Ich mäandere hier ein wenig zu dem Thema Gewalt. Seit Peter Fuchs dies in der Luhmann-Liste im Zusammenhang mit Narrationen erwähnte, und seit ich vom Carl-Auer-Verlag das Buch Autorität und Gewaltprävention rezensiert habe, ist das Thema wieder in den Vordergrund meiner Aufmerksamkeit gerückt. - Hier ein kleines Stück Analyse mit systemtheoretischen Operationen.
Un-/Auffälligkeiten
Bedenkt man die Berichte der Zeitungen, dann war der Täter von Winnenden, ein Tim K., vorher unauffällig, nachher auffällig. Was ist Auffälligkeit?
Adressierbarkeit
Grob gesagt ist Auffälligkeit Adressierbarkeit (P. Fuchs), das heißt, wie ein Mensch (oder ein System) in der Gesellschaft angesprochen oder erreicht werden kann. Menschen werden entweder direkt angesprochen oder es wird über sie gesprochen. Wenn ich mit meiner Nachbarin rede, lasse ich ihr eine gewisse Möglichkeit, sich zu meiner Kommunikation einzustellen. Wenn ich mit jemand anderem über meine Nachbarin rede, überlasse ich einem anderen diese Wahl, nicht aber meiner Nachbarin selbst.
Wir haben es hier mit zwei verschiedenen Formen der Selektion zu tun. Diese Selektion setzt sich auf die grundlegende Selektion in der Kommunikation - folgt man Luhmann -, der von Mitteilung und Information.
Zwei-/Drei-Differenzen-Schema der Kommunikation
Kommunikation ist ein Zwei-/Drei-Differenzen-Schema. Ein Zwei-Differenzen-Schema ist Kommunikation, weil man die Wahl zwischen Information oder Mitteilung hat und weil man wählen muss. Dabei ist die Information eine Unterscheidung in der Welt (zum Beispiel, dass ich über Amok/Auffälligkeit spreche und nicht über Tischdekorationen/Auffälligkeit), während Mitteilung ein Ausdruck der Eigendynamik eines komplexen Systems ist (in diesem Fall bin ich, der Autor, das komplexe System).
Das Zwei-Differenzen-Schema aus Information/Mitteilung (oder Weltunterscheidung/Eigenselektion) geht aber zugleich in ein Drei-Differenzen-Schema über, dem zwischen Information/Mitteilung/Selektion von Information oder Mitteilung. Da man wählen muss, da man gezwungen ist zu wählen, ist die dritte Differenz zugleich die Einheit des ganzen Schemas. Die Selektion ist die Einheit einer Unterscheidung in der Entscheidung für die eine oder andere Seite. Luhmann nennt diese Einheit auch Verstehen.
Zumutungen/Krisen
Wenn ich mit jemandem kommuniziere, mute ich ihm und er mir dieses Unterscheiden massenhaft zu, aber auf einem Niveau, dass ich es kaum noch merke. Die Kommunikation kommuniziert sich praktisch von alleine.
Erst krisenhafte Zuspitzungen steigen dann zu dem Problem hinab, ob der Andere mir etwas mitteilen oder mich informieren wollte.
Interaktion
Adressabilität stützt sich zum Beispiel auf Personen. Indem ich mit und über Personen spreche, adressiere ich sie in der einen oder anderen Weise. Personen sind Kompaktzumutungen an Attributen, bzw. Eigenschaften. Harald Schmitt ist hintersinnig und Oliver Pocher doof. So rasch geht das.
Der Amokläufer von Winnenden nun kippt anhand einer zeitlichen Differenz - vor/nach dem Amoklauf - von einer Wenig-Adressabilität in eine Viel-Adressabilität. Vorher war er ruhig und unauffällig, hinterher wird dieses und jenes gesagt und das massenweise. Er ist, sozusagen, in aller Munde.
