Ich schreibe seit einigen Tagen zur Didaktik der Textaufgaben (diese werden von meinen Schülern wenig geliebt). Gefunden habe ich dabei einige wenige Zitate und Anmerkungen aus einer Doktorarbeit zu diesem Thema, eines Buches, das ich mir vor Jahren aus einer Bibliothek geholt hatte. Das Buch werde ich mir noch einmal ausleihen müssen.
Parallel dazu beobachte ich weiterhin die faschistische Szene, insbesondere die "Protagonisten" der AfD. Aus Gründen, die mir noch recht schleierhaft sind, formiert sich der liberale Widerstand nur langsam. Aus der Kognitionspsychologie wird aber deutlich, dass klare Strukturen des Denkens aus der Begriffsarbeit entstehen.
Eine gute Begriffsarbeit ist zugleich, so werde ich hier auch polemisierend darstellen, politische Praxis. Der erste Teil ist der Geschichte und dann der Pädagogik gewidmet, der zweite Teil der Empfehlung eines historisch-kritischen Werks, das im Kern unpolitisch aber in seinen Folgen durchaus auch politisch sein dürfte (wenn man dies als Leser denn will).
(Begriffs-)Welt in Bewegung
Wenn man sich die öffentliche Wandlung der Begriffe in den letzten Jahren anschaut, so muss man sich an eine so alte wie moderne Kritik der Sprache erinnern, eine, die von Johann Heinrich Lambert im 18. Jahrhundert verfasst wurde. Die geistige Welt war damals in Bewegung, angeregt durch die vielfältigen Kräfte der europäischen Philosophie, insbesondere zunächst der französischen; aber auch die zahlreichen Fortschritte in der Naturwissenschaft und der dadurch ausgelöste ökonomische und kultureller Wandel wirkten so Krisen auslösend wie revolutionär in die Gesellschaft hinein.
Zunehmende Metaphorisierung
Lambert erläutert, dass Allgemeinbegriffe, die zuvor noch mit sinnlichen Inhalten ausgefüllt wurden, durch Metaphorisierung nach und nach zu Zeichen von Zeichen werden, also von Zeichen, bei denen zugleich die Bezeichnung und die Bedeutung strittig sind. (Dazu ist sehr lesenswert George Lakoff: Moral Politics. What Conservatives Know that Liberal Don't.)
Sprachwandel und Sprachzerfall
Sprachwandel ist nicht notwendig Sprachzerfall. Begriffe zerfallen; das war schon immer so. Mehr noch gilt dies für den Sprachwandel. Sprache verändert sich. Die deutsche Sprache hat mehrmals in großem Maße Begriffe importiert, so im 15. Jahrhundert italienische, um die sich ausweitende Geldwirtschaft bezeichenbar zu machen; im 18. Jahrhundert französische, weil eben die deutschen Wörter sich nicht hinreichend mit der Bedeutung der französischen Wörter der Philosophie deckte (die damals noch Psychologie, Soziologie und Politologie integrativ vereinte); und seit einigen Jahrzehnten erleben wir den Import und Eingemeindung zahlreicher Anglizismen. Neben der Globalisierung darf man dafür vor allem den technischen Wandel verantwortlich machen; beide gehen Hand in Hand. Die Deutschen haben es sogar geschafft, ein englisches Wort zu erfinden, das im englischsprachigen Raum gar nicht existiert, nämlich das Wort Handy.
Pädagogische Begriffe
Auch in der Pädagogik erlebt man solche Begriffsverschiebungen, die oft durch neue Forschungen notwendig wurden, bis hin zu den Momenten, in denen Kernbegriffe wie ›Integration‹ oder ›offener Unterricht‹ von politischen und ökonomischen Kalkülen ergriffen und wissenschaftlich ausgehöhlt wurden. In den letzten Jahren darf man dazu nehmen, dass die Ignoranz gegenüber wissenschaftlicher Forschung, wie sie zum Beispiel durch die AfD und noch rechtere Gruppierungen gepflegt wird, auch noch das Wenige an Strukturleistung schwindender traditioneller Begriffsbestände wegironisiert; man denke an Akif Pirinçci und seine Suaden aus Pejorativen und Neologismen: die keinen logischen Gehalt mehr vorweisen, sondern zum Einklang in eine paranoiden Stimmung aufrufen.
Begriffsklärung und Begriffspraxis
In der alltäglichen Praxis tut man gut daran, sich bestimmter Begriffe immer wieder zu versichern. Für (mich als) Lehrer sind dies insbesondere solche, mit denen man die Leistungen der Schüler diagnostiziert. Dass diese Versicherung eines methodischen Gerüsts bedarf, sollte klar sein. Es handelt sich nicht um ein Beobachten, sondern um ein systematisches Beobachten, ein Versprachlichen, Sammeln und Ordnen. Der Zusammenhang von Begriff und Alltag, und die Struktur der Begriffe untereinander, gehört mit zu den intellektuellen Leistungen des Lehrerberufs.
