In der Mathematik der Grundschule sind die Fehler der Kinder das Interessanteste. Natürlich dürfen diese nicht sein, aber zunächst darf man an den Fehler nicht mathematisch herangehen, sondern muss ihn operativ und entwicklungspsychologisch verstehen.
Doch auch dies reicht nicht. Vorher ist es sinnvoll, eine phänomenologische Analyse des mathematischen Phänomens anzufertigen. Jedes Phänomen muss aus verschiedenen Blickrichtungen betrachtet werden. Heidegger nannte dies besinnliches Denken. Durch dieses bleiben wir nicht einseitig an einer Vorstellung hängen, sondern wechseln immer wieder die "Richtung". Erst dieses entbirgt das Seiende – das Phänomen – in seinem Sein. Die vielfältige Perspektivierung führt so zu einer Wahrheit, die nicht einträchtig, aber „im Ding versammelt“ ist. Dieses kreisende Denken hat der französische Philosoph Gilles Deleuze auf andere Art und Weise ebenfalls eingefordert. Das schlimmste Labyrinth, so schreibt er, sei die Gerade.
Trennen und Verbinden
Linien tauchen beständig in der Mathematik auf, mehr sogar noch in offensichtlicher Art und Weise in Grundschulbüchern. Sie trennt und verbindet und strukturiert dadurch den Raum und orientiert die Wahrnehmung.
Über die Linie hinweg entsteht der Zusammenhang von zwei Seiten. Meist ist die eine Seite spezifisch, die andere unspezifisch, so dass die Linie auf einen mehr oder weniger präzisen Innenraum verweist. So findet sich in Mathefreunde 3 (Lehrwerk aus dem Cornelsen-Verlag) auf jeder Seite eine Form, in der eine Aufgabe oder ein Bündel von ähnlichen Aufgaben steht. Doch schon die Schrift beruht auf diesem Prinzip. In ihr ist die Linie als solche nicht mehr sichtbar; jedoch stehen die Buchstaben auf einer virtuellen Linie hintereinander.
Gerichtetheit
In der Schrift findet sich damit eine Gerichtetheit, die auch bei vielen Mathematikaufgaben eine zentrale Rolle spielt, etwa bei einfachen Additionen wie 3 + 7 = __. In dieser Mathematikaufgabe ist die Linie nach dem Gleichheitszeichen ein Platzhalter, der durch Gewohnheit den Raum darüber strukturiert. Zunächst scheint diese Beobachtung banal: die virtuelle, nicht gezeichnete Linie weist von links nach rechts; die gezeichnete dagegen auf den Raum darüber. Doch auch das müssen Kinder erst lernen. Die Richtung der Linie als orientierendes Nacheinander und die Linie als begrenzender Raum werden so schon in einfachsten Beispielen beständig kombiniert.
Beidesmal entsteht aber die Strukturierung nicht alleine aus der Linie heraus, sondern durch begleitende Erklärungen oder durch Vorbild und Nachahmung. So schreibt der Lehrer das Wort »Leo« an die Tafel und liest dieses Wort von links nach rechts, indem er sein Lesen mit dem Finger begleitet.
So ist die Linie eine Grenze, eine Verbindung, eine stillgestellte Bewegung, ein Umriss oder Teil eines Musters. Dort, wo sie in stärkeren Kurven verläuft, gewinnt sie Figürlichkeit.
Vielfalt der Linie
Diese Vielfalt muss man beachten. In der Arithmetik treffen Kinder auf die Schwierigkeit, dass die Zahl einmal eine Menge und einmal den Platz in einer Reihe bezeichnet. Das Kind sieht fünf Kastanien; dies ist die Menge. Zugleich aber kann es eine Kastanie wegnehmen oder eine weitere hinzufügen und hat damit eine Abfolge erstellt, die in der Gesellschaft gelegentlich zu anderen Abfolgen parallelisiert wird: sieben Sternchen für gutes Betragen zu sammeln ist besser als vier Sternchen; mehr Geld ist besser als weniger Geld. – Erst wenn eine Zahl in beiden Möglichkeiten verstanden wird, ist die Grundlage für das Rechnen gelegt.