Man kann von einer interpenetrativen Kommunikation sprechen, wenn ich jemanden direkt anspreche. Diese Form, die Interaktion, stützt sich auf die Unterscheidung anwesend/abwesend. Interpenetrative Kommunikation läuft massenweise in der Gesellschaft ab, nicht ganz so massenweise bei einzelnen Personen. Tim K. scheint, so wird in den Medien berichtet, wenig in solche Interaktionen eingebunden gewesen zu sein.
Kollaps und Wuchern der Adressierbarkeit
Der Amoklauf (insofern man von einem Amoklauf reden kann) hat in der Kommunikation folgendes bewirkt: zunächst wird die Interaktion von Tim K. mit anderen Personen durch eine gewalttätige Lösung radikal gestoppt. Mit Toten, salopp gesagt, kann man nicht sprechen. Dafür aber wuchert eine ganz andere Kommunikation, die massenmediale, die hier zugleich Informationen gibt ("Tim K.: Gewaltspiele auf dem Computer"), als auch über Mitteilungen informiert ("Tim K.: ein isolierter Junge?").
Massenmediale Aufmerksamkeit setzt sich hier gleichsam auf die personale Aufmerksamkeit drauf, und zwar in einer Art und Weise, dass die Aufmerksamkeit für die Massenmedien als Mitteilungsmittel entmutigt wird, die Aufmerksamkeit für die Massenmedien als Informationsmittel dagegen gefördert wird. Die Selektion in den Massenmedien - also die Seite ihrer Mitteilung, ihrer Eigenselektivität - muss mühsam (d.h. intellektuell) erzwungen werden; sie ist zunächst latent.
Eigen-/Fremdkomplexität und das Nadelöhr der Mitteilung
Während man bei Tim K. also von einem Kollaps der Adressierbarkeit ausgehen kann, und zwar sowohl in eigener Hinsicht, als auch in Hinblick auf andere: er wollte, aber das ist natürlich auch nur eine Aussage aus den Massenmedien, möglichst viele Menschen töten. Nimmt man diese Aussage als wahr, dann ist die Fremdtötung schon vorher ein Zusammenbrechen der Form Person auf ein Minimum an Attributen, also ein radikales Ausdünnen des Blicks auf den anderen. Das Was? der Adressierbarkeit verknappt sich auf die Unterscheidung lebendig/tot und das Wie? der Adressierbarkeit auf töten/nicht-töten.
Gewalt - so hat es den Anschein - ist ein Zusammenbruch von Eigenkomplexität und Fremdkomplexität. Eigenkomplexität, noch einmal, ist bezogen auf ein Mitteilen-Können. Mitteilen-Können setzt Wahlmöglichkeiten voraus, was man mitteilen möchte. Und in der Kommunikation setzt dies voraus, dass man einer Person zumutet, in ihren Mitteilungen selektiv vorzugehen, weil sie mehr mitteilen könnte, sich aber in diesem Moment für etwas entscheiden muss, bzw. zeitliche, sachliche und soziale Vorgaben die Komplexität der Mitteilung beschränken. Jede Eigenkomplexität geht durch das Nadelöhr der Mitteilung.
Fremdkomplexität, die Komplexität eines Anderen, geht ebenso durch ein solches Nadelöhr. Sich ein Bild von einem anderen Menschen aufzubauen, seine Kommunikation also als interne Vorlieben, als Seele und Geist zu interpretieren, führt natürlich nicht zur Wirklichkeit. Wirklichkeit, reales Bild ist kein Begriff, mit dem man heute noch diskutieren kann. Das einzige, was hier tauglich ist, ist das mehr oder weniger an Differenzierung. Damit sind wir wieder bei dem Aufbau/Abbau, und dem Zusammenbruch von Eigenkomplexität, diesmal in Form der Eigenkomplexität des Anderen.
Strategien
Dass Fremd- und Eigenkomplexität das Nadelöhr der Mitteilung bedürfen, führt zu Strukturerfordernissen, die hinreichend komplexe Entscheidungen ermöglichen. Üblicherweise spricht man hier von Metakommunikation (was ist passiert, als wir so und dass wir so miteinander geredet haben?) und Soft-Skills (wie kann ich entscheiden, wo Entscheidungen aufgrund der Eigen-/Fremdkomplexität riskant sind?).
