Mit der Analyse ist das so eine Sache. Auf der einen Seite soll diese wesentliche von unwesentlichen Merkmalen trennen, auf der anderen Seite bringt aber erst die Analyse die Möglichkeit hervor, zu einer solchen Einschätzung zu kommen. So wird die Analyse manchmal breit gestreut, Merkmale aufgelistet oder erforscht, von deren Relevanz man noch keine Ahnung hat. Und das ist eben Forschung. Am Anfang der Forschung steht immer die Bekenntnis: „Ich habe keine Ahnung!“
Ein Fragekatalog
Über zwei wissenschaftliche Institutionen, der Humboldt-Universität und der Sigmund-Freud-Privat-Universität, ist eine online-Befragung herausgegeben worden. Diese ist vom Senat Berlin, genauer der Senatsbildungsverwaltung, in Auftrag gegeben worden. Die Befragung ist freiwillig und anonymisiert. Darin findet sich die Frage, welche sexuelle Orientierung der Lehrer habe.
Ganz so skandalös, wie dies gerade in (rechten) Medien diskutiert wird, kann dieser Fragebogen allerdings nicht gewesen sein, denn er ist freiwillig und, wie gesagt, "anonymisiert". Obwohl, und dies zu hinterfragen wäre Sinn und Zweck einer "Skandalisierung", sich natürlich die Frage stellt, was diese Qualität des Anonymen sei.
Zudem stellt sich die Frage, warum die Frage nach der sexuellen Orientierung heikler sein sollte als die nach dem Parteibuch. Wie Hildegard Bruns von der BZ suggeriert. Ist nicht beides gleich heikel, bzw. gelegentlich auch unheikel, wenn es niemanden interessiert, ob ein Lehrer nun hetero- oder homosexuell ist; oder beides mit gleich unmaßgeblichem Interesse aufgenommen wird?
Hyperbeln, wir wollen Hyperbeln
Nun ja. In Asterix und die Schweizer findet sich dieser wundervolle Running Gag, dass die dekadente Oberschicht Orgien einfordert, mit dem Ruf (dem Schlacht- und Kampfruf): Orgien, wir wollen Orgien. Die Orgie ist so etwas wie die Übertreibung eines sowieso schon parasitären Lebensstils. Diesen zur Forderung zu erheben verweist auf die Irrealität gewisser Bevölkerungsgruppen.
Rund um die gender-Forschung hat sich seit Jahren ein ähnliches Spektakel etabliert, welches sich parasitär an die Frage nach dem kulturellen Geschlecht dranhängt, dieses aber komplett ablehnt und mit Übertreibungen wie „Frühsexualisierung“ oder „Verschwulung“ nach maximaler Aufmerksamkeit heischt. Plattgewalzt werden dagegen sämtliche Begriffsschärfen, ja die gesamte Bildung von Begriffen selbst und damit jegliche wissenschaftliche Argumentation. Denn ob es nun gender sein muss oder nicht, eine Disziplin entsteht nicht nur aus Inhalten, sondern auch aus Methoden. Die methodischen Ansätze der gender-Forschung mögen kritisierbar sein, aber sie sind eben nicht zugleich mit den Inhalten aus der Welt zu schaffen.
Genau dies leistet sich aber der Widerstand gegen die gender-Forschung. Zugleich mit den Inhalten werden auch die Methoden gekippt, Methoden, die in anderen Bereichen hervorragendes geleistet haben und für die Wissenschaftlichkeit notwendig sind. – Man muss hier also zwischen zwei Aspekten trennen, zwischen zwei Sphären der Legitimation. Ob der sachliche und inhaltliche Bereich einer Disziplin legitim ist, muss ganz anders kritisiert werden, als wenn man die Methoden, mit denen diese Disziplin „erschaffen“ wurde, kritisieren möchte.
Dieses Herumschmeißen von maximaler Empörung und minimaler Begriffsarbeit, dieses Fest der Hyperbeln, diese Orgie der Extrapolationen führt dann, jenseits einer Kritik an der gender-Theorie, vor allem zu einem: der Begriffsverwirrung und der Entwissenschaftlichung des öffentlichen Diskurses, mithin in die Anti-Aufklärung.
