Eigentlich sollte ich meinen Unterricht vorbereiten, mit dem ich mich zwar schon im Sommer lange und intensiv beschäftigt hatte: jedoch kommt es immer etwas anders, als man sich das denkt. Also bin ich wieder am „Herumbasteln“. Die Arbeit im Sommer hat mir trotzdem sehr gut getan. Zum Teil bin ich sehr intensiv auf einzelne Aufgaben und Übungen eingegangen und habe mir diese aus semiotischer, psychologischer und fachdidaktischer Perspektive recht gründlich angeschaut.
Figuration und Erkenntnis
Seit einigen Monaten liegt als wesentliches Arbeitsbuch Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie von Sybille Krämer auf meinem Schreibtisch. Krämer ist Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Im weitesten Sinne könnte man ihren Forschungsbereich als Medienanthropologie bezeichnen, ähnlich wie der von mir ebenfalls sehr geschätzte Stefan Rieger. Beide arbeiten in mehr oder weniger großer Nähe auf der Grundlage von Michel Foucault und Niklas Luhmann, aber auch den amerikanischen Pragmatisten (Henry James, Charles Sanders Peirce, John Dewey).
Krämer stellt in ihrem Buch die „Erkenntniskraft“ des Diagramms dar. Dabei kann man Diagramme überall dort finden, wo ein Bild nicht mehr reine Anschauung ist. Die Beispiele im Buch sind zwar wesentlich enger gefasst, aber letzten Endes könnte man sogar die Bilder von Salvador Dali – etwa Die Geburt des Narziss – als Diagramme auffassen, da sie auf ein Stück Theorie direkt Bezug nehmen und dieses in gewisser Art und Weise „abbilden“ (was mich an meine alte These denken lässt, dass Dali nicht malt, sondern schreibt).
Mathematik erlernen
In der Rechendidaktik (denn in der Grundschule lernt man eigentlich nicht Mathematik, sondern das Rechnen) werden nicht nur zahlreiche Modelle verwendet, sondern auch Sachaufgaben illustriert, bzw. Bezüge zwischen Diagramm und „echtem“ Material hergestellt. So ist ein wesentliches Arbeitsmittel die Hundertertafel, einer einfachen Tabelle von zehn Spalten und zehn Zeilen, in denen die Zahlen von 1-100 geordnet dargestellt werden. Diese Hundertertafel wird nicht nur in Rechenaufgaben übersetzt, bzw. auch umgekehrt Rechenaufgaben in die Hundertertafel, sondern auch auf den Zahlenstrahl überführt. Der Zahlenstrahl (falls ihr euch nicht mehr an eure eigene Grundschulzeit erinnert) ist die Darstellung eines Zahlenabschnittes auf einem Strahl (und damit dem Lineal ähnlich).
Zu dieser grundlegenden Operation des Austauschens und Übersetzens schreibt Krämer:
Diagramme sind raum-zeitlich situierte »Dinge«, denen eine extrinsische Materialität zukommt, deren Besonderheit es ist, hinsichtlich ihrer konkreten Stofflichkeit prinzipiell auswechselbar zu sein. Daher ist die Materialität des Diagramms imprägniert von einer Immaterialität.(Krämer, S. 62)
Statt Immaterialität könnte man hier auch Idealität oder – da Idealität heute meist etwas anderes bedeutet – Gedachtes sagen. Diagramme stellen damit Übergänge von der anschaulichen Welt zur Praxis des Denkens dar. Indem sie an beidem teilhaben, indem sie sinnlich, aber auch von diskreten Differenzen durchzogen sind, haben sie an beiden Sphären Anteil.
Darüber kann man unendlich nachdenken.
Gruppendynamik
Wie aber kommt man von hier aus zur Gruppendynamik?
Es ist natürlich klar, dass die Gruppendynamik für einen Klassenlehrer eine wichtige Rolle spielt. Tatsächlich aber bin ich auf dieses Thema durch Illustrationen zu Rechengeschichten gekommen. Rechengeschichten? Das sind so etwas wie erweiterte Sachaufgaben, die etwas lebendiger erzählt sind, dadurch aber nicht unbedingt einfacher erfasst werden, weil die Geschichte nicht direkt auf die Rechenoperation zugeschnitten ist, die die Kinder daraus erschließen sollen.
Jedenfalls sind diese Illustrationen gelegentlich auch unter dem Aspekt der Beziehungsdynamik interessant. Dadurch bin ich zu einem recht langen Abstecher eines einzigen Diagramms in Eberhard Stahls Buch Dynamik in Gruppen aufgebrochen. Ich bin immer noch nicht damit fertig.
