund und eine Reflexion auf Rechtschreibung oder Grammatik findet wenig oder gar nicht statt.

Andererseits verstehen viele Grundschüler und zum Teil auch Vorschulkinder, dass ein Text etwas anderes ist als ein Eichhörnchen in seiner Lebenswelt und dass man an beides unterschiedlich herangehen muss. Die Trennung ist also klar, kann aber nicht bewusst und methodisch eingesetzt werden. Das bewusst zu machen ist Aufgabe des Unterrichts. Auch hier kann aber die bewusste Trennung erst dann deutlich gemacht werden, wenn man die Orientierung an der Sache und die Orientierung am Medium einander gegenüber stellt.

Die Vermittlung zwischen Sache und Medium wird durch Methoden gesichert. Seit einigen Jahren existieren deshalb Schulbücher, die ganz bewusst Methodenseiten einfügen, auch wenn diese Methoden weit über das spezifische Fach hinausweisen.

Fachwissen, Kulturtechniken, fächerübergreifender Unterricht und Vermittlung von Methodenkompetenz gehen also Hand in Hand.

Komplexe Zusammenhänge verstehen

Zahlreiche Phänomene, vor allem auch soziale, politische und wirtschaftliche Phänomene, sind durch so komplexe Bedingungen geregelt, dass sie nur langsam nachzuvollziehen sind.

Als ich oben das Gedicht von Mayröcker analysiert habe, habe ich den Fundus literaturwissenschaftlicher Begriffe genutzt, und nur ein wenig auf den fachfremden Leser zurechtgebogen. Vielleicht mag dem einen oder anderen Leser deshalb diese Passage unverständlich und seltsam erschienen sein.

Begriffe sind kleine Netze. Wenn man allerdings einen Begriff benutzt, dann häufig nur als Bezeichnung. Vom Leser oder Hörer erwartet man, dass er das dahinterliegende Netz selbstständig aktiviert. Vorausgesetzt, der Leser kennt dieses Netz schon. Deshalb sind Fachtexte recht unverständlich und deshalb kommt es zu Missverständnissen, wenn zwei Menschen miteinander sprechen, und zwar die gleichen Bezeichnungen gebrauchen aber unterschiedliche Netze im Kopf haben.
Beides erfordert Begriffsklärung.

Begriffsklärung ist aber nur eine Möglichkeit, Netze herauszuarbeiten.
Jede Methode, die ein bestimmtes Muster oder Medium in ein anderes Muster übersetzt, verdeutlicht Zusammenhänge. So habe ich das Gedicht (Medium) in eine Abfolge von Propositionen (Muster) übersetzt. Damit habe ich noch nicht das Muster des Gedichtes, aber ein mögliches Muster. Ja, gerade weil ein Muster abweicht, kann es verdeutlichen. (Deleuze und Guattari schreiben deshalb: Zeichnet Karten! Hört auf Kopien zu machen! Kopien sind etwas für kleine ödipale Hunde und brave Familienväter.)

Um etwas zu verstehen, stützen sich allerdings viele Lernende immer noch auf das Prinzip, möglichst dicht am Text zu bleiben oder möglichst wortgetreu wiederzugeben, was sich der Autor gedacht hat. Auch wenn es immer wieder Menschen gibt, denen dies gleichsam natürlich gelingt, spüren die meisten Menschen eine Art Ungenügen. Die Texte werden ihnen zu kompliziert, größere Zusammenhänge nicht verstanden (so sagen die Lernenden häufig von sich selbst).
Wir wissen jetzt, dass Wissen nicht durch Worttreue erworben wird, sondern durch Konstruktion. Statt auf das Ganze zu starren und auf den Haufen an Material, müssen wir lernen, irgendwo in diesem Material zu beginnen und uns Muster aufzubauen. Schauen Sie sich meinen Blog an. Ich verbreite doch keinen großen Überblick, sondern wusele irgendwo durch die Disziplinen (um das mal so salopp auszudrücken). Um Vollständigkeit mache ich mir sowieso keine Gedanken mehr. Auch diese Arbeit hier ist ja eher ein Essay als eine wissenschaftliche Ausarbeitung.

