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09.02.2018

Verräumlichen

Die Frage, was Kinder im Mathematikunterricht machen, wenn sie mit anschaulichem Material operieren, ist keine einfache. Sie zielt in gewisser Weise auf das Ganze der menschlichen Tätigkeit. Lösen werde ich diese Frage hier nicht. Wie auch? Denn wäre das Ganze fassbar, wäre ein Außerhalb möglich. Aber das Ganze von innen zu erkunden heißt, mühsam die Grenzen abzutasten und sie mehr zu erahnen als empirisch zu beschreiben. Es gibt einen Moment in der Beschäftigung mit so einfachen Sachen wie dem Zahlenstrahl der natürlichen Zahlen, da die ganze Betrachtung ins Spirituelle oder Metaphysische umkippt.
Bleiben wir ein wenig unterhalb dieser weittragenden Bedeutungen.

Verkleinern

Gleich nach der berühmten Stelle über die Bastelei betrachtet Lévi-Strauss die Produkte des Bastlers. Der Bastler fertigt verkleinerte Modelle. Dabei kehrt die Verkleinerung die Situation der Erkenntnis um. Nicht länger geht der Bastler von den Teilen aus, um zu einer Totalität zu gelangen, sondern umgekehrt:
… aufgrund der Tatsache, dass sie [die Totalität des Objekts] quantitativ vermindert ist, erscheint sie uns qualitativ vereinfacht. Genauer gesagt, diese quantitative Umsetzung steigert und vervielfältigt unsere Macht über das Abbild des Gegenstandes; durch das Abbild kann die Sache erfasst, in der Hand gewogen, mit einem einzigen Blick festgehalten werden.
Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt am Main 1973, S. 37
Im folgenden Absatz erweitert Lévi-Strauss dann diese Betrachtung: indem der Bastler das Modell verfertigt, überträgt er die Handhabbarkeit des Modells auf die realen Ereignisse. Modelle herzustellen, so könnte man diese Passage kommentieren, bedeutet, ein Ereignis oder ein Phänomen zu bewältigen. Dass diese Bewältigung eine mythische sein kann, widerspricht noch nicht der Perspektive, die sich der Bastler während der Verfertigung erarbeitet.

Verlangsamen

In einem sehr ähnlichen Sinne spricht Sybille Krämer von einem Verlangsamen in der Verräumlichung (Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Berlin 2016, S. 296). Tatsächlich werden so die Tätigkeiten am Objekt nach und nach in ein räumliches Diagramm überführt, und je nach Interesse zu einem mehr am (Erkenntnis-)Produkt oder mehr am erkennenden Tätigsein orientierten Modell überführt. Die Herkunft der Verräumlichung aus der Handlung mag dadurch beiseite gedrängt werden. Auffindbar ist sie trotzdem.
Wichtig daran ist allerdings, dass die Veränderung des Erkenntnisobjektes nicht nur die Tätigkeit zu verlangsamen scheint, sondern umgekehrt die Denkwege beschleunigt. Dadurch, dass bestimmte Elemente im Modell enggeführt werden (wie die Melodie einer Fuge), können diese automatisiert und damit rascher durchwandert werden. Das Denken beginnt im Rahmen des Modells zu oszillieren.

Umkehrbarkeit

Diese Verräumlichung der Zeit, die zugleich das Denken verflüssigt aber auch strukturiert, bemerkt auch Micha Brumlik:
Piagets Konzeption der Herausbildung zeitlicher Erfahrung unterstellt in gewisser Weise eine Verräumlichung der Zeit, d. h. eine Einstellung, in der Handlungsabläufe zumindest tentativ umkehrbar sind, …
Brumlik, Micha: Zeitbegriffe und Urteilsvermögen in der Ontogenese des Geschichtsbewusstseins. in Straub, Jürgen (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte (Erinnerung, Geschichte, Identität 1). Frankfurt am Main 1998, S. 230