Die Metakommunikation inszeniert eine Art re-entry des Verstehens ins Verstehen. Die Unterscheidung Information/Mitteilung wird normalerweise nicht kommuniziert, sondern nur prozessiert: ich fasse etwas als Information oder Mitteilung auf, aber ich rede über dieses Auffassen nicht, sondern tue es und setze es beim Anderen als Horizont meiner Wahl voraus.
In Bezug auf das Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun habe ich von einer Rück-Qualifizierung gesprochen. Was ich beim anderen zu hören meine, setze ich für meine eigene Kommunikation voraus. Wenn Peter sagt: "Du siehst heute aber blendend aus!" und ich sage: "Veralbern kann ich mich selbst.", dann fasse ich Peters Aussage nicht als Information, sondern als Mitteilung auf. Ich rück-qualifiziere seine Aussage als Mitteilung. Wenn Peter jetzt empört sagt: "Du hast ja eine Laune heute! Ich sage nur, was ich denke.", dann ist klar, dass er seine Aussage als Information gesehen hat, während er nun seinerseits meine Aussage als Mitteilung, als inneres Selektionsverhalten auffasst, nämlich als schlechte Laune.
Metakommunikation qualifiziert nun nicht nur in direktem Anschluss, sondern auch die Episoden davor. Statt einfach weiter zu prozessieren, und die Kommunikation ihrem gewohnheitsmäßigen Lauf zu überlassen, werden jetzt Krisen herauspointiert, werden Konflikte zusammengefasst und zugespitzt, wird Verstehen als Nicht-Verstehen verstanden.
Soft-Skills dagegen behandeln so etwas wie strategisches Wissen um kommunikative Prozesse. Dazu gehört Metakommunikation. In dem strategischen Wissen ist aber zugleich mit angelegt, wie man gut in die Zukunft kommt, und es scheint zum selbstgefälligen Ton mancher Soft-skill-Trainer zu gehören, mit ihrem Training zunächst auch glänzende Karrieren zu versprechen.
Jedenfalls nutzen Soft-Skills operative Strukturen, also Methoden, um mit eigener und fremder Komplexität umzugehen. Die Strategien hängen sich wie Parasiten an dem unreflektierten Prozess des miteinander Plapperns und ordnen ihn, ohne dies mitteilen zu müssen. Soft-skills sind also Mitteilungen, die sich nicht mitteilen wollen. Ich entscheide etwas, weil ich als entscheidungsfähig gelten möchte, aber ich teile nur meine Entscheidungen mit, darüber indirekt meine Entscheidungsfähigkeit, aber nicht mehr meinen Geltungsbedarf als entscheidungsfreudiger Mensch.
Führen wir dies zurück auf das Thema Komplexität, dann sind sowohl Metakommunikation als auch Soft-skills Methoden, um kommunikative Prozesse komplex zu halten. Dabei scheinen aber beide nicht direkt auf eigene oder fremde Komplexität zu zielen, sondern auf das Risiko, Adressierbarkeiten zu eindeutig zu halten. Salopper formuliert: ich bin aus mehreren Persönlichkeitsakkumulationen zusammengesetzt - Deleuze könnte hier sagen: Wolf, Frau, Goethe -, und damit du nicht nur eine dieser Akkumulationen ansprichst, spreche ich mit dir strategisch.
Gewalt könnte nun - so stellt es sich für mich zur Zeit da - durch einen Verlust an strategischem Sprechen einhergehen. Eine Person hat keinen Variationsbereich mehr, sie ist nur noch genau dieses, ein Macho, eine Schlampe, eine faule Person. Die Form der Person variiert nicht, sie evoluiert nicht. Die Stagnation der Form Person, dies ist meine nächste These, trennt in der Kommunikation selbst, im Verstehen selbst zu starr zwischen Sicherheiten/Unsicherheiten.
