"Verlangt man gar, dass die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d. i. [das ist, im Sinne von gleichzusetzen mit] der Ideen, und zwar zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben dargetan werden, so begehrt man etwas Unmögliches, weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann."Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main 1974, Seite 294f.
Je länger ich über Kant nachdenke, umso unsicherer werde ich. Neben allen anderen Sachen, die ich mache, beschäftige ich mich (immer) noch unsystematisch, assoziativ mit seinem Werk. Trotzdem: wir müssen auf diese Unterschiede, die Kant einführt, kritisch aufbauen.
Verstandesbegriffe und Vernunftbegriffe
Kant grenzt die Verstandesbegriffe von den Vernunftbegriffen (Ideen) ab. Verstandesbegriffe sind Bündel von sinnlich-konkreten Merkmalen. Haben wir einen Begriff vor uns, dann müssen wir uns als erstes fragen, ob dieser sich durch konkrete Merkmale definieren lässt.
Das können Sie selbst ausprobieren: der Begriff "Apfel" lässt sich relativ rasch definieren: er ist zumindest halbwegs rund, grün, gelb oder rot, hat einen vertrockneten Blütenansatz und auf der anderen Seite einen kurzen, hölzernen Stiel. Zudem ist das Fruchtfleisch meist weiß oder leicht gelblich und im Inneren sitzt ein Gehäuse mit keinem bis mehreren Kernen.
Andere Begriffe dagegen lassen sich nicht sinnlich erfassen. Dazu gehören Begriffe wie Staat, Politik, Gerechtigkeit, Glaube, und so weiter. Um diese doch zu versinnlichen, müsse man, so Kant, auf die symbolische Darstellung zurückgreifen. Symbole sind indirekte Darstellungen eines Begriffs. Warum sind solche Symbole nun nützlich? Kant macht dies an einem recht witzigen Beispiel deutlich (das ich schon einmal dargestellt habe): er hat den despotischen Staat mit einer Kaffeemühle verglichen (Seite 296), weil einer mahlt (der König oder Tyrann) und viele gemahlen werden (die Untertanen). Kant beschreibt dann, dass ein Symbol nicht der Anschauung nach, sondern der Reflexion auf die Analogie (Kurbel : Kaffeebohne = Tyrann : Untertanen) nach mit dem Vernunftbegriff übereinkommt.
In diesem Bereich kann man dann viele psychologische Begriffe einordnen, eigentlich sämtliche Emotionen, auch den Prozess der Motivation, ja, selbst neurophysiologische Begriffe, sobald sie aus ihrem Kontext zu sehr herausgerissen werden.
Der unklare Begriff in seiner rhetorischen Umgebung
Das Wort "asozial" gehört ebenfalls dazu. Hoeneß, um den es in dieser Debatte geht, wurde von Gauck als asozial bezeichnet, so die Medien im Allgemeinen. Tatsächlich hat der Bundespräsident aber "lediglich" "unverantwortlich oder gar asozial" gesagt, bzw. hier noch einmal das ganze Zitat von ihm:
"Wer Steuern hinterzieht, verhält sich verantwortungslos oder gar asozial" (im Stern)
Schon die Überschrift eines Artikels von Focus verschiebt die Bedeutung deutlich: Gauck bezeichnet Steuerhinterzieher als asozial. Hier geht es plötzlich um den ganzen Menschen und um ein psychologisches Merkmal. Schließlich wird in dem Artikel der ganze Mensch spezifiziert: es ist nicht mehr der Steuerhinterzieher, sondern Uli Hoeneß (den Gauck im Blick habe), die Attribute "verantwortungslos" und "asozial" werden in ihrer Reihenfolge umgedreht und die Konjunktion "oder gar" durch ein "und" ersetzt. Hier noch ein weiteres Zitat aus dem eben erwähnten Artikel:
"Mit Blick auf Uli Hoeneß äußerte er sich klar: Wer Steuern hinterzieht verhält sich „asozial“ und „verantwortungslos“."