Rahmen und Referenz

Schließlich scheint sich am Rand des Modells aber auch der gesamte Charakter der Zeichen zu wandeln. Während innerhalb des Modells die Zeichen aufeinander verweisen, in Form von Spuren und Indexen, und sich zum Gesamtmodell als Metonymien verhalten, zeigen diese über den Rand des Modells als Referenzen in die Welt. Sie repräsentieren entweder ein Stück des Außerhalbs oder sie zeigen eine Ähnlichkeit mit ihnen.
Dieses Moment ist deshalb so wichtig, weil es zum Beispiel auch die angewandte Mathematik betrifft, und in der Schule ganz explizit die Sachaufgaben.
Offensichtlich vollzieht sich hier eine Art Drama. Denn innerhalb der Mathematik baut sich nach und nach eine Logik auf, die aus einer reinen, gleichförmigen Anordnung ein immer komplexeres System von formalen Verhältnissen erschafft, während zugleich am Rand eine immer größere Fähigkeit zu ästhetischen Imagination erforderlich ist, um die Mathematik in ihrem Verhältnis zur Welt zu bestimmen.
So sieht es aus, dass die Mathematik ein System gegenüber der Welt installiert, das rein kognitiv aus einer gegenseitigen Überforderung besteht. Anhand dieser können Linien der Problematisierung aufgebaut werden. Darin mag eine der hervorragenden Leistungen der Mathematik für das moderne Denken bestehen.

07.04.2011

Das wilde Denken, Kommentare zur Bastelei

Schon vor einigen Wochen habe ich mir das Buch "Das wilde Denken" von Claude Lévi-Strauss im Bücherschrank nach vorne gestellt. Schopenhauer kam mir dazwischen. Jetzt doch wieder Lévi-Strauss. Fleißig das ganze Wochenende kommentiert, Ausgabe Frankfurt am Main, 1997. Hier also etwas aus meinem Zettelkasten:

[1]
 Mythos (Wissenschaft vom Konkreten): "Organisation und der spekulativen Ausbeutung der sinnlich wahrnehmbaren Welt in Begriffen des sinnlich Wahrnehmbaren"
(Seite 29)

[2]
Hier noch wird das Wahrnehmbare aneinandergeklebt, sozusagen abduktiv verwendet
die Kultur legt noch nicht nahe, die Operationsketten aufzubrechen
(Zu Seite 29)

[3]
Anders: es handelt sich bei vielen dieser Argumente oder symbolischen Verkettungen um Ordnungen, deren hintergründige Begriffe entweder nicht weit genug reichen, also Vorbegriffe bleiben, die mehr auf Gewohnheit und Nachbarschaft beruhen, oder deren Begriffe weit über das Ziel hinausschießen, Lücken in der Erklärung offenbaren würden, wenn man sie nur streng genug ansieht, die eher literarisches Symbole als wissenschaftliche Begriffe sind, et cetera …
(zu Seite 29)

[4]
Der wissenschaftliche Begriff beruht auf Funktionen, auf gegeneinander ausgewogene Transformationen
(zu Seite 29)

[5]
Anders sieht es mit Begriffen aus, die empirische Vorgänge zusammenfassen oder übersichtlich darstellen, wie dies oft in den Geschichtswissenschaften oder auch der Pädagogik geschieht; hier sollte sich der Begriff an die sinnlich fassbaren oder sinnlich nachvollziehbaren Vorgänge anschmiegen und seien diese so umfangreich und entfernt wie der dreißigjährige Krieg
(zu Seite 29)

[6]
Das mythische Denken pflegen: also Mittel zu verwenden, die nicht wissenschaftlich sind (Essay bei Adorno, Figur bei Barthes)
Eine Art intellektueller Bastelei: sich mithilfe von Mitteln ausdrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl viel umfassend, begrenzt bleibt
(Seite 29)

[7]
Der Bastler bezieht sich auf die Ebene der Operationen, das heißt dem, was seinem Handeln im Moment zu Dienst ist, während der Wissenschaftler vor allem auf die geordnete Beziehung zwischen Handlung und Tätigkeit achtet
(zu Seite 30)