Soziale Entdifferenzierung und mediale Redifferenzierung
Man kann ja nur vermuten, was bei Tim K. passiert ist.
Gewalt auf dieser Ebene hat immer das Problem, dass sie in der Beobachtung von einem Unterangebot an Differenzen (bis hin zur völligen Unwahrnehmbarkeit) zu einem plötzlichen Überangebot umschlägt. Die soziale Entdifferenzierung schlägt in eine temporal schwierig zu handhabende Redifferenzierung um.
Beobachtbar ist auch, dass die Redifferenzierung sowohl eine Medienflut auslöst (Fernsehen, Zeitung, Blogs, Artikel, Interviews, Gesprächsrunden, etc.), als auch eine Flut an Artefakten: Indizien, mit Deleuze gesagt, die das seelische Territorium des Amokläufers abstecken sollen.
Massenmedien
Dabei sollte man auch die Form der Massenmedien beachten. Massenmedien produzieren Sensationen/Skandale. Der Sensation des Amoklaufs folgt der Skandal der sozialen Isolation trotz eines gutbürgerlichen Elternhauses.
Das Hin- und Herswitchen von Tim K. zwischen Sensationsperson (=Täter) und Skandalperson (=Opfer) schafft gerade nicht die Kommunikation als eine strategisch unterfütterte, sondern prozessiert selbst Kompaktzumutungen recht simpler Bauart.
Dass Tim K. sich die Möglichkeiten an einer Teilnahme genommen hat, ändert nichts oder nur wenig an dieser Vorgehensweise der Massenmedien. Auch noch lebenden Personen - siehe Josef F., besser bekannt als "Inzestfall von Amstetten" - zeigen, dass Massenmedien (ob zurecht oder zu unrecht ist eine ganz andere Frage) so funktionieren.
Fabelwesen
Beim Inzestfall von Amstetten passiert nun folgendes: erstens wird Josef F. stark von der Öffentlichkeit abgeschirmt, zweitens lebt seine Tochter mit den Kindern an einem unbekannten Ort. Nicht-Adressierbarkeit. Die Tochter hat unter anderem Spiegel online auf Verletzung der Persönlichkeitsrechte verklagt. Und Spiegel online konstatiert:
Definition des Fabelwesens: das, was nicht direkt adressiert werden kann, was nicht zurückadressiert (das Fabelwesen spricht über Anwälte mit Spiegel online).
Dirk Baecker schreibt:
Auffälligkeit, so definiere ich zum Schluss, ist die massenmediale Form der Person, also die Inszenierbarkeit als Sensation oder Skandal.
Vielleicht greife ich zu weit, wenn ich hier Dirk Baecker's Zitat oben umschreibe und sage, dass Massenmedien Bilder entstehen lassen (durch Emergenz), die dazu taugen, Adressierbarkeiten umzuwandeln. Statt mit Brad Pitt selbst zu sprechen, verschafft ihm die mediale Aufmerksamkeit eine indirekte Adressierbarkeit, indem man sich an Klatschspalten wendet (die sich an den Leser wenden), und hier als parasitärer Mechanismus die parasitären Strategien der Interaktion ersetzen.
Vielleicht ist es ja anstrengend, mit Brad Pitt zusammenzuleben, aber es ist jedenfalls angenehm, über ihn zu lesen.
Un-/Auffälligkeiten
Bedenkt man die Berichte der Zeitungen, dann war der Täter von Winnenden, ein Tim K., vorher unauffällig, nachher auffällig. Was ist Auffälligkeit?
Adressierbarkeit
Grob gesagt ist Auffälligkeit Adressierbarkeit (P. Fuchs), das heißt, wie ein Mensch (oder ein System) in der Gesellschaft angesprochen oder erreicht werden kann. Menschen werden entweder direkt angesprochen oder es wird über sie gesprochen. Wenn ich mit meiner Nachbarin rede, lasse ich ihr eine gewisse Möglichkeit, sich zu meiner Kommunikation einzustellen. Wenn ich mit jemand anderem über meine Nachbarin rede, überlasse ich einem anderen diese Wahl, nicht aber meiner Nachbarin selbst.