Und ähnlich muss eine Linie mal als Grenze, mal als Verbindung, mal als Bewegung betrachtet werden. Wann und wie eine Betrachtung richtig und wann falsch ist, ist für Kinder gelegentlich verwirrend.
Die Linie als Symbol
Linien sind kulturelle Produkte und damit Zeichen. Insofern sie vielfältig gedeutet werden kann, besteht nur ein loser, willkürlicher Zusammenhang zwischen Anschauung und Bedeutung. Damit ist die Linie ein Symbol (genauer: ein semiotisches Symbol, denn in der Literaturwissenschaft ist das Symbol etwas ganz anderes; das semiotische Symbol verbindet materielle und ideelle Seite durch Gewohnheit, nicht durch Notwendigkeit oder Kausalität). Da sich die Bedeutung der Linie auch aus dem Kontext ergibt, muss es eine Grammatik geben, die die grundlegenden Elemente miteinander verbindet und ordnet: eine geometrische Zeichnung besteht damit nicht nur aus Elementen, sondern auch aus geordneten Verbindungen von Elementen (die dann den Sätzen eines Textes entsprechen) und aus der Ordnung geordneter Verbindungen (also aus einer Ordnung von Sätzen, die man dann Text nennt).
Ikonizität der Linie
Zugleich besitzt jede Linie aber auch eine minimale Ikonizität. Als Linie der Begrenzung verweist sie auf den Rahmen, als Linie der Verbindung auf den Weg. Faltet sich die Linie durch Kurven, kann der Betrachter mehr oder weniger rasch Figuren dazusehen. Eine Linie ist kein Weg, kann aber das Schema eines Weges sein. Sie ist dann der Weg in seiner abstraktesten Form. So wie der Weg zwei Orte verbindet, verbindet die Linie zwei Punkte; sie sind sich darin ähnlich. Weiter reicht diese Ähnlichkeit nicht.
Das Ikon ist der Zusammenhang zwischen einer Vorlage und einer Darstellung. Der Zusammenhang wird genauer als Ähnlichkeit bestimmt. Das Maß der Ähnlichkeit nennt sich auch Ikonizität. Die Linie, die einen Weg abbildet, besitzt eine niedrige Ikonizität, das Foto eines Gesichts dagegen eine relativ hohe.
Spur und Absicht
Schließlich ist die Linie auch eine Spur. Derjenige, der die Linie gezeichnet hat, besaß eine Absicht. Die Absicht ist in ihrem vollen Umfang verschwunden. Da sie aber keine natürliche Ursache hat, zeigt sie sogleich, dass sie nicht ganz ohne Absicht gezogen wurde. Im Zweifelsfall besteht diese Absicht also rein formal. Sie kann zwar nicht zurückgewiesen werden, aber um sie zu bestimmen fehlen die notwendigen Anhaltspunkte. In Lehrwerken der Mathematik muss der Lehrer zunächst diese Absicht übernehmen und seinem Unterricht „hinzufügen“.
Die Linie ist also auch ein Indice.
So vereint die Linie alle drei grundlegenden Zeichentypen, Symbol, Ikon und Indice.
Abschließende Bemerkung
Zunächst mag es albern erscheinen, einem so simplen Phänomen wie der Linie eine so umfangreiche Betrachtung zukommen zu lassen. Tatsächlich aber ist sie sogar ausgesprochen kurz. So hat Sybille Krämer in Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie der Linie als Figur des materialisierten Denkens eine umfassende Betrachtung zukommen lassen, die trotzdem sehr exemplarisch bleibt. Auch Stefan Rieger legt mit Schall und Rauch. Eine Mediengeschichte der Kurve ein kluges und amüsantes Buch über die gekrümmte und durch Linien vermessene Linie vor.
Die Schlichtheit einer Erscheinung korrespondiert zugleich mit ihrer Offenheit und ihrer vielfältigen Verwendung. Sie wird damit anfällig für Grammatik und Grammatiken. Genau darin beruht wieder die Komplexität der Linie.
Um die Leistung von Kindern zu verstehen, die sich von der ersten Kritzelei bis hin zu komplexen geometrischen Beweisen fortbewegen, ist eine Kenntnis dieser zahlreichen Aspekte ebenso notwendig, wie um ein Gespür für die Fehler zu entwickeln, die ihnen dabei unterlaufen.
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