[8]
Anders gewendet: der Bastler assimiliert an die Handlungen, was er in der Welt vorfindet; der Wissenschaftler assimiliert die Handlungen an die Tätigkeit und bereitet dafür die Operationen auf …
Lévi-Strauss sagt auch: die Welt des Bastlers ist heterogenen, weil sie zu keinem Augenblick in Beziehung zum Projekt stünde
(zu Seite 30)

[9]
Der Lehrer als Sammler und Bastler …

[10]
Zeichen als Vermittler zwischen Bild und Begriff, d.h. Lévi-Strauss bezeichnet das Zeichen als Relation zwischen Signifikant und Signifikat: das, was üblicherweise als Relation des Zeichens bezeichnet wird.
(Seite 31)

[11]
Der Journalismus befindet sich im Zustand der Bastelei; in der Kürze, die im Internet vorherrscht, sind gute Begriffsbildungen kaum möglich, oft gar nicht erwünscht.
(Zu Seite 31)

[12]
Der Wissenschaftler trennt die Phasen des Rubikon-Modells klarer, während der Bastler zwischen Planen und Handeln oftmals hin- und herspringt …
(zu Seite 31)

[13]
Wenn man zwischen dem Planen und dem Handeln hin- und herspringt, ist man noch dabei, die Parataxen zu zerbrechen und nach den guten Begriffen, d.h. Konzepten, die auf prädikativen Sätzen beruhen, zu suchen.
(zu Seite 31)

[14]
Man müsste in dieses Konzept der Bastelei auch noch die Wertung von Zwischenergebnissen mit einbeziehen, d.h. dem Bastler erscheinen die Phasen des Rubikon-Modells in den Teilschritten, während der Wissenschaftler diese auf die Gesamtphase anwendet.
(Zu Seite 31)

[15]
Der Bastler hangelt sich von Zwischenergebnis zu Zwischenergebnis.
(Zu Seite 31)

[16]
Der Bastler tritt in einen "Dialog" mit den Dingen, der Wissenschaftler weiß, was die Dinge sind (d.h. der Bastler ist noch immer dabei, die Identität der Dinge herzustellen, die er verwendet, während der Wissenschaftler diese bereits kennt und mit ihnen rechnet).
(Zu Seite 31)

[17]
Auch der unerfahrene Schriftsteller klebt seine Geschichte aneinander.
(Zu Seite 31)

[18]
Dem Bastler entstehen seine Materialien aus der Geschichte der Assoziationen, die er mit diesem oder jenem gemacht hat (Primat der Geschichte über die Logik).
(Zu Seite 31)

[19]
Der Bastler erscheint heute immer noch bei der Gestaltung sozialer Beziehungen.
(Zu Seite 31)

[20]
Wir befinden uns in der Schule immer noch im Zustand der Bastelei.
(in der Pädagogik gibt es keine "Wissenschaft"; sie basiert auf legitimierten Mythen und macht sie deshalb für Mythen so anfällig)
(zu Seite 31)

[21]
Der Ingenieur schafft Möglichkeiten oder kann sie sich vorstellen, auch wenn sie ihm nicht zur Verfügung stehen; der Bastler ahnt diese Möglichkeiten nur.
(Zu Seite 31)

[22]
Die Bastelei spricht mittels der Dinge; sie ist immer auch Ausdruck.
Die Wissenschaft und das Ingenieurtum ist vor allem Funktionalität: Sie zielt manchmal auf den Ausdruck, wie zum Beispiel in der Architektur, aber sie lässt diesen nicht in den Prozess der Herstellung einfließen.
(Seite 34)

[23]
"Der Bastler legt, ohne sein Projekt jemals auszufüllen, immer etwas von sich hinein."
(Seite 35)

[24]
Man könnte auch vermuten, dass der Bastler zu schnell in den Prozess der Herstellung geht: er ist derjenige, der die herstellende Assimilation über die darstellende setzt, während der Wissenschaftler umgekehrt vorgeht.
(Seite 35)

