Wozu liest du eigentlich Unterhaltungsliteratur, wenn du sie anschließend zerpflückst und vor allem auf Fehler hinweist? — Das ist eine Frage, die zwar nicht allzu häufig auftaucht, aber doch immer wieder. Die einfachste Antwort ist: manchmal lese ich auch solche Romane einfach aus Vergnügen.
Johannes Flörsch darf ich wohl im vollen Sinne des Wortes als Kollegen betrachten; und wenn diese Bezeichnung falsch wäre, so ist doch sehr richtig, ihn als kollegialen Menschen zu bezeichnen. Er hat in einem Kommentar (zu meinem Artikel Sebastian Fitzek: Seelenbrecher. Wenn der Perspektivwechsel misslingt.) etwas sehr wichtiges gesagt. Ich zitiere:
Konsalik kenne ich nicht, mit ihm ging’s mir wie mit Simmel: war in meiner Jugend absolutes Tabu. Zu seicht, hieß es. Bis ich mal das verordnete Vorurteil überwand und selbst nachschaute bzw. nachlas. Und siehe da: Simmel gefiel mir. Ich fand die zwei, drei Romane, die ich im Anschluss las, spannend und alles andere als seicht.
Selbst wenn Simmel nun tatsächlich seicht gewesen wäre, müsste man ihn doch lesen. Johannes drückt dies sehr richtig aus: wenn man sich nicht selbst überzeugt, handelt es sich um ein verordnetes Vorurteil. Einen recht ähnlichen Sachverhalt brandmarkt Theodor Adorno als vorauseilenden Gehorsam (jetzt müsste ich nur noch die Stelle finden).
Ich kenne dasselbe Vorurteil auch von studentischen Lesegruppen. Sehr häufig wissen dort einige Menschen im Vorhinein, was beim Lesen hinterher herauskommen soll. Foucault sage dasselbe wie Adorno; Luhmann sei ein Funktionär des Bestehenden. Nietzsche wird auf einzelne Sätze reduziert und was kommt dabei heraus? Dass er ein Faschist sei. Nun habe ich nichts dagegen, mit Nietzsche äußerst vorsichtig umzugehen. Aber diese Lesart ist nun so unterkomplex, dass man selbst ohne Kenntnis des Werkes sagen kann, dass sie falsch ist.
Viel schlimmer aber ist, dass diese angeblich ach so akademischen Menschen eine Geste wiederholen, die für Faschisten sehr typisch ist: abgelehnt wird, was man nicht kennt. Hier zeigt sich die Paranoia als sekundärer Krankheitsgewinn der Bequemlichkeit. Unbequem oder, im Falle von Johannes und seinem Simmel, vergnüglich dagegen ist die "primäre" Begegnung mit der Sache selbst. Manchmal ist es ja auch so, dass nach einem ersten Unbehagen sich etwas als positiv herausstellt.
Meine Antwort auf Johannes war ein umgekehrter Fall. Ich zitiere mich selbst:
Genau umgedreht ist mir dasselbe mit Goethe passiert. Goethe sollte immer so toll und gleich Deutschlands größter Schriftsteller sein. Und obwohl ich in meiner Jugend schon so ziemlich alles gelesen habe, was ich unter die Finger bekommen habe, habe ich mich an Goethe nicht herangetraut. Weil er eben, im Gegensatz zu Konsalik, nicht seicht, sondern anspruchsvoll sei. Im Germanistik-Studium kommt man allerdings um Goethe nicht herum. Also habe ich dann schließlich doch Goethe gelesen. Heute besitze ich die Hamburger Ausgabe. Sehr viel habe ich noch nicht mit ihm gearbeitet (es gab sozusagen andere Literatur, die mich abgelenkt hat), auch bewundere ich ihn nicht; aber ich schätze ihn. Konsalik kann durchaus als ein reiner Unterhaltungsschriftsteller gelesen werden. Das war ja wohl auch seine Absicht. Trotzdem: literaturwissenschaftlich ist er interessant und bietet eine ganze Menge an Themen an; gerade auch, weil er "nicht so gut" schreibt, unbedacht manchmal und linkisch, bietet er eine Fundgrube an rhetorischen und narrativen Figuren. Seine Romane unterhalten mich nicht, aber sie fordern meine analytischen Fähigkeiten heraus. Deshalb zögere ich auch, all diese Kindle-Autoren als "schlecht" abzuwerten: Häufig entsteht, gleichsam am Rande ihres Textes, etwas Neues, ein Stück unreflektierte Kreativität. Und an dieser Stelle müsste man diesen Autoren vorwerfen, dass sie zu wenig für sich schreiben, zu wenig, um etwas äußerst Spannendes zu erfahren: dass man sich beim Schreiben verändern kann. Nicht immer zum Guten, wie man am Alterswerk von Konsalik liest (oder auch von Wolfgang Hohlbein).