Wenn Sie also ein Sachgebiet zu bearbeiten haben, nutzen Sie vielfältige Methoden, um sich Muster aufzubauen. Je länger Sie an einem Gebiet arbeiten, umso breiter wird Ihr Fundament und umso leichter lernen Sie.

Vera Birkenbihl schreibt:
Je mehr wir bereits wissen, umso leichter lernen wir dazu.
Birkenbihl, Vera: Stroh im Kopf, S. 78
Bleibt zu ergänzen, dass wir noch leichter lernen, je mehr wir interdisziplinär gelernt haben.

Gerade wenn Sie sich intensiv mit einem bestimmten Themengebiet auseinandersetzen müssen, sollten Sie bewusst diese Monokultur durchbrechen. Studenten fangen während ihrer Diplomarbeit häufig an, panisch zu reagieren, sobald irgendeine andere Anforderung als die fachliche an sie gestellt wird. Schon die Vermittlung von typischen Lernmethoden oder Schreibmustern im eigenen Fach erscheint ihnen als viel zu viel (und offenbart, wie schlecht unsere Schulen und Universitäten Methoden- und Schreibkompetenz vermitteln).
Dabei stützen abweichende Strukturen und abweichende Wissensnetze gerade dadurch das benötigte fachliche Wissen, weil sie unterschiedlich sind und weil sie stören und aufstören.

Geschichten schreiben

Noch eine andere Erfahrung, die ich gemacht habe: junge Schriftsteller identifizieren sich gerne mit ihrem Lieblingsautor. Was gab es vor einigen Jahren an Geschichten von Jungen mit einer Narbe auf der Stirn. Und was gibt es derzeit Geschichten von Mädchen, die sich in einen mysteriösen Jungen verlieben, der in einer mysteriösen Familie aufwächst.
Auf den Vorschlag, statt nur Liebesromane auch mal Krimis zu lesen (und umgekehrt), ein Lesetagebuch zu führen, sich aus Geschichten Ablaufpläne herauszuschreiben oder Landkarten zu malen, kommt dann schon mal die Antwort, man sei doch nicht in der Schule.

Offenbar hat die Schule dann aber nicht vermittelt, wozu diese Muster gut sind. Bei meinem Sohn sehe ich, dass im Unterricht Muster eingeübt werden, weil diese richtig seien, nicht, weil diese abweichend sind. Da mein Sohn, wie ich, ein Problemlerner ist, geschieht dann aber folgendes: das Muster verknappt den Text oder die Sachinformation, und damit taucht ein Problem auf. Statt dieses Problem aber als Herausforderung zu begreifen, wird es - im Unterricht - als störend empfunden. Manchmal kommt mein Sohn dann mit tausend Fragen an, warum etwas so oder so im Unterricht gelernt wurde. Eigentlich sollte dies aber durch die Lehrer vermittelt werden.

Auch erzählendes Schreiben muss sich auf einen reichhaltigen Fundus aus Mustern stützen. Je mehr Muster gekonnt werden, auch solche, die mit Geschichten zunächst nichts zu tun haben, desto umfangreicheren Transfer kann der Schreibende herstellen. Dass die besten Autoren so intelligent erscheinen, hängt vielleicht nicht mit der Intelligenz direkt zusammen, sondern mit einer breiten fachlichen Ausbildung und einer vielfältigen Beschäftigung mit unterschiedlichsten Sachthemen. Und dies unabhängig davon, ob dieses Thema gerade nützlich ist.

Um also Texte zu schreiben, sollten Sie
1. Erzählungen analysieren: "Mustern" Sie Erzählungen, d.h. setzen Sie Erzählungen in vielfältiger Weise um. Ob Sie einzelne Textstellen kommentieren, ob Sie große Ablaufpläne anlegen, ob Sie Personenlisten ausarbeiten oder Landkarten zeichnen, ist egal. Je vielfältiger Sie vorgehen, umso mehr unterschiedliche Muster legen Sie natürlich an, und umso mehr lernen Sie.
Manche Muster, manche Methoden werden Ihnen wie Erbsenzählerei vorkommen. Wenn Sie sich zum Beispiel daran setzen, ein ganzes Kapitel aus einem Krimi in Propositionen umzuschreiben, werden Sie viel Geduld aufbringen müssen. Wenn Sie aber aus dieser langen Liste aus Propositionen dann tieferliegende Muster (chunks) herausfiltern, Muster der Beschreibung, Muster der Handlungsverläufe, Dialogmuster, erweitern Sie Ihren Horizont.