Asozial bedeutet (für mich), dass man sich der Gesellschaft oder Gemeinschaft gegenüber gleichgültig verhält oder passiv oder aktiv sogar gegen sie arbeitet. Ich weiß nun nicht, wie dieses "gegen" genau aussehen könnte. Ich überlege mir seit einiger Zeit, ob es nicht die Aufgabe der Kultur ist, uns Konflikte zu liefern, und ob man nicht die Kultur verfehlt, wenn man sie konfliktlos halten möchte (im Zuge der Multi-Kulti-Debatte). Insofern wäre asoziales Verhalten sogar sehr eng an kulturelle Vorgänge gebunden.
Nun hat die Äußerung von Gauck etwas sehr Unglückliches: Sie ist, zumindest was das Wort "asozial" betrifft, komplett unklar. Manche Menschen meinen, dass es nicht nur auf Hoeneß zutrifft, sondern auch noch gerechtfertigt sei. Sie legitimieren es als zugleich psychologisch und juristisch richtig. Andere dagegen suchen die Verbindung zu den damals so genannten Asozialen im Dritten Reich und wittern einen indirekten Hitlervergleich.
An dieses unklare Wort hängen sich nun die Massenmedien und mehr und mehr auch die kommentierende und bloggende Öffentlichkeit. Bevor wir hier über das Amt des Bundespräsidenten sprechen und was er darf und nicht darf, müssen wir erst den Missstand beleuchten: und der ist relativ simpel, das Benutzen eines Wortes, welches zu anspielungsreich ist, um richtig verstanden zu werden.
Und so ist es auch klar, warum der Streit ausgebrochen ist und das Wort "asozial", das von Gauck noch als Steigerung benutzt wurde, jetzt plötzlich gleichbedeutend ist mit verantwortungslos. Schlimmer aber ist, dass die öffentliche Verurteilung von Hoeneß personifiziert. So schreibt ein Mensch in den Leserbriefen der Welt: "Steuerbetrüger sind asozial" und korrigiert sich dann gerade nochmal im Modus "zumindest die meisten". Genauso der Focus: es gehe um Hoeneß und das entscheidende Attribut ist "asozial".
Unklare Begriffe werden zum Spielball der Rhetorik. Verstandesbegriffe müssen definiert werden. Im sozialen, pädagogischen, politischen und massenmedialen Bereich haben wir es meist mit Vernunftbegriffen zu tun: hier hat der Redner die Verantwortung, über die Veranschaulichung und Versinnlichung eines solchen nachzudenken, bevor er ihn benutzt. Insbesondere gilt dies für Vernunftbegriffe mit einem starken moralischen Unterton. Es ist doch klar, dass Hoeneß hier herhalten muss. Gauck hätte sich lieber über diese doppelte Verurteilung von Menschen in den Medien äußern sollen und dem juristischen Aspekt etwas dezenter gegenübertreten dürfen.
Meine Meinung zu der Äußerung von Gauck
Sie ist rhetorisch schon für sich sehr gefährlich. Dies wird in folgendem Zitat sogar noch plastischer: "In unserem Land darf es in rechtlichen und moralischen Fragen nicht zweierlei Standards geben, …"; heiliges Schwein!
Moral mit einem funktionalen Rechtssystem zu vergleichen, was Gauck im ersten Zitat nur unterschwellig macht, ist schon ein deutlicher Missgriff. Das Recht dient nicht der Verwirklichung der Moral (welcher denn?), sondern der Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. Recht dient nicht der Gerechtigkeit, schon gar nicht der Wahrheit und erst recht nicht dem moralischen Überschwang. Das alles sind eigentlich nur Nebeneffekte, wenn es sie überhaupt gibt. Recht reguliert insbesondere die Konflikte innerhalb einer Gesellschaft und legt fest, ob ein Konflikt öffentlich rechtswürdig ist oder nicht. Recht legt Bedingungen fest, unter denen Menschen oder andere juristische Personen etwas dürfen oder nicht. Recht legt vor allem Handlungen dar, die ein Mensch zu tun oder zu lassen hat, von der Staatsseite aus; Moral kann dort nur auf indirektem Wege Einfluss nehmen. Man sollte das juristische System und die Volksmeinung jedenfalls nicht durcheinanderbringen.
Vor allem aber sollte man sich überlegen, welche Vernunftbegriffe man in welchem Kontext gebraucht. Auch, wenn man Bundespräsident ist.
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