[25]
"Die Wissenschaft baut sich ganz und gar auf der Unterscheidung zwischen Zufälligem und Notwendigem auf, die gleichzeitig die zwischen Ereignis und Struktur ist."
(Seite 35)

[26]
Lévi-Strauss spricht von der Verkleinerung, meint aber wohl die Abstraktion.
"Welche Kraft verbindet sich also mit der Verkleinerung, mag sie nun den Maßstab oder die Eigenschaften betreffen? Sie resultiert, so scheint es, aus einer Art Umkehrung des Erkenntnisprozesses: wenn wir das wirkliche Objekt in seiner Totalität erkennen wollen, neigen wir immer dazu, von seinen Teilen auszugehen."
(Seite 37)

[27]
Durch die Verkleinerung (Abstraktion) erscheint das Objekt weniger furchterregend.
Das Objekt wird quantitativ vermindert und erscheint dadurch qualitativ vereinfacht! Übergang von Quantität zu Qualität -> dieser ist der Übergang von der Handlung (Weglassen) zur Anschauung (diese Übergang gehorcht vermutlich auch den Gestaltgesetzen …).
(zu Seite 37)

[28]
"diese quantitative Umsetzung steigert und vervielfältigt unsere Macht über das Abbild des Gegenstandes"
(Seite 37)
noch ein wesentlicher Satz: die Abstraktion hat ihre Wurzeln (auch) in der Angst, in dem Zuviel an Information!

[29]
Das Modell ermöglicht, dass die Erkenntnis des Ganzen den Teilen vorausgeht! (Anschauung -> Aebli)
(Seite 37)

[30]
Modell: schließt eine dialektische Beziehung zwischen Quantität und Qualität ein

[31]
(Laut Schopenhauer ist die Quantität ein rein zeitlicher Ausdruck, während die Qualität auf einer Verschränkung von Raum und Zeit beruhe: die Quantität abstrahiert also vom Raum.)

[32]
(Schopenhauer geht mit seinem Werk weit über die kantische Aisthesis hinaus (?))

[33]
(Kants praktische Vernunft und die Bastelei)

[34]
Das Modell etabliert, indem es abstrahiert, Funktionen: man müsste also in jedem Modell herausfinden, welche Formen des Umgangs es im Allgemeinen ermöglicht, auch bei sozialwissenschaftlichen Modellen. Es geht um eine Vervielfältigung.
(zu Seite 37)

[35]
Mit einem neuen Modell verlasse ich mein Denken. Ich muss mit der Wahrnehmung neu experimentieren. (Wittgenstein: im Experiment verlasse ich mein Denken)

[36]
"Welche Kraft verbindet sich also mit der Verkleinerung, mag sie nun den Maßstab oder die Eigenschaften betreffen? Sie resultiert, so scheint es, aus einer Art Umkehrung des Erkenntnisprozesses: wenn wir das wirkliche Objekt in seiner Totalität erkennen wollen, neigen wir immer dazu, von seinen Teilen auszugehen. Der Widerstand, den es uns entgegenstellt, wird überwunden, indem wir uns die Totalität teilen. Die Verkleinerung kehrt diese Situation um: in der Verkleinerung erscheint die Totalität des Objekts weniger furchterregend; aufgrund der Tatsache, dass sie quantitativ vermindert ist, erscheint sie uns qualitativ vereinfacht. Genauer gesagt, diese quantitative Umsetzung steigert und vervielfältigt unsere Macht über das Abbild des Gegenstandes; durch das Abbild kann die Sache erfasst, in der Hand gewogen, mit einem einzigen Blick festgehalten werden."
(Seite 37)

[37]
"Der Widerstand, den es [das Objekt] uns entgegenstellt, wird überwunden, indem wir uns die Totalität teilen." (Seite 37)
Vielmehr machen wir aus dem Widerstand eine Funktion, eine Leistung: die Arbeit am Widerstand erkennt nicht nur Phänomene, Strukturen am Objekt, sondern zerbricht auch die ersten, meist primitiven Operationsketten, funktionalisiert sie und bindet so das Objekt anders in die Welt ein.
Nichts anderes meine ich, wenn ich sage, dass man aus den Störungen Leistungen machen soll.