Wenn mich etwas an jungen Autoren stört, dann nicht, dass sie schlecht schreiben. Gut zu schreiben ist Handwerk. Man kann es lernen. Ein breites Sprachgefühl braucht man erst, wenn man hervorragend schreiben möchte. Ich behaupte nun, dass man dieses Sprachgefühl vor allem (wenn auch nicht nur) durch das gründliche Lesen von sehr unterschiedlicher Literatur entwickeln kann. Autoren, die nur ihr eigenes Genre lesen, sind stilistisch sehr viel häufiger unerträglich, als Autoren, die ein breit gefächertes Lesepensum haben. Wenn ich das meinen Kunden vorschlage, höre ich manchmal die Antwort: "Das verstehe ich doch nicht! Dafür bin ich nicht gebildet genug!" Dieses Gegenargument ist natürlich unsinnig und gehört zum vorauseilenden Gehorsam. Fragt man sich nämlich, was man sich unter den Wörtern verstehen und gebildet vorstellen darf, so findet man meist nur sehr undeutliche und teilweise verworrene Teildefinitionen. Fehlendes Verständnis und Bildung sind also kein Argument gegen Goethe, Kleist, Rilke, Aichinger oder Jelinek. Fehlende Erlebnisfähigkeit schon eher. Viele Menschen, so scheint mir, ertragen es nicht, diese großen klassischen oder experimentellen Autoren zu erleben, also eigentlich den Texten nachzuspüren, sich emotional gefangen nehmen zu lassen. Nicht mangelnde Intelligenz, sondern abgestumpfte Sinnlichkeit; das scheint mir das gravierendere Problem zu sein.
Auch deshalb ist es wichtig, Urteile zu überprüfen. Simmel mag sich als äußerst spannend und tiefsinnig entpuppen, Fitzek als lehrreich und Goethe als gar nicht so großer, aber vielleicht sehr interessanter Schriftsteller.
Dazu auch: Und wozu liest man schlechte Bücher?
3 Kommentare :
Es gibt, habe ich erst gestern einem „meiner“ Autoren geschrieben, aus meiner Sicht ein einziges Kriterium für »Qualität“ (er hatte gefragt, woran sich „Qualität“ messen ließe). Es ist die Antwort auf die Frage: Wird der Leser von dem, was er liest, gefangen genommen, gefesselt, emotional berührt? (Mal abgesehen von Betriebsanleitungen und wissenschaftlichen Aufsätzen.)
Und zweitens. Stephen King, auch er der stilistischen Brillanz eher unverdächtig, meint in seinem Buch „Das Leben und das Schreiben“ (das ich übrigens mit viel Vergnügen verschlungen habe und das meiner Meinung nach vollkommen ‚underrated‘ ist):
„Wenn Sie Schriftsteller werden wollen, müssen Sie vor allem zweierlei tun: viel lesen und viel schreiben. Um diese beiden Dinge kommen Sie nicht herum, nicht dass ich wüsste. Da gibt‘s keine Abkürzung.“
Zusammengefasst: Ich bin ganz deiner Meinung, Frederik!
