Habe ich schon erzählt, dass ich von Uwe Johnson seit etwa drei Monaten die ›Jahrestage‹ besitze? Ein wundervolles Werk, voller wundervoller Sätze, voller verblüffender, kleiner Erkenntnisse. Insbesondere gefällt mir Marie, die Tochter von Gesine Cresspahl, die offenen und wachen Auges den Schelm gibt; was bleibt einem in dieser Welt auch anderes übrig, wenn man wach und offen bleiben will?
Ein Beweis für die Schönheit, die Johnson der Sprache geben kann? Zum Beispiel hier:
Ein Beweis für die Schönheit, die Johnson der Sprache geben kann? Zum Beispiel hier:
Eben noch war sie für sich. Der abendliche Himmel von gestern, mit breitem Pinsel zugewischt, war nachgeschlichen in die letzten Bilder vor dem Aufwachen; der Traum blieb im aufklarenden Bewusstsein hängen wie ein Schutz. Als sei sie nach langer Zeit zum ersten mal wieder aufgestanden. War niemand; ein Feld aus Erinnerung, die fremde Gräser wachsen ließ, Gewitterhimmel über der Baltischen See, den Geruch von Gras nach dem Regen. Wenige Blicke auf den Hudson noch, und im Gegenlicht würde das Gefühl der Zeit rascher laufen, darin sie, Gesine, Mrs. Cresspahl, Angestellte, eine vierstellige Zifferngruppe unter Telefonamt 753, nicht hier, Stadtmitte. Noch nicht.
Es gab Aufschübe.(Seite 1035)
Und wie humorvoll, wie traurig und humorvoll zugleich Johnson auch schreiben kann, dazu eine kurze Passage zuvor [über Gesines Tochter Marie]:
Da sie keinen Vater zum Leben hatte, gab es lange das Wort nicht für sie, und lange nicht mehr als den Begriff davon. Auch verstand sie mit zweieinhalb Jahren nicht Fragen nach einer Mutter. Sie hatte keine; sie führte ein Leben mit einer Person, die Ine, Sine, G-sine hieß, als Schutz erträglich, als Kollegin um einiges zu schlau.(Seite 1022)
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