[38]
"Im Gegensatz zu dem, was sich ereignet, wenn wir eine Sache oder ein Wesen in seiner wirklichen Größe zu erkennen suchen, geht im verkleinerten Modell die Erkenntnis des Ganzen der der Teile voraus. Und selbst wenn das eine Illusion ist, liegt der Sinn dieses Vorgangs darin, diese Illusion zu schaffen oder aufrechtzuerhalten, die sowohl dem Verstand wie den Sinnen ein Vergnügen bietet, das schon auf dieser Basis allein ästhetisch genannt werden kann." (Seite 37)


20.11.2009

Claude Lévi-Strauss III

»Der Begriff der ›Struktur‹ ist vermutlich nichts weiter als ein Zugeständnis an die Mode: ein Begriff mit klar umrissenem Sinn übt plötzlich für ein Dutzend Jahre eine einzigartige Anziehungskraft aus - so wie das Wort ›Aerodynamik‹: man fängt an, es zu verwenden, ob es passt oder nicht, nur weil es angenehm klingt. Ohne Zweifel kann eine typische Persönlichkeit unter dem Gesichtspunkt ihrer Struktur betrachtet werden. Aber man verwendet den Ausdruck auch für einen physiologischen Befund, für einen Orga­nismus, für irgendeine beliebige Gesellschaft oder Kultur, für einen Kristall oder eine Maschine. Alles mögliche - sofern es nicht völlig amorph ist - besitzt eine Struktur. Daher scheint es, als füge der Begriff ›Struktur‹, wenn wir ihn verwenden, dem, was wir in unserer Vorstellung haben, absolut nichts hinzu, außer einem angenehmen Kitzel.«
Kroeber, zitiert bei Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie I, S. 300

17.11.2009

Claude Lévi-Strauss II

Die  von  uns  zitierten  Beispiele  zeigen, wie  vergeblich es ist, eine Prioritätsbeziehung zwischen den Speiseverboten und den Vorschriften der Exogamie festlegen zu wollen. Die Verbindung zwischen beiden ist nicht kausal, sondern metaphorisch. Sexuelle Beziehung und Nahrungsbeziehung werden unmittelbar als ähnliche gedacht, auch heute noch: um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur an Argot-Ausdrücke zu erinnern wie etwa »faire frire« oder »passer à la casserole« usw. Aber welches ist der Grund für diese Tatsache und für ihre Universalität?
Auch hier bedingt der Gewinn auf logischer Ebene einen Verlust auf semantischer: der »kleinste« gemeinsame Nenner für die Vereinigung der Geschlechter und die von Essendem und Gegessenem ist, dass beide eine Verbindung durch Komplementarität eingehen:
Was sich nicht bewegen kann, dient den Wesen, die sich fortbewegen können, als Nahrung; die Tiere ohne Reißzahn dienen den Tieren mit Reißzahn als Nahrung, die ohne Greifwerkzeuge denen mit Greifwerkzeugen, und der Zaghafte wird vom Mutigen gefressen. (The Laws of Manu, V, 30)
Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken


12.11.2009

Schamanismus heute

Die Omaha-Indianer sehen einen der Hauptunterschiede zwischen den Weißen und sich selbst darin, daß »die Indianer keine Blumen pflücken«, das heißt: aus reinem Vergnügen; in der Tat, »die Pflanzen haben sakrale Verwendungen, die nur den Meistern der Geheimgesellschaften bekannt sind«. Selbst das Seifenkraut (»soapweed«), das jeder für das Dampfbad verwendet, um Zahn- und Ohrenschmerzen oder Rheumatismus zu heilen, pflückte man, als wäre es eine heilige Wurzel:
... In das Loch, das die Wurzel hinterlassen hatte, legte man eine Prise Tabak, zuweilen auch ein Messer oder Geldstücke, und der Sammler sagte ein kurzes Gebet: Ich habe genommen, was du mir gegeben hast, und ich lasse dir dafür dieses. Ich wünsche mir ein langes Leben und dass mir und den Meinen nichts zustößt.
Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, S. 57

Heute nachmittag versuchte ich der Kassiererin bei ALDI das Geld für meinen Einkauf in die Hand zu drücken, indem ich sagte, ich befriede den postmodernen Geist des Supermarkts. Daraufhin weissagte mir die holde Dame, dass ich immer verrückter werde.
Tja!