Wir haben es hier mit zwei verschiedenen Formen der Selektion zu tun. Diese Selektion setzt sich auf die grundlegende Selektion in der Kommunikation - folgt man Luhmann -, der von Mitteilung und Information.
Zwei-/Drei-Differenzen-Schema der Kommunikation
Kommunikation ist ein Zwei-/Drei-Differenzen-Schema. Ein Zwei-Differenzen-Schema ist Kommunikation, weil man die Wahl zwischen Information oder Mitteilung hat und weil man wählen muss. Dabei ist die Information eine Unterscheidung in der Welt (zum Beispiel, dass ich über Amok/Auffälligkeit spreche und nicht über Tischdekorationen/Auffälligkeit), während Mitteilung ein Ausdruck der Eigendynamik eines komplexen Systems ist (in diesem Fall bin ich, der Autor, das komplexe System).
Das Zwei-Differenzen-Schema aus Information/Mitteilung (oder Weltunterscheidung/Eigenselektion) geht aber zugleich in ein Drei-Differenzen-Schema über, dem zwischen Information/Mitteilung/Selektion von Information oder Mitteilung. Da man wählen muss, da man gezwungen ist zu wählen, ist die dritte Differenz zugleich die Einheit des ganzen Schemas. Die Selektion ist die Einheit einer Unterscheidung in der Entscheidung für die eine oder andere Seite. Luhmann nennt diese Einheit auch Verstehen.
Zumutungen/Krisen
Wenn ich mit jemandem kommuniziere, mute ich ihm und er mir dieses Unterscheiden massenhaft zu, aber auf einem Niveau, dass ich es kaum noch merke. Die Kommunikation kommuniziert sich praktisch von alleine.
Erst krisenhafte Zuspitzungen steigen dann zu dem Problem hinab, ob der Andere mir etwas mitteilen oder mich informieren wollte.
Interaktion
Adressabilität stützt sich zum Beispiel auf Personen. Indem ich mit und über Personen spreche, adressiere ich sie in der einen oder anderen Weise. Personen sind Kompaktzumutungen an Attributen, bzw. Eigenschaften. Harald Schmitt ist hintersinnig und Oliver Pocher doof. So rasch geht das.
Der Amokläufer von Winnenden nun kippt anhand einer zeitlichen Differenz - vor/nach dem Amoklauf - von einer Wenig-Adressabilität in eine Viel-Adressabilität. Vorher war er ruhig und unauffällig, hinterher wird dieses und jenes gesagt und das massenweise. Er ist, sozusagen, in aller Munde.
Man kann von einer interpenetrativen Kommunikation sprechen, wenn ich jemanden direkt anspreche. Diese Form, die Interaktion, stützt sich auf die Unterscheidung anwesend/abwesend. Interpenetrative Kommunikation läuft massenweise in der Gesellschaft ab, nicht ganz so massenweise bei einzelnen Personen. Tim K. scheint, so wird in den Medien berichtet, wenig in solche Interaktionen eingebunden gewesen zu sein.
Kollaps und Wuchern der Adressierbarkeit
Der Amoklauf (insofern man von einem Amoklauf reden kann) hat in der Kommunikation folgendes bewirkt: zunächst wird die Interaktion von Tim K. mit anderen Personen durch eine gewalttätige Lösung radikal gestoppt. Mit Toten, salopp gesagt, kann man nicht sprechen. Dafür aber wuchert eine ganz andere Kommunikation, die massenmediale, die hier zugleich Informationen gibt ("Tim K.: Gewaltspiele auf dem Computer"), als auch über Mitteilungen informiert ("Tim K.: ein isolierter Junge?").
