12.07.2021

Kippfiguren im Denken

Philosophische und mathematische Vernunftbegriffe

Kant teilt in seiner Logik die Vernunftbegriffe (unter anderem) in philosophische und mathematische auf (Logik A 22). Unterschieden werden diese dadurch, dass die philosophischen durch Intuition, die mathematischen durch Konstruktion erzeugt werden.
Diese Antwort kann aber kaum befriedigen; sie kann die moderne Leser*in nicht befriedigen, nicht nach einem Jahrhundert konstruktivistischer Theorien. Deleuze und Guattari formulieren in ihrem Buch Was ist Philosophie?: „Die Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen.“ (6). Und sie kann die Kant-Leser*in nicht befriedigen, denn der Begriff als solcher ist auch bei Kant auf einer zeitlichen Synthese beruhend. Diese müsste nun auch in der Intuition zu finden sein, die den philosophischen Begriff gibt.

Muster und Überautomatisierung

Tatsächlich hält die Kognitionspsychologie hier ein „Theoriestück“ bereit, jenes nämlich, welches behauptet, dass jedes wahrgenommene Muster durch hinreichende Übung zu einem wahrnehmenden Muster wird, soll heißen: ein Muster, welches wir intuitiv in die Umwelt hineinsehen. Dieser Prozess wird auf der Handlungsseite durch Übungen erreicht, auf der Seite des Denkens durch eine zunehmende Automatisierung, die dann in einer „Überautomatisierung“ gipfelt, also jenem Moment, in dem ich mir nicht mehr bewusst bin, dieses oder jenes Muster anzuwenden. – Beigefügt werden soll, dass sich Denken immer in Mustern vollzieht und der Mensch bei der Selbstreflexion gar nicht hinter seine Anfänge zurückkehren kann. Vermutlich sind die allerersten Denkmuster biologisch geprägt, und werden dann durch Umwelterfahrungen und Lernen zunehmend in Richtung kulturell angeeigneter Muster verschoben.

Dianoia

Dies führt uns zu einem wesentlich älteren Philosophen zurück, Platon, der in seinem Menon-Dialog ein schönes Beispiel davon liefert, was er als dianoia bezeichnet. In diesem betreffenden Abschnitt lässt Sokrates einen Sklavenjungen ein geometrisches Problem lösen. Was auch immer dieses geometrische Problem ist: Platon möchte hier zeigen, dass der Junge die Lösung weiß, somit also die Idee angeboren sei.
Dabei ist die dianoia ein Mittelglied:
„Die platonische dianoia als die für alle Wissenschaften konstitutive Verstandestätigkeit ist dann im platonischen System der Erkenntnisvermögen dadurch bestimmt, dass Anschauen und Denken eine spezifische Verbindung eingehen, insofern sinnlich wahrnehmbare Figuren und Zahlen als unsinnliche mathematische Objekte gelten und auf diese Weise auch eingesetzt werden.“
Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Berlin 2016, 155 f.)

Kippfigur und Evolution: von der Intuition zur Konstruktion

In diesem Sinne ist die dianoia eine Kippfigur im Denken: eine geometrische Konstruktion, eine mathematische Formel, ein informationstechnisches Diagramm (etwa die für die Software-Architektur so wichtigen Entwurfsmuster) bilden sowohl eine anschauliche Materie wie ein unsinnliches Denkmuster.
Warum aber ist genau dieser Zwischenbereich so interessant? Es geht nicht nur darum, die Trennlinie aufzulösen, die Kant zwischen den philosophischen und den mathematischen Begriffen, der Intuition und der Konstruktion zieht. Vielmehr richtet sich hier das Augenmerk auf die Lehre, durch die wir in der Lage sind, philosophisch und philosophisch neu zu denken. Dass dies eine Lehre ist, keineswegs aber eine interne Dialektik des Geistes, wie sie von Hegel postuliert wurde, verschiebt die ganze Dialektik aus einer Notwendigkeit der Entwicklung in eine gewisse systemabhängige Zufälligkeit, mithin in den Bereich der Evolution. Erinnern wir uns daran, dass die Evolution nicht einfach nur eine stabile Abfolge von Entwicklungsschritten ist; zunächst zeigt sie sich in einer Population und darin, wie diese Population Ereignisse verarbeiten kann: indem sie diese gewohnheitsmäßig aufnimmt (sie assimiliert), diese jenseits ihrer Verarbeitungsgrenzen durchlaufen lässt (sie ignoriert oder durch diese zerstört wird) oder indem sie sich diesen anpasst (sich akkomodiert).
Offensichtlich ist also die Lücke, die zwischen Intuition und Konstruktion klafft, keineswegs nur eine qualitative, sondern eine qualitativ-temporale; so dass etwa die mathematischen und die philosophischen Begriffe nicht zwei verschiedene Sphären bilden, sondern ineinander übergehen können. Folgt man dem Prinzip der Überautomatisierung, also dem Wechsel vom Interpretierten zum Interpretierenden, so gilt dies auch für andere Bereiche.

