14.10.2013

Hannah Arendt: Notizen zu Macht und Subjekt

Abgesehen davon, dass ich doch eine ganze Menge zu tun habe, beflügelt mich weiterhin Hannah Arendt. Ja, sie hat sich geradezu als ein Schmelzofen erwiesen, in dem vieles, was ich bisher nur parallel bearbeiten konnte, zusammenfließt und neue Legierungen bildet.

Machtbegriffe

Unter anderem bin ich dem Machtbegriff von Arendt eine Zeit lang gefolgt, habe gesammelt und bereits ein wenig geordnet. Arendt schreibt in Macht und Gewalt:
»Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen Einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation: Einer gegen Alle.« (München 1970, Seite 43)
Arendt sieht die Macht nicht im Besitz eines einzelnen Menschen, sondern die Macht entsteht, wenn mehrere Menschen sich zusammenschließen. Um das zu illustrieren benutzt sie einen interessanten Vergleich:
»Deshalb ist die oft gehörte Behauptung, eine Handvoll unbewaffneter Extremisten sei imstande, »gewaltsam« — durch Geschrei, Spektakel, Krawall — den Abbruch starkbesuchter Vorlesungen zu erzwingen [ich erinnere daran, dass dieses Buch 1970 veröffentlicht wurde], obwohl eine große Mehrzahl für deren normale Durchführung stimmte, so irreführend. … In Wirklichkeit liegen die Dinge in solchen Fällen erheblich ernster: Die Mehrheit weigert sich einfach, von ihrer Macht Gebrauch zu machen und die Störer zu überwältigen; der akademische Betrieb bricht zusammen, weil niemand bereit ist, für den Status quo mehr zu tun als einen Finger hochzuheben. Das besagt, dass die Universitäten sehr viel mehr Studenten gegen sich haben, als man gemeinhin glaubt, und dass die militante Minderheit ein größeres Machtpotential besitzt, als die in öffentlichen Abstimmungen ermittelten Zahlen erwarten lässt. Die Mehrheit der bloßen Zuschauer, die den lautstarken Gefechten zwischen Student und Professor belustigt folgen, sind in Wirklichkeit schon die heimlichen Verbündeten der Minderheit.« (ebd., Seite 43 f.)

Gewalt und/oder Macht

Eine solche Sicht auf die Macht erscheint mir allerdings als gefährlich, auch wenn ich vielem, was Arendt in diesem und anderen Büchern sagt, sehr gut folgen kann. Warum ist dieses Beispiel so gefährlich? Weil hier die bestehende Mehrheit als die gute Mehrheit gesetzt wird. Es ist tatsächlich egal, ob ein einzelner, wenige oder viele aufstehen und protestieren. Abgeschätzt werden darf die protestierende Stimme nicht nach einer herrschenden Mehrheit sondern nach der Utopie einer Mehrheit in ihrer größtmöglichen Vielfalt.
Eine der Bruchstellen in Arendts Argumentation ist, dass die Gewalt in Macht umschlagen kann und dass Machtverhältnisse Formen der Gewalt begünstigen können. Gerade Arendt hätte das wissen müssen, denn die Macht, die durch den Zusammenschluss zu einer nationalsozialistischen Gemeinschaft entstanden ist, war nicht nur eine Macht über die Juden (und andere Andersdenkende), sondern hat an vielen Stellen auch die Gewalt gegen die Juden begünstigt, geradezu erst möglich gemacht.