Massenmediale Aufmerksamkeit setzt sich hier gleichsam auf die personale Aufmerksamkeit drauf, und zwar in einer Art und Weise, dass die Aufmerksamkeit für die Massenmedien als Mitteilungsmittel entmutigt wird, die Aufmerksamkeit für die Massenmedien als Informationsmittel dagegen gefördert wird. Die Selektion in den Massenmedien - also die Seite ihrer Mitteilung, ihrer Eigenselektivität - muss mühsam (d.h. intellektuell) erzwungen werden; sie ist zunächst latent.
Eigen-/Fremdkomplexität und das Nadelöhr der Mitteilung
Während man bei Tim K. also von einem Kollaps der Adressierbarkeit ausgehen kann, und zwar sowohl in eigener Hinsicht, als auch in Hinblick auf andere: er wollte, aber das ist natürlich auch nur eine Aussage aus den Massenmedien, möglichst viele Menschen töten. Nimmt man diese Aussage als wahr, dann ist die Fremdtötung schon vorher ein Zusammenbrechen der Form Person auf ein Minimum an Attributen, also ein radikales Ausdünnen des Blicks auf den anderen. Das Was? der Adressierbarkeit verknappt sich auf die Unterscheidung lebendig/tot und das Wie? der Adressierbarkeit auf töten/nicht-töten.
Gewalt - so hat es den Anschein - ist ein Zusammenbruch von Eigenkomplexität und Fremdkomplexität. Eigenkomplexität, noch einmal, ist bezogen auf ein Mitteilen-Können. Mitteilen-Können setzt Wahlmöglichkeiten voraus, was man mitteilen möchte. Und in der Kommunikation setzt dies voraus, dass man einer Person zumutet, in ihren Mitteilungen selektiv vorzugehen, weil sie mehr mitteilen könnte, sich aber in diesem Moment für etwas entscheiden muss, bzw. zeitliche, sachliche und soziale Vorgaben die Komplexität der Mitteilung beschränken. Jede Eigenkomplexität geht durch das Nadelöhr der Mitteilung.
Fremdkomplexität, die Komplexität eines Anderen, geht ebenso durch ein solches Nadelöhr. Sich ein Bild von einem anderen Menschen aufzubauen, seine Kommunikation also als interne Vorlieben, als Seele und Geist zu interpretieren, führt natürlich nicht zur Wirklichkeit. Wirklichkeit, reales Bild ist kein Begriff, mit dem man heute noch diskutieren kann. Das einzige, was hier tauglich ist, ist das mehr oder weniger an Differenzierung. Damit sind wir wieder bei dem Aufbau/Abbau, und dem Zusammenbruch von Eigenkomplexität, diesmal in Form der Eigenkomplexität des Anderen.
Strategien
Dass Fremd- und Eigenkomplexität das Nadelöhr der Mitteilung bedürfen, führt zu Strukturerfordernissen, die hinreichend komplexe Entscheidungen ermöglichen. Üblicherweise spricht man hier von Metakommunikation (was ist passiert, als wir so und dass wir so miteinander geredet haben?) und Soft-Skills (wie kann ich entscheiden, wo Entscheidungen aufgrund der Eigen-/Fremdkomplexität riskant sind?).
Die Metakommunikation inszeniert eine Art re-entry des Verstehens ins Verstehen. Die Unterscheidung Information/Mitteilung wird normalerweise nicht kommuniziert, sondern nur prozessiert: ich fasse etwas als Information oder Mitteilung auf, aber ich rede über dieses Auffassen nicht, sondern tue es und setze es beim Anderen als Horizont meiner Wahl voraus.
In Bezug auf das Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun habe ich von einer Rück-Qualifizierung gesprochen. Was ich beim anderen zu hören meine, setze ich für meine eigene Kommunikation voraus. Wenn Peter sagt: "Du siehst heute aber blendend aus!" und ich sage: "Veralbern kann ich mich selbst.", dann fasse ich Peters Aussage nicht als Information, sondern als Mitteilung auf. Ich rück-qualifiziere seine Aussage als Mitteilung. Wenn Peter jetzt empört sagt: "Du hast ja eine Laune heute! Ich sage nur, was ich denke.", dann ist klar, dass er seine Aussage als Information gesehen hat, während er nun seinerseits meine Aussage als Mitteilung, als inneres Selektionsverhalten auffasst, nämlich als schlechte Laune.