2. schreiben: Auch zunächst planloses Schreiben basiert auf Mustern. Je mehr Sie schreiben, je mehr Sie mit Texten experimentieren, umso mehr Muster entwickeln Sie.
Viele angehende Schriftsteller haben Probleme mit dem Entwerfen von Plots. Hier andere Romane zu analysieren, ist die eine Sache. Die andere ist die, immer wieder und ohne einen weiteren Nutzen Plots zu entwerfen. Hervorragende Ideenlieferanten finden Sie bei den Kurzbeschreibungen von Büchern auf www.amazon.de. Wenn Sie jeden Tag zwanzig Minuten einen Plot nach einem solchen "Waschzetteltext" entwerfen, werden Sie merken, dass Sie immer leichter komplexe Plots handhaben können.
Blicken Sie auf jeden Fall über den Tellerrand. Selbst wenn Sie Ihr Genre längst gefunden haben, sollten Sie sich in anderen Genres üben. Abweichungen klären, weil sie abweichen (denken Sie an den Grundsatz des Konstruktivismus: Informationsverarbeitung ist ein konstruktiver, aufbauender Prozess).

3. forschen: Ich sage ausdrücklich forschen und nicht recherchieren. Wenn man zu einem bestimmten Thema schreibt, sind Recherchen natürlich unerlässlich. Aber allgemeiner sind Sprünge in das kalte Wasser eines neuen Fachgebiets sinnvoll, weil Sie sich hier neue, alternative Netze aufbauen, mit neuen Begriffen versorgen.

Seminare leiten

Mein Bedarf an Seminaren, in denen schöne Worte gepredigt werden, ist mehr als gedeckt. Wie geht es Ihnen?
Seien wir ehrlich: Viele Seminare vermitteln keine Begriffe, sondern liefern hübsche, aber wenig vernetzte Bezeichnungen. Statt eines reichhaltigen Mahls bekommt man bunt angemaltes Junk-Food und fröhliches Vor-sich-hin-wurschteln statt Methodenkompetenz.
Ich mag schon nicht mehr zählen, wie oft ich ein halbverstandenes Kommunikationsquadrat à la Schulz von Thun oder ein völlig zusammengestutztes Eisberg-Modell vorgestellt bekommen habe. Was von solchen Seminaren bleibt, ist eine unbefriedigende Leere.
Auch der sogenannte Praxisbezug ist dann nur noch das Deckmäntelchen, mit dem die Unklarheiten des Seminarleiters unsichtbar gemacht werden sollen.

Wir stoßen hier auf das Problem, das ich eingangs erörtert habe: den Unterschied zwischen behavioristischen und kognitivistischen Lerntheorien. Seminare, die sich zu sehr auf eine Praxis stützen, die vor allem ein bestimmtes Verhalten einüben, gehen behavioristisch vor. Das Handeln verkommt zu einem Imitieren.

Wenn aber Begriffe und Muster veranschaulicht werden, wenn auf der Basis gut durchdachter Wissensnetze eine praktische Einübung folgt, dann können die Teilnehmer weit besser die Bedeutung begreifen und durch die Vernetzung von Theorie und Praxis die Seminarinhalte auch besser behalten.

