Wohin man manchmal getrieben wird. Da haben mich meine Schüler bei den Sachaufgaben vor ein Rätsel gestellt. Diese wurden auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen gelöst, manche der Schüler wussten sofort, worum es ging, andere haben selbst bei genauem Nachfragen und Herausarbeiten nur mit Mühe ein Ergebnis erhalten.
Nun habe ich die letzten Tage an den entsprechenden Seiten Mathefreunde 2 und 3 (Cornelsen-Verlag) und deren Darstellung in den Handreichungen für den Unterricht (das sind Vorschläge für den Lehrer, wie er seinen Unterricht gestalten könnte) gearbeitet. Ich war unzufrieden. Aus irgendeinem Grund habe ich nicht genau genug oder nicht das richtige beobachtet. Und so bin ich auf die Idee gekommen, mich wieder einmal expliziter der Ethnomethodologie und der Ethnographie zu beschäftigen.
Kultur
Die Ethnomethodologie beschränkt sich aus bestimmten Gründen auf die Alltagswelt. In ihr handeln Menschen; die Handlungen sind die Phänomene, die die Alltagswelt ausmachen. Redet der Ethnomethodologe von Handlungen, redet er zugleich von der Alltagswelt. Die Alltagswelt allerdings umfasst mehr als nur die Handlungen selbst, sondern besteht auch darin, wie diese Handlungen sich in ihrer Situation sichtbar machen. Dadurch kommt die Materie, andere Menschen und die Zeit in den Alltag hinein. Jede Handlung nimmt Bezug auf Gegenstände, Veränderungen und andere Sichtweisen.
Unter diesen Voraussetzungen kann Kultur nur als ein offenes Ergebnis betrachtet werden. Sie setzt sich aus unzähligen Situationen zusammen. Da der Ethnomethodologe von der Situation ausgeht, kann er zwar die Kultur als ein begründetes Phänomen ansehen, aber nicht als begründendes Mittel seiner Forschungen verwenden.
Aus den theoretischen Vorannahmen heraus kann man hier von einer bottom up-Betrachtung der Kultur sprechen; lokale und klassifizierende Verweise wie „in Hamburg am Hauptbahnhof“ oder „Deutsch sprechend“ sind nur zum Teil Symptome. Versteht man nämlich Symptome als undeutliche Nachbarschaften, so lässt sich das Attribut „deutsch“ nur als möglicherweise relevant deuten. Die Frage ist zuallererst, was an Handlungen beobachtbar ist; und hier sind globale und klassifizierende Verweise zu abstrakt und ungenau, um bei der Beschreibung einer lokalen Kultur angewandt werden zu können. Deshalb sind die Kulturen, von denen der Ethnomethodologe spricht, immer lokale Kulturen, nie nationale.
Nationalisten dagegen neigen dazu, einen umgekehrten Weg zu gehen, nämlich von der Behauptung einer umfassenden Kultur zu ihrer normierten Existenz überzugehen. Man kann hier von einer top down-Betrachtung der Kultur sprechen. Das Problem einer solchen Betrachtungsweise wiederum besteht darin, dass die Normierung über das Empirische siegt und damit ideologischen Mechanismen wie der Extrapolation, der mythischen Zeit (als der Wiederkehr des Gleichen) oder der nationalen Involution gehorcht.
Zwei Arten von Gesetzen
Was die beiden Betrachtungen der Kultur so explizit schwierig macht, ist ihr gemeinsames Auftreten in der demokratischen Verfassung. Zwar beruft sich die demokratische Verfassung nur noch sehr allgemein auf eine Kultur und bestimmt diese auch nicht, aber in den Gesetzen ist zum Teil sehr eindeutig geregelt, was erlaubt, und was nicht mehr erlaubt ist. Das Mögliche wird eingeschränkt und damit eine normative Sicht auf die Kultur durchgesetzt. Auf der anderen Seite werden aber viele Freiheiten zugestanden, so dass sich hier mehr oder weniger lokale Kulturen herausbilden können.
Diagnose und Richtigkeit
Parallel dazu finde ich dieser Betrachtung ein Problem des Unterrichtens wieder. Wenn man zum Beispiel das Rechnen im Tausenderraum einübt, spielen die Fehler, die die Kinder machen, eine wichtige Rolle. Auf der anderen Seite will man solchen Fehlern nicht allzu viel Raum geben: die Zeit, die man als Lehrer hat, um bestimmte fachliche Inhalte zu vermitteln, ist begrenzt. Dann setzt man die richtige Art und Weise der Handlung durch Vormachen und Einüben, geht also normativ vor.