Metakommunikation qualifiziert nun nicht nur in direktem Anschluss, sondern auch die Episoden davor. Statt einfach weiter zu prozessieren, und die Kommunikation ihrem gewohnheitsmäßigen Lauf zu überlassen, werden jetzt Krisen herauspointiert, werden Konflikte zusammengefasst und zugespitzt, wird Verstehen als Nicht-Verstehen verstanden.
Soft-Skills dagegen behandeln so etwas wie strategisches Wissen um kommunikative Prozesse. Dazu gehört Metakommunikation. In dem strategischen Wissen ist aber zugleich mit angelegt, wie man gut in die Zukunft kommt, und es scheint zum selbstgefälligen Ton mancher Soft-skill-Trainer zu gehören, mit ihrem Training zunächst auch glänzende Karrieren zu versprechen.
Jedenfalls nutzen Soft-Skills operative Strukturen, also Methoden, um mit eigener und fremder Komplexität umzugehen. Die Strategien hängen sich wie Parasiten an dem unreflektierten Prozess des miteinander Plapperns und ordnen ihn, ohne dies mitteilen zu müssen. Soft-skills sind also Mitteilungen, die sich nicht mitteilen wollen. Ich entscheide etwas, weil ich als entscheidungsfähig gelten möchte, aber ich teile nur meine Entscheidungen mit, darüber indirekt meine Entscheidungsfähigkeit, aber nicht mehr meinen Geltungsbedarf als entscheidungsfreudiger Mensch.
Führen wir dies zurück auf das Thema Komplexität, dann sind sowohl Metakommunikation als auch Soft-skills Methoden, um kommunikative Prozesse komplex zu halten. Dabei scheinen aber beide nicht direkt auf eigene oder fremde Komplexität zu zielen, sondern auf das Risiko, Adressierbarkeiten zu eindeutig zu halten. Salopper formuliert: ich bin aus mehreren Persönlichkeitsakkumulationen zusammengesetzt - Deleuze könnte hier sagen: Wolf, Frau, Goethe -, und damit du nicht nur eine dieser Akkumulationen ansprichst, spreche ich mit dir strategisch.
Gewalt könnte nun - so stellt es sich für mich zur Zeit da - durch einen Verlust an strategischem Sprechen einhergehen. Eine Person hat keinen Variationsbereich mehr, sie ist nur noch genau dieses, ein Macho, eine Schlampe, eine faule Person. Die Form der Person variiert nicht, sie evoluiert nicht. Die Stagnation der Form Person, dies ist meine nächste These, trennt in der Kommunikation selbst, im Verstehen selbst zu starr zwischen Sicherheiten/Unsicherheiten.
Soziale Entdifferenzierung und mediale Redifferenzierung
Man kann ja nur vermuten, was bei Tim K. passiert ist.
Gewalt auf dieser Ebene hat immer das Problem, dass sie in der Beobachtung von einem Unterangebot an Differenzen (bis hin zur völligen Unwahrnehmbarkeit) zu einem plötzlichen Überangebot umschlägt. Die soziale Entdifferenzierung schlägt in eine temporal schwierig zu handhabende Redifferenzierung um.
Beobachtbar ist auch, dass die Redifferenzierung sowohl eine Medienflut auslöst (Fernsehen, Zeitung, Blogs, Artikel, Interviews, Gesprächsrunden, etc.), als auch eine Flut an Artefakten: Indizien, mit Deleuze gesagt, die das seelische Territorium des Amokläufers abstecken sollen.
Massenmedien
Dabei sollte man auch die Form der Massenmedien beachten. Massenmedien produzieren Sensationen/Skandale. Der Sensation des Amoklaufs folgt der Skandal der sozialen Isolation trotz eines gutbürgerlichen Elternhauses.
