Die Frage, was Kinder im Mathematikunterricht machen, wenn sie mit anschaulichem Material operieren, ist keine einfache. Sie zielt in gewisser Weise auf das Ganze der menschlichen Tätigkeit. Lösen werde ich diese Frage hier nicht. Wie auch? Denn wäre das Ganze fassbar, wäre ein Außerhalb möglich. Aber das Ganze von innen zu erkunden heißt, mühsam die Grenzen abzutasten und sie mehr zu erahnen als empirisch zu beschreiben. Es gibt einen Moment in der Beschäftigung mit so einfachen Sachen wie dem Zahlenstrahl der natürlichen Zahlen, da die ganze Betrachtung ins Spirituelle oder Metaphysische umkippt.
Bleiben wir ein wenig unterhalb dieser weittragenden Bedeutungen.
Verkleinern
Gleich nach der berühmten Stelle über die Bastelei betrachtet Lévi-Strauss die Produkte des Bastlers. Der Bastler fertigt verkleinerte Modelle. Dabei kehrt die Verkleinerung die Situation der Erkenntnis um. Nicht länger geht der Bastler von den Teilen aus, um zu einer Totalität zu gelangen, sondern umgekehrt:
… aufgrund der Tatsache, dass sie [die Totalität des Objekts] quantitativ vermindert ist, erscheint sie uns qualitativ vereinfacht. Genauer gesagt, diese quantitative Umsetzung steigert und vervielfältigt unsere Macht über das Abbild des Gegenstandes; durch das Abbild kann die Sache erfasst, in der Hand gewogen, mit einem einzigen Blick festgehalten werden.Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt am Main 1973, S. 37
Im folgenden Absatz erweitert Lévi-Strauss dann diese Betrachtung: indem der Bastler das Modell verfertigt, überträgt er die Handhabbarkeit des Modells auf die realen Ereignisse. Modelle herzustellen, so könnte man diese Passage kommentieren, bedeutet, ein Ereignis oder ein Phänomen zu bewältigen. Dass diese Bewältigung eine mythische sein kann, widerspricht noch nicht der Perspektive, die sich der Bastler während der Verfertigung erarbeitet.
Verlangsamen
In einem sehr ähnlichen Sinne spricht Sybille Krämer von einem Verlangsamen in der Verräumlichung (Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Berlin 2016, S. 296). Tatsächlich werden so die Tätigkeiten am Objekt nach und nach in ein räumliches Diagramm überführt, und je nach Interesse zu einem mehr am (Erkenntnis-)Produkt oder mehr am erkennenden Tätigsein orientierten Modell überführt. Die Herkunft der Verräumlichung aus der Handlung mag dadurch beiseite gedrängt werden. Auffindbar ist sie trotzdem.
Wichtig daran ist allerdings, dass die Veränderung des Erkenntnisobjektes nicht nur die Tätigkeit zu verlangsamen scheint, sondern umgekehrt die Denkwege beschleunigt. Dadurch, dass bestimmte Elemente im Modell enggeführt werden (wie die Melodie einer Fuge), können diese automatisiert und damit rascher durchwandert werden. Das Denken beginnt im Rahmen des Modells zu oszillieren.
Umkehrbarkeit
Diese Verräumlichung der Zeit, die zugleich das Denken verflüssigt aber auch strukturiert, bemerkt auch Micha Brumlik:
Piagets Konzeption der Herausbildung zeitlicher Erfahrung unterstellt in gewisser Weise eine Verräumlichung der Zeit, d. h. eine Einstellung, in der Handlungsabläufe zumindest tentativ umkehrbar sind, …Brumlik, Micha: Zeitbegriffe und Urteilsvermögen in der Ontogenese des Geschichtsbewusstseins. in Straub, Jürgen (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte (Erinnerung, Geschichte, Identität 1). Frankfurt am Main 1998, S. 230
Rahmen und Referenz
Schließlich scheint sich am Rand des Modells aber auch der gesamte Charakter der Zeichen zu wandeln. Während innerhalb des Modells die Zeichen aufeinander verweisen, in Form von Spuren und Indexen, und sich zum Gesamtmodell als Metonymien verhalten, zeigen diese über den Rand des Modells als Referenzen in die Welt. Sie repräsentieren entweder ein Stück des Außerhalbs oder sie zeigen eine Ähnlichkeit mit ihnen.
Dieses Moment ist deshalb so wichtig, weil es zum Beispiel auch die angewandte Mathematik betrifft, und in der Schule ganz explizit die Sachaufgaben.
Offensichtlich vollzieht sich hier eine Art Drama. Denn innerhalb der Mathematik baut sich nach und nach eine Logik auf, die aus einer reinen, gleichförmigen Anordnung ein immer komplexeres System von formalen Verhältnissen erschafft, während zugleich am Rand eine immer größere Fähigkeit zu ästhetischen Imagination erforderlich ist, um die Mathematik in ihrem Verhältnis zur Welt zu bestimmen.
So sieht es aus, dass die Mathematik ein System gegenüber der Welt installiert, das rein kognitiv aus einer gegenseitigen Überforderung besteht. Anhand dieser können Linien der Problematisierung aufgebaut werden. Darin mag eine der hervorragenden Leistungen der Mathematik für das moderne Denken bestehen.