03.11.2009

Claude Lévi-Strauss I

Nun ist wohl auch der letzte der großen Strukturalisten tot, 100jährig wurde er, Claude Lévi-Strauss. Er war einer der ersten in der Riege einer Reihe von großen Wissenschaftlern, die mit dem unachtsamen Wort 'Strukturalist' belegt wurden.

Der Strukturalismus wurde von so illustren Namen mitgetragen wie Jacques Lacan, Roland Barthes, Michel Foucault, Louis Althusser, Jacques Derrida. Man kann weitere Autoren dazuzählen, den frühen Gilles Deleuze, Pierre Bourdieu, Julia Kristeva. Und doch keinen so richtig. Sagte nicht Jean Piaget, Foucault pflege einen Strukturalismus ohne Strukturen? Hatte nicht Barthes zu Zeiten, als der Strukturalismus 'en vogue' war, schon sein 'Le Plaisir du texte' geschrieben, die 'écriture courte' proklamiert?

Und überhaupt: war nicht auch Luhmann Strukturalist? Nein, sagt er, indem er den Kronzeugen des Strukturalismus, Claude Lévi-Strauss, verhört und ablehnt, siehe Soziale Systeme, S. 377-380.
Trotzdem gibt es doch einige recht faszinierende Ähnlichkeiten. Luhmann stützt sich auf das Kalkül von George Spencer Brown. Dieses lautet, in seiner ersten Anweisung: Triff eine Unterscheidung und markiere die eine Seite. Will man sich das plastisch vor Augen führen, dann trifft man zum Beispiel die Unterscheidung zwischen den Tischen und dem Rest der Welt (Jupiter-Monde und Apfeltörtchen) und gibt den Tischen den Namen Tisch. Damit ist die eine Seite durch den Namen markiert und auf der anderen Seite passiert alles übrige. So reduziert gesehen ist das Kalkül natürlich langweilig. Wir benutzen andauernd solche Unterscheidungen und verbinden diese zu den komplexen Formen, die uns das alltägliche Leben möglich machen.
Das Kalkül trifft nun in seiner 'Willkürlichkeit' auf das, was Lévi-Strauss über den Inzest schrieb:

La prohibition de l'inceste, comme l'exogamie qui est son expansion sociale élargie, est une règle de réciprocité. [...] Le contenu de la prohibition de l'inceste n'est pas épuisé dans le fait de la prohibition : celle-ci n'est instaurée que pour garantir et fonder, directement ou indirectement, immédiatement ou médiatement, un échange.
Lévi-Strauss, Claude: Les Structures élémentaires de la parenté, p. 64s.
Und genau so ermöglicht Browns 'distinction' nicht nur ein 'marking' (das Bezeichnen der einen Seite), sondern ein 'crossing' (das Überschreiten der Unterscheidung).
Der Witz also ist sowohl beim mathematischen Kalkül des 'draw a distinction' als auch beim Lévi-Strauss'schen Inzestverbot, dass beide nicht reflexiv, sondern produktiv wirken. Das Inzestverbot hat den Inzest nicht verboten, aber es hat den Tauschhandel mit (Ehe-)Frauen ermöglicht.
Ganz in diesem Sinne ist die Macht bei Foucault nicht etwas, das bereits Bestehendes vernichtet (oder unterdrückt), sondern im Gegenteil produktiv. Die Psychoanalyse hat nicht ein unterdrücktes Unbewusstes entdeckt, müsste man sagen, sondern im Gegenteil eine neue Apparatur entwickelt, das Bewusstsein produktiv zu umgarnen (wie luzide anders Foucault damit umgeht, als manche Foucaultianer denken, mag man aus der längeren Passage zur Parapathologie ersehen, die ich hier zitiert habe).