Diagnostik: Der Psychologisierung widerstehen
Wozu betreibe ich aber einen solchen Aufwand? Der Grund liegt selbst wieder im Diagramm und in der „prinzipiell auswechselbar[en]“ „Stofflichkeit“ begründet. Zwischen dem Lernen des Kindes und der mathematischen Aufgabe liegt die Bearbeitung der Aufgabe. Diese Bearbeitung ist aber nicht ein abstraktes Zwiegespräch zwischen den Denkleistungen und der Aufgabenstellung, sondern von Körperlichkeit und sozialer Situation verkompliziert.
Zudem ist es ein alter Hut, dass man in den Kopf von Menschen, also auch nicht von Schülern, hineinschauen kann. Man kann zwar wissen, was Lernen ist, aber ob und wie das Kind in der konkreten Situation lernt, ist reine Spekulation.
Nun kommt man als Lehrer ohne eine solche Spekulation nicht aus. Zum einen lernen Menschen natürlich, zum anderen würde man sich selbst delegitimieren, sollten die Schüler im Unterricht nicht lernen. Trotzdem: einer allzuraschen Psychologisierung und damit einem Übergriff ins Unbeobachtbare sollte man eine ausreichend gute Praxis des Beobachtbaren entgegenstellen, damit man nicht unbemerkt und damit auf bequeme, unsystematische und letztlich unwissenschaftliche Art und Weise wieder zu spekulieren anfängt.
Zu einer Praxis des Beobachtens
Semiotische und technische Medien
Was aber wäre eine solche gute Praxis? Ich führe dies hier ohne weitere Begründungen, als Abschluss auf: zunächst gilt es Medien und den Umgang mit Medien zu trennen: wie benutzt ein Kind die Sprache? wie erläutert es die Bedeutung eines Bildes? wie arbeitet es mit einem Abakus? etc. - Zwar gibt es hier die Trennung zwischen semiotischen und technischen Medien, so wie der Abakus ein technisches Medium ist, die Perlenstangen darauf aber ein semiotisches; doch macht dieses Beispiel bereits deutlich, dass sich die Medien ineinander verschränken. Die Schrift ist auf der einen Seite ein technisches Medium (als "Aufzeichnung" von Lautgestalten), aber auch ein semiotisches (als die Welt bedeutend).
Handlung und Denkbewegung
Zugleich zur Trennung der Medien, die bereits individuell verlaufen kann, kommen Übersetzungen und Transformationen hinzu. Diese lassen sich als solche beobachten (die Plusaufgabe und eine Lösung dazu; eine Addition am Zahlenstrahl mit Anfangs-
und Endzahl), aber auch durch Handlungen (z. B. abzählen, d. h. mit dem Finger einer geordneten Abfolge entlangfahren). Dabei sind die Bewegungen teilweise ins Denken übernommen, so dass sie nicht mehr vollständig, sondern nur noch teilweise sichtbar sind; im Zweifelsfall muss man auf besseres, besser diagnostizierbares Material zurückgreifen oder sich die Vorgehensweise vom Kind erklären lassen).
Die Schnörkel
Eine der wichtigsten Momente bei solchen Handlungen sind die "Schnörkel". Es gibt vermutlich bei jeder strukturierten Handlung einen reinen, völlig ökonomischen Weg. Doch genau ein solcher ist selten und erst bei viel Übung zu finden. Bis dahin verrutschen Stifte, springen Perlen aus ihren Kuhlen, werden Teile des Zahlenstrahl falsch hintereinandergelegt; der Kopf landet auf der Hand, die Augen gleiten zum Nachbarn hinüber, ein Arbeitsschritt wird mit den Fingern noch einmal überprüft. Diese kleinen Zwischenhandlungen beulen und dellen den geradlinigen Weg aus; sie weisen auf Such-, Um- und Abwege hin, ohne sie genauer zu bezeichnen.
Zweck der Konnotation
Schließlich müssen all diese kleinen Bewegungen interpretiert werden. Da es keine direkte Überprüfung des Ergebnisses gibt, muss man diese als Konnotation behandelt werden, als "systematisch ausgearbeitetes Geräusch". Solche Konnotationen werden nicht dadurch richtiger, wenn das Kind eine Schwierigkeit dann endlich überwindet. Der erwartete und gelungene denkerische Fortschritt macht aus einer Spekulation keine Gewissheit und aus einer Konnotation keine Denotation. Aber die Konnotation strukturiert das eigene planmäßige Vorgehen des Lehrers und macht in der Reflexion mögliche Verbesserungen am eigenen Verhalten, an der Lehranweisungen, etc. deutlich.
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