Das Hin- und Herswitchen von Tim K. zwischen Sensationsperson (=Täter) und Skandalperson (=Opfer) schafft gerade nicht die Kommunikation als eine strategisch unterfütterte, sondern prozessiert selbst Kompaktzumutungen recht simpler Bauart.
Dass Tim K. sich die Möglichkeiten an einer Teilnahme genommen hat, ändert nichts oder nur wenig an dieser Vorgehensweise der Massenmedien. Auch noch lebenden Personen - siehe Josef F., besser bekannt als "Inzestfall von Amstetten" - zeigen, dass Massenmedien (ob zurecht oder zu unrecht ist eine ganz andere Frage) so funktionieren.
Fabelwesen
Beim Inzestfall von Amstetten passiert nun folgendes: erstens wird Josef F. stark von der Öffentlichkeit abgeschirmt, zweitens lebt seine Tochter mit den Kindern an einem unbekannten Ort. Nicht-Adressierbarkeit. Die Tochter hat unter anderem Spiegel online auf Verletzung der Persönlichkeitsrechte verklagt. Und Spiegel online konstatiert:
Die Frau und die aus dem Inzest stammenden Kinder haben eine neue Identität erhalten und wohnen an unbekanntem Ort, Fotos von ihnen gibt es nicht. Sie sind gleichsam Fabelwesen. Trotzdem fühlen sie sich verletzt, wenn die Presse über die Taten des Angeklagten berichtet.Diese Anonymität schafft einen ähnlichen Fall wie der Tod von Tim K. Die Tochter kann nicht mitreden, wird aber ständig thematisiert (und dass Spiegel sie nicht kennt, bedingt ja nicht umgekehrt, dass die Tochter den Spiegel auch nicht kennt). Dass sie von Spiegel online als Fabelwesen bezeichnet wird, drückt dies deutlich aus: man weiß eigentlich nicht, über wen man spricht, aber man spricht über ihn.
Definition des Fabelwesens: das, was nicht direkt adressiert werden kann, was nicht zurückadressiert (das Fabelwesen spricht über Anwälte mit Spiegel online).
Dirk Baecker schreibt:
Letztlich waren es die in England initiierten, dann in den USA aufgenommenen cultural studies der 70er und 80er Jahre, die den Schlussstrich unter diese vornehme Verweigerung des Zusammenhangs von Kapitalismus und Kultur zogen. Längst waren die Ethnologen und Anthropologen nicht mehr nur in fernen Ländern und auf anderen Kontinenten unterwegs, sondern wurden auf der Suche nach eigentümlichen Formen des Stammesverhaltens in amerikanischen Vorstädten, in der Londoner City, bei Kirchenkonzilen, in Vorstandsetagen, in Gerichtssälen, in Produktionsbetrieben und in Behörden fündig. Und längst war deutlich geworden, dass die Suche nach den authentischen Kulturen der menschlichen Frühgeschichte, nach den edlen Wilden der rousseauschen Imagination, nichts anderes bebilderte als die eigenen Fantasien und nichts anderes dokumentierte als das eigene kulturelle Unbehagen.AuffälligkeitBaecker, Dirk: Im Theater II, in: ders.: Nie wieder Vernunft, Heidelberg 2008
Auffälligkeit, so definiere ich zum Schluss, ist die massenmediale Form der Person, also die Inszenierbarkeit als Sensation oder Skandal.
Vielleicht greife ich zu weit, wenn ich hier Dirk Baecker's Zitat oben umschreibe und sage, dass Massenmedien Bilder entstehen lassen (durch Emergenz), die dazu taugen, Adressierbarkeiten umzuwandeln. Statt mit Brad Pitt selbst zu sprechen, verschafft ihm die mediale Aufmerksamkeit eine indirekte Adressierbarkeit, indem man sich an Klatschspalten wendet (die sich an den Leser wenden), und hier als parasitärer Mechanismus die parasitären Strategien der Interaktion ersetzen.
Vielleicht ist es ja anstrengend, mit Brad Pitt zusammenzuleben, aber es ist jedenfalls angenehm, über ihn zu lesen.
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