Begriff des Begriffs
Sie ist, wie man sich leicht denken kann, aber auch die intellektuelle Leistung der Bürgerinnen und Bürger. So sehr sich Begriffe zunächst "automatisch" bilden, so sehr ist die Arbeit mit ihnen eine erst mühselige, dann aber befriedigende Beschäftigung. Begriffsbildungen machen die Welt handhabbarer und reicher, die Gesellschaft verständlicher, die Angst harmloser und die Aggression konstruktiver.
Der Verlust politischer Begriffe ist durchaus das Kalkül des Rechtsintellektualismus; er ist die Plage und Todsünde, die solche Menschen wie Höcke, Trump oder Sieferle über die bürgerliche Gesellschaft bringen. Der Verwirrung, die ein Gauland innerhalb weniger Wochen durch widersprüchliche Aussagen und inhaltsleere Anfeindungen erzeugt, sollte der strengen Definition und scharfen Argumentation ein Fressen sein. Den Gauland zu "sezieren" und als "begrifflichen Müll" zu "entsorgen" (um sich mal seiner Ausdrucksweise zu bedienen) wäre weniger ein Problem, wenn der Begriff selbst als scharf und streng verstanden worden wäre.
Begriffsgeschichte und historische Semantik
Nicht nur bietet hier das im letzten Jahr erschienene Buch Begriffsgeschichte und historische Semantik von den Berlinern Ernst Müller und Falko Schmieder eine hervorragende Einführung, sondern gleich auch noch eine Vertiefung und Problematisierung. Dabei ist der ausgewertete Apparat imponierend.
Aufteilung des Buches
Die einzelnen Abschnitte behandeln die Philosophie, Geschichtswissenschaft und Politische Ideengeschichte, die Philologien, die Wissenschafts- und Wissensgeschichte, die Kulturwissenschaft und Cultural Studies, schließlich die Institutionen, Lexika und Zeitschriften.
Quellenmaterial
Vollständigkeit mag man dem Werk nun so oder so nicht unterstellen. Aber neben den großen Protagonisten, die auch heute noch einer "breiteren" Rezeption zur Verfügung stehen, werden auch historisch wichtige, heute eher vergessene Denker aufgearbeitet.
Von Kant bis Blumenberg, von Hegel über Marx bis Lakoff und Foucault: die Liste der großen Namen ist lang. Doch schon auf den ersten Seiten begegnet man auch einem Hamann oder Lambert, einem Schleiden und einem Virchow; Menschen, deren Schriften mehr und mehr in Vergessenheit geraten sind, deren Gehalt aber durchaus an moderne Problemstellungen anknüpfen kann, wie etwa Lamberts Neues Organon (1764), das enge Verknüpfungen zu den cultural studies bietet.
Lesbarkeit
Ist das Buch lesbar? Sehr; wobei dies mit der gewissen Vorsicht zu genießen ist, dass ich viele Autoren bereits kenne, einige sogar, wie Luhmann, Foucault, Benjamin, Nietzsche und Blumenberg, relativ genau. Die Sätze sind aber klar, die Argumentationen präzise und durchsichtig. Wer sich darauf einlassen kann, mit einigen Lücken und Unverständnissen aus der Lektüre zu gehen, wird daneben auch viele Klärungen und Einsichten erfahren. An einem Stück und ohne Wiederholungen lässt sich ein solches Werk und Arbeitsbuch sowieso nicht lesen.
Der nationalistischen Vernebelung widerstehen
Wünschenswert wäre also, wenn dieses kritische Kompendium, wie es im Untertitel heißt, viele Menschen erreichen und das Referenzwerk für all jene werden könnte, die sich allzu sicher oder allzu unsicher über Begriffe und Begriffsbedeutung sind.
Begriffsarbeit ist keine wissenschaftliche Spielerei und keine esoterische Praxis. Sie ist in Zeiten, in denen der Effekt des Affekts jede Tradition, jeden aufklärerischen Gewinn unterhöhlt und einstürzen macht, eine der wirksamsten Waffen gegen nationalistische Debilitäten und ökonomistischen Terror, gegen Verwolkung und Vernebelung und Verhagelung der intellektuellen Felder.
Kenne deine Werte
Abschließend sei das ebenfalls sehr nützliche Buch Don't Think of an Elephant: Know Your Values and Frame the Debate von Lakoff verwiesen. Lakoff ist vor allem durch Leben in Metaphern populär geworden. Dies ist aber nur eines von vielen wichtigen Büchern, die man immer wieder und immer noch empfehlen kann, und leider eines der wenigen, die ins Deutsche übersetzt worden sind. Zur Beruhigung darf man aber sagen, dass Lakoff durchaus sehr verständlich schreibt und keine tiefgehenden und umfassenden Englischkenntnisse notwendig sind, um die wesentlichen Aussagen zu verstehen.
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