Martenstein
Unser guter Martenstein hat sich nun dieses Ereignisses bemächtigt. Empörungskonform titelt die Berliner Zeitung daraufhin Hetero oder nicht? Sex-Schnüffelei an Berlins Schulen. Martenstein selbst ist nicht ganz so überdreht. Er verweist zunächst darauf, dass Lehrer nicht nach ihrer Gesinnung beurteilt werden dürfen.
Ganz so richtig ist allerdings die Aussage nicht. Lehrer mit rechtsradikaler, linksradikaler oder religiös-fundamentalistischer Gesinnung werden schon zur Verantwortung gezogen, sofern die Gefahr besteht, dass diese Gesinnung den Verlauf des Unterrichts beeinflusst und damit den Auftrag der Schule untergräbt, Demokratie, wissenschaftliche Praxis und Bildung zu vermitteln.
Das Problem, das Martenstein anspricht, ist ein tatsächliches. Da in dem Fragebogen die Adresse der Schule, Alter und Dienstjahre abgefragt werden, ließe sich aus einem Datensatz relativ leicht eine Person herauskristallisieren, denn wie oft mag es einen 56-jährigen Geographie- und Englisch-Lehrer mit 30 Dienstjahren an einer mittelgroßen Schule geben? Selbst wenn es tatsächlich einmal zwei sein sollten, ist die Anonymität damit noch lange nicht gewährleistet.
Nun ist Anonymität Anonymität und nicht gender-Forschung. Der Skandal wäre, wenn überhaupt, ein „datenpolitischer“.
Zudem, und das ist ein ganz anderes Problem, gilt neben dem Datenschutz auch der Schutz vor Diskriminierung. Nicht nur darf ein Arbeitgeber nicht nach seiner sexuellen Orientierung gefragt werden; er darf auf nicht dazu gezwungen werden, dies zu verschweigen und zu verheimlichen. Nicht nur muss ein Lehrer seinen Schülern die Meinungsfreiheit zugestehen, die im demokratischen Spektrum möglich ist, sondern er selbst muss auch als Teilnehmer an demokratischen Prozessen erscheinen dürfen.
Holzwege der Wissenschaft
Nun ist natürlich die Frage, was die Wissenschaft mit einem solchen Fragekatalog anfängt, und ob hier der ethische Anspruch des Forschungsvorhabens entsprochen wird, nicht der Politik dienstbar zu sein, sondern der Aufklärung. Diese Nicht-Dienstbarkeit besteht darin, nicht der Politik die Antworten zu liefern, die sie hören will, nicht die Daten zu liefern, die der Politik Zugriff auf Einzelpersonen aufgrund deren Lebensweise oder Gesinnung ermöglicht. Die Frage also in diesem Fall ist, inwiefern die Nicht-Kommunikation zwischen wissenschaftlichem Institut und politischem Auftraggeber den Gesetzen entspricht.
Ein ganz anderer Aspekt dagegen ist, ob diese Studie sinnvoll ist. Das aber lässt sich nur hinterher beantworten. Wenn man vorher schon wüsste, was die Antwort ist, dürfte es nicht Forschung oder Studie heißen. Demnach wird eine Forschung mit einer Fragestellung begonnen, mit einer Hypothese, und, sofern man dies etwas frei ins Deutsche übersetzt, eben mit einem Vorurteil. Vorurteile, so lässt sich an allen Ecken und Enden lesen, seien nicht gut. Doch das stimmt nicht. Problematisch wird ein Vorurteil nur dann, wenn man jeden Zweifel daran, jede Widerlegung zurückweist, oder sich sogar weitreichendere Brüche durch Erfindung von Verschwörungstheorien erklärt oder gleich mit der Verurteilung von Gegnern jeglichen Anspruch auf wissenschaftliche Kommunikation aufgibt.
Die Wissenschaft hat viele Forschungen angestellt. Sie ist auf viele Holzwege geraten. Doch bisher hat sie es auch immer wieder geschafft, diese Irrwege zu hinterfragen. Sie hat neue Forschungen entworfen, hat neue Fragen aufgestellt und neue Hypothesen entwickelt.