Freiwerden der Muster

Was die Muster angeht, so zeichnen sich diese, sobald man sie übt, durch eine zunehmende Freiheit aus. Sind sie zunächst ganz an den Fundort gekettet, an dem wir sie zum ersten Mal wahrgenommen haben, können diese nach und nach in andere Bereiche übertragen werden und heften sich irgendwann „wie von selbst“ an Erkenntnisobjekte. Diese Unfreiheit mögen die meisten schon so erfahren haben, dass sie eine Kolleg*in, der sie Tag für Tag auf der Arbeit begegnen, bei einer Begegnung in der Freizeit zuerst nicht erkannt haben. Und die zunehmende Freiheit wird jedem deutlich vor Augen stehen, den einmal ein Einfall getroffen hat, der zunächst mit der Situation nichts zu tun hatte, dann aber nach und nach seinen Grund preisgegeben hat, warum genau dieser Einfall in dieser Situation aufgetaucht ist.
Auch in der Pädagogik verfolgt man diesen Ansatz, wenngleich auch oft nicht mit dieser Begründung: hier wird mit lebensweltlichen und praxisorientierten Theorien argumentiert; so soll etwa die Geometrie anhand von „echten“ Aufgaben, der Konstruktion von Papierbrücken, der Berechnung einer Baumhöhe anhand von der Länge des Schattens und des Winkels, usw. eingeübt werden. Damit soll vor allem der pragmatische Nutzen verdeutlicht werden. Für die kreative Arbeit mit Mustern scheint das aber nicht zu reichen. Im Gegenteil wird oft sogar das Vorgefundene in den Mittelpunkt gestellt, nicht das konstruktive Experiment. So wird aus der Erfahrung der Lebenswelt häufig eine Einfriedung in der Lebenswelt. Den Aufgaben fehlt das Freiwerden der Muster.

Philosophieren lernen

Kant scheint dies gespürt zu haben. Zwar schreibt er, dass die Logik „eine Vernunftwissenschaft nicht der bloßen Materie, sondern der Form nach“ sei (A 9), aber er schreibt doch, dass auch die Logik selbst historisch erworben werden könne (A 21), womit er meint, dass ein Mensch diese erwerbe, also lerne:
„Es kann also objektiv etwas ein Vernunfterkenntnis sein, was subjektiv doch nur historisch ist.“ (A 21)
Ohne dies auf die Weise auszuführen, wie ich dies hier mit Hilfe der Kognitionspsychologie getan habe (also gerade nicht philosophisch!), kommt auch Kant zu einer Engführung der Begriffe der Übung und der Freiheit:
„Der philosophieren lernen will, darf dagegen alle Systeme der Philosophie nur als Geschichte des Gebrauchs der Vernunft ansehen und als Objekte der Übung seines philosophischen Talents.
Der wahre Philosoph muss also als Selbstdenker einen freien und selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft machen. Aber auch keinen dialektischen, d. i. keinen solchen Gebrauch, der nur darauf abzweckt, den Erkenntnissen einen Schein von Wahrheit und Weisheit zu geben. Dieses ist das Geschäft der bloßen Sophisten; aber mit der Würde des Philosophen, als eines Kenners und Lehrers der Weisheit, durchaus unverträglich.“ (A 27)

Freies Denken als Kippfigur

So mag es sein, dass die Evolution, sofern sie biologisch ist, uns an die Scholle bindet, während die Evolution, sofern sie kognitiv ist und uns Menschen als Kulturwesen betrifft, uns von dieser löst. Dass dies aber nicht ganz so einfach zu verwirklichen ist, darauf weist die platonische dianoia: auch in ihrem ersten und weitergehenden Wirken bleibt das freie Denken auf diese Kippfigur, bleiben das Interpretierte und das Interpretierende aufeinander angewiesen.
  • Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie? Frankfurt am Main 2000
  • Kant, Immanuel: Logik. in ders.: GW Band VI, 415-582
  • Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Berlin 2016

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