Bedenkt man, dass die Fehler über den Einzelfall hinaus auch eine Bedeutung für die Art und Weise besitzt, wie ein Kind sein Lernen organisiert, und dadurch den Pädagogen Hinweise auf weitere Förderung geben, ist ein normatives Vorgehen nicht angebracht. Man müsste, konsequenterweise, den Lernstoff sich entwickeln lassen. Auf der anderen Seite ist aber ein solches laissez faire nicht nur zeitraubend, sondern oft auch im Ergebnis unbefriedigend. Schließlich muss man auch zugestehen, dass der Lehrer selbst seine alltägliche Unterrichtspraxis nur dadurch sichtbar macht, wenn er sich in die Unterrichtssituation einbringt – zumindest kann man dies nicht nur nach dem Alltagsverständnis behaupten, sondern auch nach den Prämissen der Ethnomethodologie. Schließlich aber würden Fehler nicht als Fehler beobachtet werden können, wenn diese nicht an einer Richtigkeit gemessen worden wären. Die Richtigkeit einer Addition mag zwar auf den ersten Blick einen rein formellen Charakter besitzen. Im Zuge des Unterrichtens aber erhält sie einen gewissen moralischen Wert.
Gesellschaft und Interaktion
Alles, was in der Gesellschaft passiert, passiert als Interaktion. Gesellschaft bildet dabei den verborgenen Hintergrund, auf dem die Situationen als Phänomene erscheinen (so Zimmerman/Pollner 1976, S. 87). Deutlich schärfer formuliert Niklas Luhmann diese Differenz. Gegenüber der Metapher des Hintergrundes äußert er den Vorbehalt, dass sich die hohe Komplexität von Gesellschaft „weder auf Individuen noch auf deren Interaktionen zurückführen lassen“ (Luhmann 1986, S. 552). Dem Symbolischen Interaktionismus (und damit in gewisser Weise auch gegenüber den Vertretern der Ethnomethodologie) bescheinigt er eine eingeschränkte theoretische Reichweite:
Für Vertreter des Symbolischen Interaktionismus besteht die Gesellschaft, im Unterschied zur Interaktion, aus Individuen (oder: aus Individuen-in-Interaktion); aber die Individuen werden in der Interaktion erst konstituiert, sind also psychisch internalisierte soziale Artefakte. Damit wird das, was wir als unterschiedliche Konstitutionsformen sozialer Systeme behandeln werden, letztlich in psychische Systeme zurückverlagert, nämlich auf die Differenz von personaler und sozialer Identität zurückgeführt. Nur dadurch, dass Individuen diese Differenz zu handhaben wissen, entsteht über Interaktion hinaus Gesellschaft. (Luhmann 1996, S. 551)
Für Luhmann ist die Interaktion zwar ein konstitutiver Teil von Gesellschaft, doch ist diese darüber hinaus auch von anderen Faktoren bestimmt. Er bestimmt dann die Interaktion in einer Art und Weise, zu der man die Metapher des Hintergrunds in paradoxer Weise auslegen kann:
Interaktionen sind Episoden des Gesellschaftsvollzugs. Sie sind nur möglich aufgrund der Gewissheit, dass gesellschaftliche Kommunikation schon vor dem Beginn der Episode abgelaufen ist, so dass man Ablagerungen vorangegangener Kommunikation voraussetzen kann; und sie sind nur möglich, weil man weiß, dass gesellschaftliche Kommunikation auch nach Beendigung der Episode noch möglich sein wird. … Die Interaktion vollzieht somit Gesellschaft dadurch, dass sie von der Notwendigkeit, Gesellschaft zu sein, entlastet wird. (Luhmann 1986, S. 553)
Mit anderen Worten: die Interaktion nutzt die Gesellschaft als Hintergrund, aber die Gesellschaft ist nicht der Hintergrund der Interaktion.
Ich darf hier vielleicht hinzufügen, dass sich auch darin ein Grund finden lässt, warum eine rein normative Bestimmung von Kulturen nur in Interaktionen möglich ist und – folgt man Luhmann – keinen umfassenden Erklärungswert besitzt. Insofern sich der Nationalismus auf eine Gesellschaft durch Interaktion beschränkt, verfehlt er eine angemessene Beurteilung gesellschaftlicher Entwicklungen (und noch einmal zur Vorsicht gesagt: dies ist keine Aussage über irgendwelche Parteienmeinungen zur sogenannten „Flüchtlingskrise“ oder zur „schleichenden Islamisierung“; wie sich das eine zum anderen verhält, erforderte längere Argumentationsgänge, längere, als ich hier liefern kann, längere, als aus dem rechten Lager zu hören ist).
- Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt am Main 1986
- Zimmerman, Don H./Pollner, Melvin: Die Alltagswelt als Phänomen. in Weingarten, Elmar/Sack, Fritz/Schenkein, Jim: Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns. Frankfurt am Main 1976, S. 64-104
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