03.11.2024

Psychoanalyse, Politik und Dekonstruktion. Eine Rezension

Lücke, Bärbel: Psychoanalyse, Politik und Dekonstruktion. Textanalysen zum Werk von Franz Witzel. Bielefeld 2024, 160 Seiten, 39 €.
Woran lässt sich der Wert eines Buches bemessen? Roland Barthes jedenfalls verwirft die ›armselige Freiheit, den Text entweder anzunehmen oder ihn zu verwerfen‹ und stellt diesem den Leser als ›Textproduzenten‹ gegenüber. Mit anderen Worten ist ein Buch so viel wert, wie es uns zum Weiterlesen und Nochmal-Lesen, zum Denken und Umdenken, zum Weiterschreiben verleitet. Und dies als Wert genommen ist ›Psychoanalyse, Politik und Dekonstruktion‹ eines der Schönsten, die ich in den letzten Jahren gelesen habe.
Frank Witzel ist kein einfacher Schriftsteller. Er bedient sich burlesker und humoristischer Strategien, die teilweise ins Satirische und Groteske abgleiten und doch sind seine Bücher immer auch von einem tragischen, auch zutiefst politischen Grundton durchzogen. In diesem (scheinbaren) Paradox befindet sich auch der Leser; die Bücher erscheinen fröhlich und bitter zugleich. Hier arbeitet Lücke für verschiedene Werke ein zentrales Thema von Witzel heraus: das Trauma zu schreiben, das Trauma einer unbewältigten Vergangenheit, aber so zu schreiben, dass es nicht rational-distanziert betrachtet wird, sondern dass es vom Leser erfahren und als Erfahrung reflektiert werden kann.
Frank Witzel ist kein einfacher Schriftsteller, ich sagte es. Dass seine Werke streckenweise ›saukomisch‹ sind, widerspricht dem nicht, auch nicht dem, dass Traumata quälend und zerstörerisch sein können. Darum ist es sehr sinnvoll, gerade wenn man mit den Ansprüchen ›postmoderner‹ Literatur noch nicht vertraut ist, eine klärende und klarsichtige Hilfestellung zur Hand zu haben. Und genau das schafft Bärbel Lücke großartig.
Trotzdem wendet sich die Autorin nicht zuallererst an literaturwissenschaftliche Neulinge; zwar führt sie ihre Begriffe knapp und übersichtlich ein, zwar sind ihre Beispiele zu den Begriffen begnadet treffsicher, zwar sind ihr Satzbau und ihre Wortwahl unprätentiös und eingängig – also fernab von aller Wortschrauberei und allem akademischen Klimbim –, allein ist ihr Buch dann auch wieder so kompakt und dicht, so von Satz zu Satz gehaltvoll, dass eine gewisse gute Grundlage mit Theorien wie der Dekonstruktion, der strukturalistischen Psychoanalyse, der Nomadologie und allgemein linguistischer Grundlagen nützlich sind.
Mir hat diese Knappheit allerdings außerordentlich Spaß gemacht; einfach weil es die Argumentationen sehr übersichtlich präsentiert. Und ernsthaft gesagt kann dann dieses Buch auch als Leitfaden dienen, um sich mit bestimmten Konzepten zunächst einführend und dann gut vertraut zu machen und dabei immer wieder zu diesem Buch, und natürlich zu Frank Witzel, zurückzukehren. Dadurch ist es eben doch ein gutes Werk auch für Einsteigerinnen.
Lücke analysiert also Text-, Schreib- und (insbesondere bezogen auf das zweite Kapitel, welches das Hörspiel, bzw. dann auch den Fernsehfilm ›Die apokalyptische Glühbirne‹ behandelt) Darstellungsstrategien in fünf Werken Witzels: ›Direkt danach und kurz davor‹ (Roman), ›Die apokalyptische Glühbirne‹ (Hörspiel und Film), ›Kunst als Indiz. Derricks fantastischer Realismus‹ (Essay), ›Revolution und Heimarbeit‹ (›Krimi‹), ›Notwendige Ungenauigkeiten des Erinnerns‹ (Erzählung).
Die fünf Kapitel enthalten insgesamt achtzehn Essais. Lücke zieht für ihre Analysen unter anderem folgende Begriffe heran: Montage, différance, mise en abyme, bricolage, Allegorie, Dialektik im Stillstand, Stimmung oder Gestimmtheit, die Dekonstruktion von Lebenstrieb/Todestrieb, ergon und parergon, Spiegelstadium, Ödipuskomplex, Rhizom –; man sieht, dass diese Vielfalt nicht leicht darzustellen sein dürfte. Doch gerade das gelingt der Autorin eben ganz hervorragend.
Ein anderer Grund, was dieses Buch so einzigartig macht, so ganz anders als andere Bücher, die eine literaturwissenschaftliche Interpretation anbieten, sind die Verweise auf Themen, die nicht im Buch behandelt werden. Wo andere Werke in sich geschlossen erscheinen, ohne natürlich wirklich geschlossen zu sein, schreibt die Autorin auf ganz faszinierende Weise ihre eigene Theorie mit: der nie vollständig abgegrenzte Text (Dekonstruktion), die nie zu Ende zu führende Interpretation (Psychoanalyse), die immer wieder neu herzustellenden Mannigfaltigkeiten (Nomadologie). Und ich erinnere mich an das Buch ›Das Schiboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift‹ (Achim Geisenhanslüke), ein hervorragendes Buch, sehr klug, sehr klar geschrieben, und doch fehlt diesem Buch die Offenheit, dieses intensive Gefühl, hier und sofort weitermachen zu können, hier und jetzt noch vieles entdecken zu können. Geisenhanslüke klärt, und doch ist die institutionelle Abschottung spürbar. Lücke schreibt trotz vieler gemeinsamer Themen und einem ebenso hohen Anspruch ganz anders – anregender, offener, produktiver.
Man soll am Ende eine Rezension, so ist das ja irgendwie üblich, auch noch irgendwie eine Kaufempfehlung schreiben. Doch genau das werde ich nicht tun. Ich habe vor langer Zeit aufgehört, Rezensionen zu schreiben, weil ich diese zu begrenzt, zu eng, teilweise völlig borniert oder klaustrophobisch empfinde, manchmal sogar beides zusammen. Es sollte klar geworden sein, was mich an diesem Buch begeistert. Und zunächst, auch das dürfte klar sein, sollte man ein paar Werke von Frank Witzel kennen. Die lohnen sich nämlich wirklich, so auch zum Beispiel das Werk, welches ich zuletzt gelesen habe, ›Humor und Gnade‹ (erschienen bei Matthes & Seitz), welches von Bärbel Lücke zwar nicht thematisiert wird, aber mit ihrem Buch in einer ständigen Zwiesprache zu stehen scheint.
Also keine Kaufempfehlung? Nun, Bücher sind keine Memoranden, Rezensionen auch nicht, und die Welt ist groß und hoffentlich morgen noch genauso offen für schöne Bücher, schöne Leseerfahrungen, schöne Schreiberfahrungen, schöne Entdeckungen wie heute. Wo sich aber Lust und Erkenntnis treffen, da ist man immer richtig. Und in diesem Sinne empfehle ich das Buch natürlich.

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