Ein anderer Fehler, der gerne gemacht wird: es werden Erfolge versprochen.
Erfolge zu haben ist natürlich Sinn und Zweck eines Seminars. Nur deshalb nehmen wir an Seminaren teil. Aber sie sind nicht der Inhalt des Seminars.
Wenn ich mir ein Buch über soft-skills kaufe, möchte ich doch nicht wissen, dass ich damit wahnsinnig tolle Erfolge haben werde. Ich würde mir doch kein solches Buch zulegen, wenn ich nicht eine bestimmte Erwartung habe. Auch bei einem Buch erwarte ich, in nachvollziehbarer Weise, Erklärungen, wie etwas funktioniert und wie ich etwas beeinflussen kann. Zumindest erwarte ich ein Modell, auf das ich mich stützen kann.

Wenn Sie also Seminare leiten, dann arbeiten Sie Begriffe, Wissensstrukturen, Schemata, Skripte gründlich heraus. Vergessen Sie dabei nicht die praktische Umsetzung, aber machen Sie auch nicht einen Kindergarten aus Ihren Seminaren (wobei man da zumindest den Kindern sehr unrecht tut: diese erarbeiten sich nämlich ihr nötiges Wissen).

Schule und Familie

Schule und Familie arbeiten häufig gegeneinander. Mangelnde Ausbildung auf Seiten der Lehrer und der Wunsch vieler Eltern, die Kinder in die Schule abzuschieben, führen vor allem zu eins: die Schüler werden nicht richtig ausgebildet und geraten in zahlreiche, von allen Seiten unverstandene Konflikte.

Es ist nicht die alleinige Aufgabe der Schule, Methodenkompetenz und Wissensstrukturen zu vermitteln. Es ist für Kinder unzumutbar, dass sie nach Hause kommen, den ganzen Morgen gelernt haben und am Nachmittag auch noch mal lernen müssen, aber an ihren Eltern erleben, dass diese nicht lernen wollen und keine Neugierde an den Tag legen.
Eltern müssen hier Vorbilder für das Lernen sein (nicht aber für die Sachkompetenz).
Dabei gehen Interesse am Kind und Interesse am Stoff Hand in Hand. Eltern, die sich nicht für das fachliche Lernen ihrer Kinder interessieren, interessieren sich meist generell nicht für ihre Kinder.

Und ebenso unwirklich erscheint es mir, dass viele Lehrer vergessen zu haben scheinen, wie unsicher sie selbst mit ihrem Wissen waren oder wie ihr eigener Lernweg verlaufen ist. Die teilweise dogmatische Härte mancher Lehrer offenbart diese Unsicherheit mehr, als dass sie sie verbirgt und zeigt eigentlich nur, dass dieser Lehrer noch einen langen Lernweg vor sich hat, aber aufgehört hat, ihn zu gehen.
Auch Lehrer sollten zuallererst vorleben, dass Lernen Spaß macht.

Rechnet man jetzt noch ein, dass abweichendes Lernen, der Aufbau abweichender Muster das Lernen stützt, muss man also davon ausgehen, dass zwar exaktes Wissen ein Ziel sein kann, aber nicht den Weg und die Methoden des Lernens ausmacht, dann sollte Unterricht ganz anders gestaltet werden: problemorientiert (und zwar entlang von Problemen der Schüler), kreativ, methodisch orientiert, konstruktiv.

Jedes Interesse am Schulstoff von Seiten der Eltern ist 1. eine Wiederholung für den Schüler und damit eine Festigung des Wissens und 2. natürlich für die Eltern selbst eine Erweiterung ihres Wissens und deshalb mittelbar oder unmittelbar eine Leistung für sich selbst.

Jedes Interesse eines Lehrers an seinen Schülern ermöglicht diesen ein Herauswachsen aus der Kernfamilie. Kinder, die diesen Schritt nicht auf vernünftigem Wege angeboten bekommen, neigen dazu, diesen auf "unvernünftigem" Wege zu tun. Kindergarten und Schule bieten die Möglichkeit, sich ein eigenständigeres Verhalten aufzubauen, weil sie gegenüber der Familie abweichende Muster des Zusammenlebens und Zusammenlernens anbieten. Dass vom Kind dann nach beiden Seiten kritische Töne fallen können, dass Eltern nicht immer mit der Schule einverstanden sind und Lehrer nicht immer mit dem Elternhaus, sollte aber an der grundsätzlich positiven Wirkung dieses Unterschieds nicht rütteln.