Forschungsdesign
So wäre nun der nächste Schritt, sich das Forschungsdesign anzusehen, und hier insbesondere die strittige Frage, welche Daten nun dem Bildungssenat in die Hände gegeben werden. Diese Frage allerdings wirft Martenstein nicht auf. Und damit ist noch lange nicht gesagt, wie der Bildungssenat mit diesen Daten umgeht. Diese Frage ist zwar für den Datenschützer relativ uninteressant, da diese bereits lange vorher warnen und zu warnen haben, aber ob die Ergebnisse der Studie, anonymisiert oder nicht, zu Repressalien führen, ist noch lange kein Automatismus. Genau dieser wird aber mittlerweile im öffentlichen Diskurs unterstellt. Und der Tenor geht wiederum in Richtung Verschwulung Berliner Schulen; die Repressalien werden also vor allem gegen heterosexuelle Lehrer gefürchtet, zum Teil sogar als gewiss hingestellt.
Datenschutz ist nun das eine. Dieser muss funktionieren; das Individuum ist zu schützen. Dass dies funktioniert, wenn auch nicht immer ganz so großartig, wie man sich das wünscht, sieht man an den Ärzten, die ja auch sehr intime Daten von ihren Patienten besitzen und selbstverständlich diese nicht weitergeben und weitergeben dürfen. Sie könnten es, aber sowohl die Berufsethik wie die Gesetzeslage verhindern das (wenn auch nicht immer). Warum also sollten Wissenschaftler nicht mit dem selben Anspruch ihre wissenschaftlichen Forschungen betreiben, auch wenn der Auftraggeber aus der Politik kommt? Hier müsste man sich eben tatsächlich das Forschungsdesign genauer ansehen und inwiefern die Anonymität gewahrt wird.
Offene Fragen
Der Diskurs springt aber über solche Fragestellungen hinweg. Er vermischt Datenanonymität mit der Infragestellung der gender-Forschung. Er vermischt Forschungsdesign und politische Praxis. Weder Martenstein, noch die Berliner Zeitung, noch Heiko Melzer (CDU) trennen die Sphären und etablieren und vertiefen genau damit die unheilige Vermischung von Wissenschaft und Politik.
So ist es gerade kein Skandal, wenn die Bildungsverwaltung den Inhalt der Studie nicht kennt. Denn im Sinne der Anonymität geht dieser den Senat tatsächlich nichts an. Genau dies aber bemängelt Hildegard Bentele (CDU). Da der Auftrag der Studie allerdings recht explizit ist („Wie viel Vielfalt verträgt die Schule?“), ist natürlich eine gewisse Kenntnis des Inhaltes schon vorhanden. Ansonsten wäre das ja, als würde man einem Handwerker den Auftrag geben, etwas zu bauen, und sich hinterher zu wundern, dass man statt des gewünschten Einfamilienhauses einen Zeppelin bekommen habe.
So läuft es letzten Endes immer wieder darauf hinaus, inwiefern die Methoden und die Inhalte einer Wissenschaft in der Kritik getrennt werden, inwiefern interne Zwecke einer Forschung von den externen Leistungen für die Politik und die Öffentlichkeit geschieden werden. Dass ein regionaler CDU-Politiker, zumal kurz vor der Bundestagswahl, dieses Ereignis ausgeschlachtet, sollte nicht verwundern. Dass eine zunehmend radikalisierte Öffentlichkeit an solchen Feinheiten keinen Gefallen findet, auch nicht.
Wer sich allerdings noch dem aufklärerischen Diskurs in irgendeiner Art und Weise verpflichtet fühlt, sollte gerade diese Fragen stellen. Unter den Hyperbeln und Extrapolationen tauchen nicht nur viel dringlichere und viel realere Fragen auf; sie setzen auch dem Einheitsbrei des Skandalisierens die Vielfalt scharfer Begrifflichkeiten und strenger Argumentationen entgegen.
Nicht ist also nur zu fragen, wie viel Vielfalt die Schule vertrage, sondern wie viel Vielfalt der öffentliche Diskurs. Und diese Vielfalt zu ertragen wurzelt wesentlich darin, wie sehr auf eine solche Klarheit hingearbeitet wird und nicht jede Unschärfe oder jeder Widersinn zu flächendeckendem Geplärre genutzt wird.
Dass sich sofort, in hirnlosem Automatismus, sexistische, homophobe, anti-intellektuelle Töne in die - tatsächlich notwendige - Auseinandersetzung einmischen, das ist nun wirklich der typische Hetero-Rabbatz. An dem Martenstein diesmal, ausnahmsweise, wenig Anteil hat.
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