04.05.2013

Der Denkfehler des Denkfehlers; Menschenkenntnis

Auf Spiegel-online kann man einen schönen, leicht ironischen Artikel über die so genannten Fehlurteile in der Menschenkenntnis lesen: Menschenkenntnis ist oft nur Irrglaube. (Zu dem Begriff des Fehlurteils äußere ich mich nach meinem hübschen Fund.)

Ein Denkfehler und die Aufgabenstellung

In dem Artikel wird ein klassisches Experiment aus der Kognitionspsychologie vorgestellt. Die Probanden bekamen die Ziffernfolge 2 - 4 - 6 vorgelegt. Dazu gab es folgende Arbeitsanweisung: "Nach welcher Regel wurde diese Ziffernfolge erstellt?"
Die Probanden haben nun häufig folgende Regel aufgestellt: immer 2 dazu rechnen.
Doch genau das rechtfertigt noch nicht die Beurteilung dieser Lösungen als "mentale Fehleinschätzung" (und, so weit ich mich erinnere, machen das auch die Psychologen nicht; hier irrt sich der Journalist).
Die Aufgabenstellung gibt weder die Anweisung, Alternativen zu finden, noch setzt sie die Zahlenreihe so fort, dass man andere Lösungen finden müsste. Solche Aufgaben gibt es auch im Intelligenztest. Hier wird eine positive Antwort für mehrere, verschiedene Lösungen mit der vollen Punktzahl gewürdigt, sofern es verschiedene Lösungen gibt.
Insofern ist das Urteil als mentale Fehleinschätzung für die schlichteste Lösung auch nur eine rhetorische Figur: der Journalist stellt sich hier als jemand dar, der die richtigen, wissenschaftlichen Interpretationen kennt und begeht damit den Fehler, den er gerade angekreidet hat. Durch seine Fachsprache überhöht er sich selbst und merkt nicht, dass er ein Experiment unvollständig und mit eigenen Bewertungen zitiert (in irgendeinem meiner Bücher müsste ich noch einmal nach einer genaueren Beschreibung schauen: ich bin mir wirklich nicht sicher, wie das Experiment präzise gelaufen ist).
Ergebnis des Experimentes jedenfalls ist, dass wir zwar keine Fehleinschätzungen machen, aber genau dann mit unserer Suche aufhören, wenn wir eine Lösung gefunden haben: wir sind beim Denken gerne bequem oder, wie man das heute nennt, pragmatisch.

Fehlurteile

Der Begriff des Urteils wird im Alltag ganz anders gebraucht als in der Philosophie. In der Philosophie ist er die Zuweisung eines Merkmals zu einem "Phänomen" (in diesem Fall: Gegenstände, Handlungen, Ideen, Personen, usw.), wie zum Beispiel "der Apfel ist grün", "dieser Schrank ist schwer", …
Im Alltag, wohl aber auch über das Rechtssystem, hat sich nun ein ganz anderer Begriff des Urteils gebildet, nämlich als Entscheiden, ob etwas wahr oder falsch sei. Das ganze Problem dabei ist, dass ich zwar sinnliche oder faktische Urteile nach wahr/falsch tatsächlich einteilen kann. Ich kann sagen, dass der Apfel grün ist, aber da ich auf einen Apfel verweise, der auf einem Bild von Paul Cézanne auftaucht und dieser Apfel dort tatsächlich blau ist, so ist mein Urteil falsch.
Bei einem Geschmacksurteil dagegen — "das Buch ist äußerst spannend" — geht es gerade nicht um die Wahrheit, sondern um die Zustimmung, um die gemeinsame oder andersartige Perspektive. Und erst hier können wir, wenn wir die Begriffe der Philosophie denn benutzen wollen, uns auf die Suche nach "Verzerrungen" machen, d.h. auf der Ebene der Begriffsbildung (die, salopp gesagt, eine Bündelung von Urteilen ist) und auf der Ebene des Schlussfolgerns (die, ebenfalls salopp gesagt, die gute Ordnung der Begriffe untereinander herstellen soll, es aber nicht immer tut).
Und erst auf der Ebene des Schlussfolgerns werden dann die Patzer begangen, die wir allgemein hin als Fehlurteile bezeichnen.

Menschenkenntnis

Ich habe den Tag über an dem Begriff der Menschenkenntnis gearbeitet. Hierbei gehe ich zwar von einem (alltags-)psychologischen Begriff aus, untersuche allerdings vornehmlich die Rhetorik. Mich noch einmal gründlich mit der Argumentationslehre, bzw. der Logik zu beschäftigen, hat mir gut getan. (Meine Kommentare zu Deweys Logik müsste ich mal systematisieren und dann veröffentlichen. Aber ich habe sie noch nicht mal in meinen Zettelkasten übertragen.)
Spannend an dieser Auseinandersetzung ist, dass fast jede Internetseite andere rhetorische Figuren, vor allem aber auch logische Abkürzungen, benutzt. Auch dazu bin ich am Sammeln. Dabei ist meine Frage zunächst nicht, ob dies richtig oder falsch sei, nicht im allgemeinen und nicht im besonderen, sondern meist, auf welche unausgesprochene Regel (in der Fachsprache: der Mittelsatz) sich ein Autor stützt.
Im Coaching und in der praktischen Psychologie (zum Beispiel Therapie) wurde dies unter dem Begriff der geheimen Glaubensüberzeugung heiß diskutiert. Ich war damals in diese Diskussionen, allerdings mit mäßigem Interesse, gelegentlich eingebunden. Heute kann ich genauer sagen, was mich damals gestört hat. Es wurde nicht auf der Ebene der Logik diskutiert. Es wurde nicht gesagt, was eine geheime Glaubensüberzeugung konkret in der Sprache macht. Die ganze Diskussion verlief zu abstrakt.
Wittgenstein schreibt, wohl zufälligerweise, zu dem Begriff der Menschenkenntnis, dass man ihre Regeln lernen könne, sie aber erstens kein System bilden und zweitens nicht durch einen festen didaktischen Aufbau (so ungefähr stellt Wittgenstein das Erlernen der Mathematik dar), sondern durch den von Zeit zu Zeit gegebenen "richtigen Wink" verinnerlicht werden könne. Ihm geht es in der Passage eigentlich um die Echtheit von Gefühlsausdrücken.

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