Jaja, wir waren die Generation, also bei Johannes´ Geburtsdatum kann ich das sagen, da war Trivialliteratur verpönt, Mickey Mouse-Comics z.B: auch.
Bis sich die Forschung in der Germanistik dieser Gattungen annahm, ich auch übrigens in meiner Diss. Aber Frederik: Seit vor Jahren die über allen Verdacht erhabene ZEIT sich Simmels annahm (war es Karasek, ich weiß es nicht mehr) war der rehabilitiert; und beSonders sein "Es muss nicht immer Kaviar sein" zähltE schon bald zu den UnterhaltuNgsklassikern: Jedenfalls lassen sich entsprechende Strukturen bei ihm und seinen Büchern hervorragend herausarbeiten - etlichen Bestseller-Zahlen nachjagenden Indie-Autoren sei dies ans Herz gelegt. Er konnte auch noch Geradeaus-Sätze formulieren. Ich selbst habe immer nach einem Gynnasiumsschuljahr mir mindestens 3 sog. Schundhefte aus dem Bastei-Lübbe-Verlag ausgeliehen (zu kaufen brachte ich es nicht übers Herz), um dann wieder reumütig z.B. zu Goethe und Handke (netter Spagat nicht) zurückkehren zu können.
Liebe Gabriele! (Und natürlich auch alle anderen)
In dieser Sache bin ich vollständig Systemtheoretiker. Nicht das Objekt (also in unserem Fall der Text) ist wichtig, sondern wie ich diesen Text beobachte. Oder, noch eher, ob ich beim Beobachten neue Beobachtungsweisen entdecken kann. Und da taugt mir eine Nora Roberts genauso viel wie ein Max Frisch, ein Heinrich von Kleist genauso viel wie ein Konsalik. Letzten Endes läuft das auf den Satz hinaus: nicht der Text ist schlecht, sondern die Art und Weise des Lesens unpassend. Das ist etwas überspitzt formuliert. Texte müssen sich natürlich bestimmten Konventionen anpassen. Romane brauchen wiederkehrende Figuren. Klaus muss Klaus bleiben; er kann nicht ohne weiteres durch Paul ersetzt werden. Ein Text braucht also Regeln des Zusammenhangs (Textkohärenz), aber der Leser muss eben auch das Wissen mitbringen, diesen Zusammenhang zumindest zu spüren. (Vielleicht sollte ich mich um dieses Thema noch einmal genauer kümmern: Christoph Bode beklagt in seinem Vorwort zu seinem Buch Der Roman (allerdings nicht wortwörtlich), dass der Sinn eines sensiblen Lesens oder gar eines methodischen Lesens (das sensible Lesen ist ein methodisches Lesen ohne System, ohne die Vollständigkeit als Ziel zu haben) vielen Menschen gar nicht bewusst sei, weil sie es nicht erfahren haben oder wenn, dann nur schwach oder unreflektiert.
Wer also Nora Roberts und ihre Romane (Lilienträume, Rosenzauber, Fliedernächte; so einige ihrer Titel) nicht schätzt, hat sie einfach noch nicht zu lesen gelernt. Ich mag ihre geradezu schizophrenen Charaktere, die Getriebenheit dieser Figuren, ihre Unfähigkeit, mehr als Banalitäten zu sagen. Ich mag diese verrückten Orte, die Roberts entwirft, dass Zimmer in einem Haus herum wandern können, als hätten sie einen eigenen Willen, dass Objekte (Kameras, Bilder, Handtücher) auftauchen und verschwinden, wie sie lustig sind. Roberts schreibt überhaupt keine seichten Liebesromane, sondern experimentelle Prosa, Allegorien auf die Unsicherheit und Befremdlichkeit der modernen Welt.
Oder so ähnlich.
Liebe Grüße,
Frederik
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