Letzten Endes geht es in der Diskursanalyse um diskursive und nicht-diskursive Strukturen. Diskursive Strukturen sind Strukturen des Sprechens, oder vielmehr Strukturen, durch die Sprechen stattfindet. Das Sprechen ist empirisch, die diskursive Struktur die nicht-empirische Zutat und das quasi-transzendentale Regelsystem. Dagegen sind die nicht-diskursiven Strukturen darauf gegründet, dass jedes Wissen irgendwo gewusst wird, und dass das Wissen und der Ort, an dem es gewusst wird, sich eng miteinander verknüpfen. Grenzen, Filter und Geschwindigkeiten charakterisieren solche Institutionen, Maschinen und Archive.
Sprechen als Konstellieren
Sprechen bedeutet konstellieren. Nicht nur erschafft sich der Satz Subjekt und Objekt, so dass das Subjekt eine grammatische Fiktion ist; das Verb darinnen qualifiziert dieses Verhältnis je verschieden. Unterschiedliche Verben trennen und verbinden Subjekt und Objekt unterschiedlich. Schließlich aber ist der Satz nicht nur eine Konstellation von Subjekt und Objekt, sondern bezieht Räume, Zeiten, Hilfsmittel, Modalitäten usw. mit ein. Er ist zur „reinen“ Dialektik nur gelegentlich und nur in engen Grenzen fähig.
Konstelliert der einzelne Satz für sich schon immer eine unscharfe und offene Logik, so verkompliziert sich das Verhältnis, sobald andere Sätze dazu treten. Diese Verhältnisse können wiederum in Sätzen abgebildet werden, sofern man formulieren kann. Diese neu hinzutretenden Sätze, diese Kommentare von Satzbeziehungen, verweisen auf Übereinstimmungen, Brüche, Widersprüche. Sie zu sammeln, zu gruppieren und zueinander anzuordnen ist eine Aufgabe, die sich die Diskursanalyse gestellt hat. Sie beschäftigt sich mit Aussagen zu Migranten, zur Mülltrennung, zur Operationalisierung mathematischer Kompetenzen oder zum Motiv des bewaldeten Berges (Tannhäuser, Rübezahl, Der Rattenfänger von Hameln, aber auch: Rose Ausländers Gedichte während ihrer Ghettoisierung).
Konstitution von Orten
Aus der Romantheorie weiß man, dass ein Ort immer ein besessener Ort ist. Die Küche ist der Ort der Großmutter, der Keller mit dem Unkenpfuhl der Ort der verwunschenen Fee, der Gulag im fernen Sibirien der Ort des sadistischen Lagerleiters. Der Venusberg gehört der Frau Venus, das fliegende Schiff dem Holländer. Doch letzten Endes ist jeder Raum der Raum von irgendwem, und sei dieser auch in einer abstrakten Figur aufgehoben wie der der modernen Kunst oder der Gerechtigkeit.
Die Grenze markiert diesen Ort der Besessenheit und letztlich den Wechsel der Besessenheit. Man tritt von der Straße in das Halbdämmer eines namenlosen Gerichtsgebäudes, in dessen unendlichen Gängen und Fluchten aus Speichern man sich verirrt. Genauso tritt man in den Ramschladen mit seinen Düften aus schlecht verschlossenen Gewürzpackungen und Räucherstäbchen.
Die Filter wiederum laden ein oder weisen ab. Das Tor am Eingang der Schule lässt die Schüler und die Eltern durch, versperrt aber dem zufälligen Passanten den Weg. Und sollte er sich dennoch im Gebäude verirren, wird er gefragt und rasch wieder nach draußen gebeten.
Orte setzen sich auch aus verschiedenen Geschwindigkeiten zusammen. Der Unterricht läuft als heißes System; innerhalb einer Stunde werden zahlreiche Ideen produziert, zahlreiche Möglichkeiten ergriffen und wieder verworfen. Die Institution dagegen wandelt sich langsam. Es dauert Jahre, bis im Schulgesetz entsprechende Änderungen eingetragen werden, das Curriculum modernisiert wird, die Genehmigung für Computer im Klassenraum abgesegnet ist.
Geschwindigkeiten im sozialen Raum entstehen durch die Ballung von Entscheidungen. Wenn ein Lehrer die Kompetenzen seiner Schüler tagtäglich überprüft und wertschätzt, muss er seinen Unterricht in anderer Art und Weise verräumlichen, als wenn er nur alle vier Wochen durch eine Klassenarbeit oder einen Leistungstest beurteilt. Ein offener und diagnoseorientierter Unterricht verhält sich zum klassischen Frontalunterricht wie ein Hochgeschwindigkeitszug zu einem Dreirad.
Was nicht entschieden werden muss, nicht entschieden werden kann, nicht entschieden wird, ist von Dauer. Es verlangsamt sich. Schließlich fällt es aus den Gedanken und Handlungen heraus, weil es jene stabile Verlässlichkeit gibt, innerhalb derer wir unser Tagwerk verrichten. Die Fenster eines Raumes sind von Dauer; aber das Wetter erfordert jeden Tag neu die Entscheidung, welche Kleidung ich anziehen werde.
Eine Formel der Diskursanalyse?
Wissen ist satzförmig und verankert im Ort, wo es gewusst wird. Dies zu sammeln, zu gruppieren und in Beziehung zu setzen ist Aufgabe der Diskursanalyse.
Dies ist keine endgültige Formel, und letzten Endes durchzieht eine solche Analyse immer auch eine Problematisierung von fraglos gewordenem Wissen, von fraglos besessenen Räumen. Als roter Faden jedoch mag diese Formel eine Zeit lang tauglich sein. Wie jede Formel, die sich auf einen komplexen Sachverhalt bezieht, strukturiert sie die Auseinandersetzung, bis diese die Formel überwuchert und durch komplexere Modelle und vielfältige Erfahrungen ersetzt.
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