30.01.2022

Ideologie

Ideologie ist zu einem abwertenden Begriff geworden, meist auch nur noch zu einer ausschließenden Floskel, die man dem Gegner vorwirft. Ursprünglich bedeutet Ideologie die Lehre von den Ideen. Ideen sind neben den Begriffen und den Urteilen Bestandteile des Bewusstseins. Begriffe werden durch Abstraktion vom Sinnlichen gewonnen. Sie haben immer einen sinnlichen Gehalt. Urteile verknüpfen das Allgemeine mit dem Besonderen, bzw. den Begriff mit der Anschauung. Ideen dagegen können nicht durch Abstraktion gewonnen werden; sie verwirklichen sich in Beispielen.

Vernunft

Laut Kant ist es die Vernunft, die die Ideen erschafft. Die Vernunft ist noch nichts besonderes, das einzelne Menschen mehr oder weniger auszeichnet (so jedenfalls im alten Gebrauch, nicht, wie heute die Vernunft willkürlich einem Menschen zu- oder abgesprochen wird). Sie ist jedem Menschen eigen; man kann aber die Vernunft gut oder schlecht, d. i. die Ideen gut oder schlecht gebrauchen.

Ausdruck

Die Idee lasse sich nur durch Beispiele ausdrücken; sie zeigt sich, wie sich ein Naturgesetz zeigt. Der Apfel fällt nicht vom Baum, weil ihn die Schwerkraft dazu veranlasst, sondern im Fallen des Apfels drückt sich die Schwerkraft aus. Und so verursacht eine Idee nicht ein bestimmtes Phänomen oder eine Situation, sondern diese drückt sich darin aus: Sie artikuliert und verwirklicht sich darin. Weil sie sich darin verwirklicht, weil sie immer wieder neu in anderen Situationen verwirklicht werden kann, ist die Idee unendlich. Weder weil sie angeboren, noch weil sie göttlich ist, ist eine Idee unendlich; hier widerspricht Kant älteren Ideenlehre.

Die konsequente Denkungsart

Die Vernunft, und somit die Ideen gut zu gebrauchen, weist Kant der dritten Denkungsart zu, die er konsequente Denkungsart nennt. Sie beruht auf den beiden anderen Denkungsarten, der vorurteilsfreien Denkungsart, d. i. die Denkungsart des Verstandes und der Begriffe, der erweiterten Denkungsart, d. i. die Denkungsart der Urteilskraft und der Urteile; und diese
»kann auch nur durch die Verbindung beider ersten, und nach einer zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung desselben, erreicht werden.« (KU A 158)
Konsequent bedeutet bei Kant nun gründlich und fest, sich nämlich nicht mit dem ersten Augenschein begnügen zu lassen, und auch nicht mit dem ersten Beispiel. Gründlichkeit meint, sich jedes Beispiel (exemplum) aufs genaueste anzuschauen; da sich die Idee nämlich nur im Material ausdrückt, nicht aber selbst als materielles Element darin enthalten ist, bedarf es der Auslegung, d. i. der Erläuterung, warum dieses oder jenes Beispiel eine Idee gut oder schlecht oder auf halbem Wege ausdrückt. Diese Darstellung (Hypotypose) ist, wenn sie sich auf Ideen bezieht, analogisch, also durch eine Verhältnisgleichheit, nicht also dem Inhalte nach.

Das Exemplum

Wenn Kant den Verstand im Verhältnis zu Sinnlichkeit mit einer Taube vergleicht, die im luftleeren Raum nicht fliegen könne, da ihr der Widerstand unter den Flügeln fehle, so will er nicht damit sagen, dass der Verstand wie eine Taube sei, sondern dass die Sinnlichkeit auf der einen Seite im Verstande widersteht, ihm auf der anderen Seite aber erst zum Aufschwung verhelfe.
So plastisch dieses Beispiel auch ist, so irreführend ist es: Ideen verwirklichen sich nicht nur ausnahmsweise, sondern immer; sie sind ein integraler Bestandteil des Denkens – und insofern ist die Ideologie gar nicht politisch gemeint, sondern schlichtweg ein Teil der Selbstaufklärung und des guten Gebrauches seines Denkens. Die Vernunft allerdings erzeugt und reproduziert die Ideen spontan; Spontanität: d. i. bei Kant die Aktivität des Bewusstseins, die immer schon vor dem Bewusstwerden geschieht, also nur im Nachhinein bewusst gefasst werden kann; insofern bleibt vieles im Bewusstsein vorbewusst, nicht reflektiert. So ist es auch mit den Ideen. Sich über sich selbst aufzuklären heißt damit auch, sich seiner Ideen und ihres Gebrauches bewusst zu werden.

