Gelegentlich fehlen mir meine kurzen, übersichtlichen Artikel, die ich damals auf suite101 geschrieben habe. Die Plattform ist mittlerweile nicht nur geschlossen, sondern auch offline. Zeit, einige der wichtigeren jetzt, zehn Jahre später, noch einmal zu veröffentlichen.
Seit 50 Jahren stützen sich Pädagogen und Trainer auf den Unterschied zwischen den Gehirnhälften. Neurophysiologen sehen das kritisch.
"Denk doch mal mit deinem linken Gehirn!" - Diese Aufforderung musste ich mir, dreißig Jahre ist es her, einmal anhören. Nun mag der Leser versuchen, das in die Praxis umzusetzen. Es wird nicht gelingen.
Die beiden Hemisphären
Woher kommt dieser Hype für das linke und das rechte Gehirn? Eine der Quellen dürfte Gabriele Ricos Buch Garantiert schreiben lernen sein. Rico stützt sich in ihrem Konzept direkt auf diese so genannte hemisphärische Lateralität.
Dabei ist die eine Gehirnhälfte (von Rico als linke Hemisphäre bezeichnet) für die Verarbeitung von Einzelheiten, logischen Zusammenhänge oder zum Beispiel grammatische Regeln zuständig.
Die andere Gehirnhälfte (Rico: rechte Hemisphäre) sei dagegen bildlich, orientiere sich an Ganzheiten, sei synthetisch, und so fort.
Populäre Ideen
Der amerikanische Neurowissenschaftler John Bruer kommentiert die hemisphärische Lateralität und vor allem ihrer Anwendung in der Pädagogik folgendermaßen:
"Rechte Hirnhälfte - linke Hirnhälfte ist eine der populären Ideen, die nie aussterben werden. Spekulationen über die pädagogische Bedeutung der Hemisphärenspezialisierung kreisen seit 30 Jahren in der pädagogischen Literatur. Obwohl wiederholt von Psychologen und Neurowissenschaftlern kritisiert und verworfen, gehen die Spekulationen weiter."
Sehr beliebt ist die Idee, die rationale Hirnhälfte unterdrücke die emotionale. Und damit ist von unerwünschten Vorschlägen (siehe oben) bis zu teuren Seminaren alles drin. Unterdrückung ist verboten, vor allem bei Gehirnhälften.
Funktionelle Asymmetrie
Wegwischen darf man allerdings das grundlegende Prinzip der Lateralität nicht. Der eigentliche Gedanke, der dahinter steht, ist aber folgender: ein Teil im Gehirn kann etwas anderes als ein anderes Teil. Es gibt zwischen den zwei verschiedenen Gehirnteilen eine funktionelle Asymmetrie. Solche funktionellen Asymmetrien allerdings findet man massenweise in jedem Gehirn; sie besagen ja nichts anderes als eine "Arbeitsteilung".
Die Lateralität spielt als organisches Prinzip (zwei Gehirnhälften) eine wichtige Rolle. Aber sie bestimmt mehr als nur eine funktionale Asymmetrie.
Laterale Unterschiede
Der offensichtlichste Unterschied zwischen linker und rechter Gehirnhälfte ist die Bewegungssteuerung. Die rechte Hemisphäre trägt die Zentren für die Steuerung der linken Körperhälfte und umgekehrt die linke Hemisphäre für die rechte Körperhälfte.
Der rechte und linke Parietallappen (unter dem hinteren Scheitel) ist tatsächlich so ähnlich, wie Rico dies beschrieben hat, organisiert. Ähnlich heißt: nicht gleich. Im rechten Parietallappen dominiert die räumliche Lokalisation, die Konstruktion des Raumes und die Möglichkeit des Perspektivwechsels. Im linken dagegen werden vor allem symbolisch-analytische Informationen verarbeitet. Er ist für das Rechnen, die Sprache (und einiges anderes mehr) zuständig.
Im temporalen Assoziationscortex finden sich ähnliche laterale Phänomene. So sitzt meist in der linken Hemisphäre das Wernickesche Sprachzentrum, das für einfaches Sprachverständnis zuständig ist. In der rechten Hemisphäre finden sich im temporalen Assoziationscortex das Erkennen komplexer visueller Objekte und Situationen. Das ist ja allerdings sehr einfach gesagt. Eigentlich spielen diese Zentren nur eine wichtige Rolle bei diesen Vorgängen, arbeiten aber mit anderen Hirnzentren zusammen.
Entwicklung der Lateralität
Zudem scheint es deutlich alterstypische Unterschiede in der Lateralität zu geben. So bildete sich die Hemisphären-Asymmetrie mit zunehmendem Alter zurück, ohne ganz zu verschwinden.
Auch in der Kindheit gäbe es Unterschiede. Bei Mädchen würde sich die Lateralität mit sechs Jahren ausprägen, bei Jungen sogar erst mit zwölf Jahren.
Alle diese Thesen sind aber höchst umstritten, und gelten, wenn, dann nur für bestimmte hemisphärische Asymmetrien. Hier wurden einige genannt. Es gibt noch viele weitere.
Pädagogische Relevanz
Gibt es überhaupt wichtige Schlussfolgerungen aus der hemisphärischen Spezialisierung?
Angesichts der bei allen Fortschritten doch noch recht unsicheren neurowissenschaftlichen Forschung sollte man mit raschen Übergriffen in die Praxis und ad-hoc-Lösungen äußerst vorsichtig sein.
Viel wichtiger aber ist, dass man in der pädagogischen Arbeit, sei es mit Kleinstkinder, mit jungen Erwachsenen oder mit Managern, nicht Gehirne, sondern Verhalten beobachtet. Und auch wenn die Neurowissenschaften mittlerweile einige Rahmenbedingungen für das menschliche Verhalten angeben können, sollte man sich in der konkreten Situation an das Sinnliche und Greifbare halten.
Fazit
Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Hirnhälften. Da aber das Gehirn insgesamt auf Unterschieden beruht, und da man in der konkreten Situation trotzdem nicht nachprüfen kann, was im Gehirn passiert, sollte man auf weit reichende Schlussfolgerungen verzichten.
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