Subjektivität und Macht

So scheinen Macht und Gewalt nicht als grundsätzlich politische Kategorien auf, auch wenn dieser Eindruck beim ersten Lesen von Arendts Büchern entsteht. Meine Vermutung ist, dass Arendt sich ein großes Problem einhandelt, indem sie dem Subjekt eine zu starke Identität zuspricht. Vor allem scheint sie anzunehmen, dass sich das Subjekt expressiv an einer Gemeinschaft beteiligt. Unter der hand wird hier aber einer Trennung zwischen Psychologie und Psyche auf der einen Seite und Politik und Gemeinschaft auf der anderen Seite zugearbeitet. Dieses Problem hat mich gestern beschäftigt (ich bin weiß Gott noch nicht am Ende), mit folgender Passage aus Roland Barthes' S/Z:
»Objektivität und Subjektivität sind sicherlich Kräfte, die sich eines Textes bemächtigen können, aber es sind Kräfte, die keine Affinität zu ihm haben. Subjektivität ist ein Bild der Fülle, mit der ich den Text zu belasten scheine. Die Fülle aber ist verlogen, ist nur die hinterlassene Spur aller Codes, die mich zusammensetzen, so dass meine Subjektivität letztlich etwas von der Allgemeinheit von Stereotypen hat. Die Objektivität ist genauso angefüllt, ist ein imaginäres System wie alle anderen (außer dass die Kastration dort brutaler zum Ausdruck kommt), ein Bild, das hilft, mich vorteilhafter benennen zu lassen, mich zu kennen, mich zu verkennen. Die Lektüre bringt nur dann die Risiken der Objektivität oder der Subjektivität (beide sind imaginär) mit sich, wenn man den Text als expressiven Gegenstand (der sich dem eigenen Ausdruck anbietet) definiert, der, mal lasch, mal asketisch einer Moral der Wahrheit sublimiert wird.« (Frankfurt am Main 1994, Seite 14 f.)
Was hier als Text bezeichnet wird (S/Z ist ein Buch „über“ die Interpretation von Erzählungen), habe ich durch das politische Subjekt ersetzt und damit eine Nähe zu der politischen Theorie von Hannah Arendt erzeugt. Man kann sich an dieser Ersetzung stoßen; ich erinnere aber daran, dass wir den anderen Menschen nicht in seinem Wesen lesen, sondern in seiner Oberfläche, eben, wie er uns trifft und wie wir uns durch die Wahrnehmung treffen lassen, dass der andere Mensch durch die Kleidung, die er trägt, durch die Gesten, die er ausführt, durch die Wörter, die er spricht, und durch die Themen, die er für besprechenswert hält, an jenem Sammelsurium teilhat, das wir Kultur zu nennen pflegen. Anders formuliert: der Mensch ist kein Text, aber wir nehmen ihn als einen solchen wahr.

Subjekt/Objekt-Wechsel

Das führt uns weiter zu dem Begriff der Gouvernementalität, ein Begriff, den Michel Foucault in seinen Vorlesungen Sicherheit, Territorium, Bevölkerung und Die Geburt der Biopolitik (beide Frankfurt am Main 2006) behandelt. In gewisser Weise stimmt Foucault mit Arendt überein, wenn er die Macht als eine Frage der Konstellation behandelt. Er unterscheidet sich von Arendt aber darin, dass er die Macht subjektlos denkt, also nicht dem Menschen nachträglich zugestanden, sondern dem Subjekt vorauslaufend und dieses erschaffend. Foucault schreibt:
»Die Macht gründet sich nicht auf sich selbst und geht nicht aus sich selbst hervor. Einfacher gesagt, wenn Sie wollen, es gibt keine Produktionsbeziehungen, keine zusätzlichen Produktionsbeziehungen, die nachträglich neben die, zu den Machtmechanismen hinzu kämen, um sie zu modifizieren, zu beeinflussen, konsistenter, kohärenter und stabiler zu machen. Es gibt beispielsweise keine Beziehungen des familiären Typs mit weiteren Machtmechanismen, keine sexuellen Beziehungen mit weiteren Machtmechanismen daneben, darüber usw. Die Machtmechanismen sind intrinsischer Bestandteil all dieser Beziehungen, sie umkreisen sie als deren Ursache und Wirkung [Jawohl!], …« (Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Seite 14)
Es ist kaum verwunderlich, dass unsere Gesellschaft heute eine ganze Menge an Strategien entwickelt hat, dieses Subjekt zu naturalisieren, es wieder zurück in den Status der Person zu führen, den es im klassischen Zeitalter hatte. Und die Fratze, dass man sich selbst naturalisiert, indem man den anderen biologisiert, taucht nicht nur in all jenen Biologismen auf, die eine diffuse, aber sich wissenschaftlich gebärdende Internet-Gemeinschaft in den Frauen diagnostizieren zu können glaubt und damit, gleichsam spiegelbildlich, selbst eine naturhafte Erscheinung zu erlangen erhofft. Die Frau soll jene Sonne sein, die dem Mann im Mond das Licht spendet, das Licht der Natur, versteht sich.
Es sind aber nicht nur die Frauen, die naturalisiert werden und die Männer, die sich darüber indirekt selbst einen naturalisierten Zustand zusprechen, es passiert überall. Sei es, dass das Gehirn des Klienten für die quasi-neurophysiologischen Einflüsterungen des Coaches gefügig gemacht werden soll, sei es, dass das Kindeswohl als beruhend auf der Natur des Kindes für die Natürlichkeit von Erziehungsmaßnahmen gleich welcher Art zur Verfügung zu stehen hat.

Der Mann Moses - ein Massenphänomen

In einer Passage aus Douglas Adams Roman Das Restaurant am Ende des Universums wird dem Protagonisten eine Mahlzeit mit Rindfleisch schmackhaft zu machen versucht, vom entsprechenden Rind selbst. Das Subjekt bietet sich als Objekt an, wie die Politik als Natur. Nichts anderes konnte man neulich auf den Wahlplakaten lesen: ›Wir sind Deutschland‹, eingesperrt im Körper unserer ehemaligen und zukünftigen Bundeskanzlerin, als sei sie gerade vom Olymp herabgestiegen, um dem um das Wahlergebnis herumtanzenden Volk die frohe Botschaft zu verkünden, sie habe die Einheit der Vielfalt gefunden, sprich: die Form der Mannigfaltigkeit. Moses in der Rolle des goldenen Kalbes.