Tugenden

Mit Einschränkung ersetzen hier die Ideen die antike Tugendlehre: war diese noch stärker von äußeren Handlungen geprägt, d. h. zum Teil ritualisiert, wird bei Kant jede Handlung den Ideen gemäß prüfbar und der Prüfung verpflichtend. Dies ist aber zunächst eine Prüfung des eigenen Denkens, also eine Aufgabe der Selbstdisziplin. Die Tugend zeigt sich damit als gründlich durchdacht und in ihrer Ausführung fest.
Dies ist dann auch der Umgang mit Ideen: Gründlichkeit und Festigkeit.

Gründlichkeit

Gründlichkeit meint, nicht nur eine, sondern viele Erscheinungen und Situationen nach einer Idee zu durchdenken und ihre Verwirklichung wertzuschätzen. Festigkeit dagegen ist weniger eine Hartnäckigkeit, aus der leicht eine Hartherzigkeit werden mag, sondern sich weder durch Widerstände noch durch die eigene Bequemlichkeit von der Interpretation der Phänomene abbringen lassen; man mag das so verstehen, dass dies zunächst ein schonungsloser Blick auf sich selbst und den eigenen Gebrauch der Ideen sei.
Nun gibt es zwei Formen der Gründlichkeit. Da jegliche Situation, jegliches Verhalten eine Idee nur ausdrückt, dies aber nie in materieller Form, lässt sich auch jede Situation oder Verhalten nach verschiedenen Ideen durchmessen. So ist die eine Form der Gründlichkeit, eine Idee auf vieles und Verschiedenes anzuwenden; die andere aber, viele Ideen auf das eine und gleiche als Maßstab zu legen. Dass dies nicht ungewöhnlich ist, sondern etwas alltägliches, sieht man überall dort, wo Menschen durch den menschlichen Verkehr in Konflikt miteinander geraten. Doch der Konflikt ist schon etwas Sekundäres; die eigentliche Anwendung der Ideen auf ein Phänomen mag auseinanderstrebend oder zusammenführend verlaufen, ist aber von einem Vorrang oder einem Machtinteresse befreit. So mag man die Waldstein-Sonate Beethovens nach ihrer Schönheit oder nach ihrer musikgeschichtlichen Bedeutung beurteilen; die Ergebnisse müssen sich nicht notwendig ausschließen, ja noch nicht einmal für einander eine große Bedeutung haben – was man an all den Musikstücken sieht, die Menschen zwar als schön empfinden, die für die Musikgeschichte aber eine unbedeutende Rolle spielen.
Trotzdem gebührt die Betrachtung mehrerer Ideen am gleichen Sachverhalt insofern ein Vorrang, als sich hier nicht einfach nur das Maß der Verwirklichung diskutieren lässt, sondern die Ideen einander beeinflussen, kooperieren oder im Widerstreit stehen. Auch wo der Mensch sich nur auf eine einzelne Idee beruft, setzt er diese als absolut, d. i. eine fixe Idee.

Das Trügerische der Ideen

Insofern bleibt die Reflexion auf die Ideen auf doppelte Weise schwierig; sie ist, ihren Verwirklichungen nach, unendlich, diesem Zusammenhang nach, also ihrer empirischen Erscheinung nach, trügerisch, scheinhaft. Denn die Aussagen der Empirie führen immer nur zu Begriffen, die durch Abstraktion gewonnen sind, nicht zu Ideen, die durch Analogie erschlossen werden können. Hier spielt auch mit hinein, dass die Analogie ein schwacher und missbräuchlicher Schluss ist, also gerade nicht der Strenge eines rationalen Denkens zuträglich und deshalb der besonders strengen Beobachtung nötig.

Der schlechte Gebrauch der Ideen

Den schlechten Gebrauch der Ideen kann man wie folgt einteilen: durch unklare, monotone oder falsche Ideen. Die unklaren sind jene, die man nicht gründlich diskutiert, die monotonen jene, die man nicht in ein Wechselspiel mit anderen Ideen gesetzt hat. Von den falschen Ideen gibt es zweierlei; die ersten beruhen auf der empirischen Verwechslung. Ein schönes Bild drückt zwar die Schönheit aus, ist aber nicht die Idee selbst, so wie ein Verhalten aus Nächstenliebe noch nicht die Idee der Nächstenliebe selbst ist. Diese Verwechslung ist allerdings von minderem Schaden, solange sie sich in der Wirklichkeit als solche nützlich erweist.