Warum ich all das schreibe? Nun, nicht nur als Nachruf, sondern auch als Kommentar auf einen Nachruf, der von Daniel Haas auf Spiegel-Online erschien.
Dort sagt Haas, Lévi-Strauss "nutze" die Psychoanalyse und die Linguistik für eine "neue Wissenschaft". So kurz diese Aussage ist, so problematisch ist sie. Der Psychoanalyse hat Lévi-Strauss meines Wissens zeitlebens distanziert gegenüber gestanden. Und das nicht trotz seiner Freundschaft zu Jacques Lacan (von dem man sagt, er habe die strukturalistische Psychoanalyse 'erfunden'), sondern gerade wegen dieser Freundschaft.
Zudem ist der Strukturalismus kaum als Wissenschaft, sondern eher als Methode zu bezeichnen. Im Laufe seines Aufstiegs hat diese Methode zahlreiche Disziplinen befruchtet. Aber sie ist für sich selbst nichts abgegrenztes.
Daniel Haas schreibt weiter, Lévi-Strauss wendete dieses Verfahren erstmalig auf die Tropen an. Doch erstens erschien sechs Jahre vor dem Buch Traurige Tropen (Tristes tropiques) das eigentlich strukturalistische Buch Lévi-Strauss' - Les Structures élémentaires de la parenté. Keineswegs untersucht Lévi-Strauss hier "die" Tropen, sondern sog. 'primitive Völker' und die Regeln der Verwandtschaft, bzw. des Frauentausches. Zweitens kann man kaum ein Buch von Lévi-Strauss weniger strukturalistisch nennen als Traurige Tropen, ist dieses doch viel eher Reisebericht, Kulturkritik als alle anderen Bücher von ihm. Es beginnt mit den Worten

Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende. Trotzdem stehe ich im Begriff, über meine Expeditionen zu berichten.
Auch biographisch ist Haas unsicher. Lévi-Strauss flüchtete zwar 1941 in die USA, nachdem die Vichy-Regierung 1940 ihre Rassengesetze erlassen hatte, doch schon 1944 kehrte er auf Bitten des französischen Außenministeriums zurück und war 1946-47 Kulturattaché der französischen Botschaft in den Vereinigten Staaten.
Schließlich, um ein letztes zu zitieren, in dem Haas deutlich schludrig vorgegangen ist. Das Totem, so sagt Haas, stehe in der Beziehung einer Differenz zu anderen Totems. Es habe keine metaphysische Orientierung. Nun behauptet Lévi-Strauss aber nicht, dass das Totem keine metaphysische Orientierung habe. Dies zu bezweifeln hieße, die ganze schamanistische Religion zu leugnen. Lévi-Strauss hat hier nur eine wesentlich andere Orientierung gesehen, was das Totem für den Wissenschaftler ist. Wie er in seinem Hauptwerk Mythologica untersucht, sind soziale Phänomene wesentlich eingebunden in zahlreiche Differenzen und Serien (grundlegend dafür aber: Das wilde Denken, S. 258ff.). Tatsächlich etablieren Totems eine Differenz, die deshalb 'funktioniert', weil sie gleichwertig ist und nicht verwechselt werden kann. Die Totems zweier Clans lassen sich nicht hierarchisch oder mimetisch anordnen. Damit steht die Struktur in gewisser Weise 'über' der metaphysischen Orientierung. Trotzdem glauben totemistische Gesellschaften nicht an die Differenz.
Wenn Haas schreibt:

Mit der Wahl eines bestimmten Totemtiers wolle eine Gemeinschaft vor allem Differenz herstellen zu anderen Gemeinschaften.
dann ist dem entgegenzuhalten, dass eine totemistische Gemeinschaft sich gerade nicht an dieses Differenz ausprobiert hat, um sich zu unterscheiden, dass aber der Effekt natürlich ein Effekt der Unterscheidung ist. 'Draw a distinction' eben.