Übel und Risiko

Wie aktuell dieses Problem ist, mag man auch an dem instruktiven Artikel von Susanne Krasmann lesen, Gouvernementalität der Oberfläche (in: Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt am Main 2000), wobei ihr hier statt der kriminologischen Orientierung beliebig eine geschlechterbiologische, neurophysiologische, wahlpolitische, usw. Orientierung einsetzen könnt, um ein Stück der Wahrheit der rhetorischen Lüge zu erhaschen:
»Indem sich die Maßnahmen, begleitet von einer entsprechenden öffentlichen Rhetorik, auf besondere Problemfälle konzentrieren, impliziert dieser im strafverschärfenden Sinne »punitive« Zweig nach wie vor eine Individualisierung sozialer Probleme. Durchaus fraglich ist daher, ob die neue Pönologie tatsächlich eine »Abwendung vom Täter« markiert und als Wegbereiter einer neuen »Kriminologie der Situation« … begrüßt werden kann, die, über die täterfixierte Moderne hinweg, eine Brücke zur Tradition der neoklassischen Tatorientierung schlägt; oder ob sich nicht vielmehr die Strategien nur verschieben: von der Bekämpfung von Kriminalität zur Kontrolle von Kriminalität; von der Suche nach biografischen, soziale oder auch biologischen Hintergründen für die Erklärung von Ursachen der Kriminalität zur variablen Kalkulation diverser Risikofaktoren, um Probleme der Sicherheit zu managen. Der Täter als Begriff, als Vorstellung, Stereotyp und schließlich als Adressat konkreter Maßnahmen verschwindet dabei nicht. Eher könnte man sagen, er wird seiner Biografie beraubt, die ersetzt wird durch taxierende Risikomerkmale.« (Seite 197 f.)
Man kann zum Beispiel in der Pädagogik beobachten, dass die Armut als individuelles Schicksal mehr und mehr durch die Armut als statistisches Risiko ersetzt wird, ähnlich wie die alleinerziehende Mutter nicht mehr ein moralisches Übel für das Kind ist (das ist ja prinzipiell zu begrüßen), sondern ein Risikofaktor. Und wenn man sich die Diskussionen neulich im Internet ansieht, so hatte man das Gefühl, dass die Menschen nicht mehr politisch wählen gehen, sondern an einer Art aufgezwungener Lotterie teilnehmen, die dann zum Ausgleich mit ein wenig Spaß (= Stefan Raab et al.) garniert wird. Auch wenn man sich die Diskussionen mancher Biologisten ansieht, scheint es ein Risiko zu sein, als Frau kulturschaffend zu handeln. Risikoreich ist das deshalb, weil man sich der Gefahr aussetzt, seine Natur zu verlieren. Ebenso darf die Homosexualität sich nicht im Vergnügen gründen, sondern fußt auf einer natürlichen Streubreite unseres genetischen Materials, das den einen oder anderen Mann dann schicksalshaft trifft. Es soll ja Gene für das Tragen von Ledermonturen geben.

Eventuell: Macht als Liebe, Liebe als Macht

So können Macht und Gewalt nicht mehr als Handlungen gelesen werden, die mal vom Individuum als Individuum, mal vom Individuum in der Gemeinschaft ausgeübt werden, sondern selbst als Verteilungen von Zuweisungen, bei der ein Individuum mal ein ganzes Volk beinhaltet (die Bundeskanzlerin), mal ein Individuum nicht ganz bei sich ist und wenn, dann auf eine nicht natürliche Art und Weise (der Wiederholungstäter).
Schon in der intimen Gemeinschaft zweier Personen kann sich eine Macht im Sinne von Arendt nur dann entfalten, wenn man dem anderen eine unendliche Lesbarkeit zugesteht. Max Frisch schreibt (Romane, Erzählungen, Tagebücher, Frankfurt am Main 2008):
»Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. … Die Liebe befreit es [das Viele] aus jeglichem Bildnis.« (Seite 27)
Und es ist kein Liebender, der so etwas sagt: „Ich kenne dich besser, als du dich selbst!“ — So etwas kann nur ein Eifersüchtiger sagen; man höre das Mörderische, das in dieser Aussage enthalten ist. Vielleicht gibt es tatsächlich so etwas wie Macht, Macht, wie Arendt sie verstand, als gelegentliches Aufscheinen in Freundschaften und Liebesbeziehungen, in kleinen Gruppen, eventuell sogar in politischen Vereinigungen; zumeist aber wird eine solche Macht durch die objektive Aneignung eines politischen Subjektes korrumpiert.

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