Die theologische Verwechslung

Die andere beruht auf der theologischen Verwechslung; so sind Weltbilder, seien diese christlich, muslimisch oder säkularisiert, keineswegs Ideen, sondern Ideenspender. Wie sich das Christentum durchaus in sehr unterschiedlichen Ideen zeigt, zum Teil auch widersprüchlichen, so kann generell den Weltbildern keine Einheitlichkeit zugesprochen werden, da diese in der Benennung nur zusammenfassend, nicht aber definierend sind. Dies gilt für fast alle Ismen, sei es die Nationalismen, der Feminismus oder der Kommunismus. Wer also Gebrauch von diesen Weltbildern macht, hat wenig gesagt, wenn er nicht die Ideen benennt, die er sich daraus entnimmt.

Innere Freiheit

Freiheit nimmt unter den Ideen eine besondere Stellung ein. Zwar muss man bei Kant zwischen einer äußeren und einer inneren Freiheit unterscheiden, und gemeint ist hier nur die innere, d. i. intellektuale Freiheit, doch ist diese die Voraussetzung für die äußere, d. i. gesellige.
Freiheit sei a priori und die einzige Idee, die a priori sei. Um etwas konsequent zu durchdenken, muss ich dies wollen. Um etwas zu wollen, muss ich wählen können; dazu aber brauche ich die Freiheit (die innere, wohl gemerkt). Die Freiheit ist damit die Bedingung der Ideen und damit die einzige Idee, die nicht in Konkurrenz oder Kooperation mit anderen Ideen besteht, sondern die Bedingung ihrer freien, d. i. gewählten Anwendung.
Aber die Freiheit kann nur dann geklärt werden, wenn 1.) Ideen konsequent, d. i. gründlich und hartnäckig bedacht werden, und 2.) die Ideen sich aneinander gegenseitig beschränken und einschärfen. Nimmt man das erstere nicht ernst, so nutzt man seinen Willen nur auf schwache Weise, d. h. man bricht ab, bevor man die fiktionale Totalität der Idee erreicht hat, und bleibt inkonsequent; und im zweiten setzt man die eine Idee, die man gewählt hat, an die Stelle der Freiheit und wird damit unfrei.
Die beiden Tendenzen sind widerstrebig: einmal die fiktive Ganzheit der Idee, die nie erreicht und nie zu Ende gedacht werden kann, und einmal die „Absolutheit“ der Idee, die nur existieren kann, wenn sie sich von anderen konsequenten Denkweisen, also anderen Ideen absetzt.

Kritik

Kritik ist die Verneinung am Leitfaden einer Idee; hier zuvorgegangen sein muss die gute Einübung, die gründliche Diskussion. Da immer eine Mehrzahl an Ideen auf ein Phänomen anwendbar sind, ist auch die Kritik mehrfach; so wie sich die Ideen in ihrem positiven Gebrauch nicht ausschließen, so schließen Kritiken einander nicht aus, gleichwohl sie sich gegenseitig erhellen können. Verneinung bedeutet, dass ein Sachverhalt eine Idee schlecht oder gar nicht verwirklicht; sie ist von der empirische Verneinung abzugrenzen, die besagt, dass ein Sachverhalt nicht vorliegt oder zwei Sachverhalte zueinander anders stehen, als bisher angenommen. Von Interesse sind solche ideellen Verneinungen, also Kritiken, allerdings erst, wenn sie zugleich eine Klärung ermöglichen, d. i. sie vergleichend, begründet, gründlich und umsichtig sind.

Schluss

Diese Zusammenstellung ist als Übersicht gedacht. Sie ist dogmatisch formuliert, um sie knapp zu halten; aber auch, weil ein wesentlicher Teil ihrer Begründung auf eine umfassendere Darstellung Kants referieren müsste, insbesondere auf die sehr hintersinnige Verbindung der Begriffe und der Ideen (die Kant auch Verstandes- und Vernunftbegriffe nennt, weil die empirischen Begriffe dem Verstand, die ideellen Begriffe oder Ideen der Vernunft zugehören).

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